Vom Fußball und den Frauen und gleich dem ganzen Dasein Mensch
Das Symbol
Das Leben ist nicht mehr als eine Collage von Symbolen. Ein Strauß Blumen, ein Mixtape, ein Ring: Zuneigungsbekundungen. Zuneigung selbst gibt es eigentlich gar nicht. Es gibt nur einen Code für diese Empfindung. Ein Bündel Handlungen, die für etwas stehen, dass man allgemeinhin als 'Zuneigung' bezeichnet. Das Symbol tritt an die Stelle dessen, was es ausdrückt. In jedem Lebensbereich gibt es diese Codes. Und wenn man meint, sich irgendwo auszukennen, nennt man sich nicht selten „erfahren“. Oder umgekehrt: Erfahrungen machen, ist nichts anderes, als sich Codes eines bestimmten Bereichs anzueignen, sie für sich zu nutzen, sie anzuwenden, zu variieren. Es gibt Bereiche, da fällt dieser Prozess schwerer und demnach dauert er länger, wie zum Beispiel im Paarungsverhalten. Man könnte auch das gesamte Leben als ewigen Aneignungsprozess von Codes und Verhaltensnormen begreifen. Menschen am Ende ihres Schaffens nennt man auch nicht selten "lebenserfahren". Doch manche Bereiche bestechen durch ihre Einfachheit. Es gibt einen Ort, wo man keine Vorkenntnisse braucht.
Der Fußball hat den Vorteil, dass er nie etwas anderes sein wollte als ein Symbol. Fußball ist konzentriertes Symbol, also konzentriertes Leben. Er erzählt von den Dingen, die wir Sieg und Niederlage nennen, gut und schlecht. Das tut das Paarungsverhalten auch, nur distanzierter. Eine 0:5 Heimpleite nennt sich bereits so, während sie oder er einfach nicht zurückruft. Aber warum nur? Wohl nur der Handykosten wegen.
Fußball ist deutlich. Mit dem Abpfiff sind die Dinge klar. Ein Tor ist ein Tor ist ein Tor ist ein Tor ist ein Tor. Häufig geht es im Leben darum, zu erkennen, was richtig und was falsch ist. Im Fußball nicht.
Die Fantasie
Zu behaupten, der Mensch lebe in der Realität, in der es solche Kategorien wie richtig und falsch gibt, greift zu kurz. Der Mensch versteht sich in Rollen, funktioniert in der Fantasie, lebt im Vorstellungen und Befürchtungen. Das ist wie Sex. Ein Zustand der völligen Abkopplung eines als Realität empfundenen Zustands. Sex funktioniert ja immer nur dann nicht, wenn er in die Realität zurückkehrt. Wenn irgendwas nicht stimmt, man sich schlagartig daran erinnert, was man hier tut, wenn man sich plötzlich wieder selbst beobachtet, sich selbst bewertet. Wenn man bemerkt, dass man gerade Sex hat, fällt er in sich zusammen. Männliches Versagen wird medial meist mit Stress, also übermäßiger Ablenkung verbunden. Der Mann wird also von der Realität, von den Dingen seines Lebens, immer wieder in dieses zurückgezogen. Er kann der Realität im Sex nicht entfliehen und kann ihn deswegen nicht praktizieren. Eine – sicherlich unterbewusste – Wahl hat der Mensch überall in seinem Leben. Sogar im Sex. Will ich die Dinge glauben, will ich mich in diesem Zustand verlieren. Man hat eine Wahl zu treffen, überall. Im Bett, aber zb. auch im Theater, in der Kunst, im Suff, unter Freuden.
Eine solche Wahl bietet der Fußball nicht. Seine große Stärke! Der Fußball hat keinen höheren Zweck als das eigene Bestehen. In einem Fußballstadion gibt es bestimmte Fragen nicht. Es gibt Tatsachen. Sieg, Unentschieden, Niederlage. Tor, kein Tor. Und deswegen funktioniert dieser Sport so gut. Weil man sich über das Erlebte nicht verständigen muss, kann im Fußball Gemeinschaft entstehen. Die Frage „Wie fandest du es?“, wie wir sie nach dem Theater stellen (manchmal wird diese Frage im Theater auch gerne nach dem Sex gestellt). Die Frage „Wie geht’s dir damit?“, wie wir sie nach zwischenmenschlichen Verwirrspielen stellen. All diese Dinge gibt es im und nach dem Stadion nicht. Die Vorstellung bei der Heimkehr von einem Auswärtssieg gefragt zu werden, wie es war, mutet seltsam bis unglaublich an. Es gibt nur eine zu klärende Info: Wie haben sie gespielt?
Der Rausch
Diese Eindeutigkeit, die Gewissheit, dass es dabei keine zwei Meinung gibt, also die Möglichkeit der Subjektivität des Nebenmanns, ermöglicht eine andere, wunderbare Sache: den Rausch!
In Little Miss Sunshine heißt es: „Happyness only real when shared“. In Up In The Air heißt es: “Remember the best moment of your life. Were you alone?” Der Mensch ist ein Herdentier. Er strebt nach Verbundenheit. Das Gleiche fühlen wie der Andere, im gleichen Moment. Rausch ist Verbundenheit. Zugespitzt: Rausch ist der Gipfel menschlichen Daseins! Und das 1:0 in der 91. Minute ist purer Rausch. Es ist zum Einen ein klares Ja, ein gehobener Daumen, ein erfolgreiches Bewerbungsgespräch, ein Sie-liebt-mich-auch! Ausrufezeichen! Und kein „Wir sehen uns“, bei dem man nicht weiß, ob die hübsche Dame mit Ausschnitt, dass jetzt sagt oder meint.
Zusätzlich erlebt man solche Momente nie allein. Im Stadion liegt das in der Natur der Sache. Aber auch am heimischen Radio hat man Leute um sich. Den Moderator, den Vater, der anderorts ebenfalls mithört oder man über den Zwischenstand SMS-technisch in Kenntnis setzt. Die Menschen, die man im Stadion jubeln hört, die Spieler selbst oder auch nur die fiktionale Masse an Gleichgesinnten. Die sind nämlich alles andere als abstrakt, sie sind eine Erfahrung. Somit ermöglicht der Fußball eine Fülle an elementaren, ungebrochenen, kollektiven Erfahrungen. Mit dem Vorteil, dass man sie zwar ungebrochen erleben kann, sie sich aber nicht aneignen muss. Um die Schönheit eines, sagen wir, Theaterstücks zu erkennen, muss man hingegen schon eine Menge solcher gesehen haben. Zumindest macht es die Sache meist leicher.
Fußball macht dich glücklich, er macht dich traurig. Er ist schön, er ist häßlich. Er gibt Hoffnung, er gibt Missmut. Aber vor allem Hoffnung. Das ist wie mit den Frauen. Wie heißt es in Nick Hornbys Fußball-Bibel Fever Pitch: "Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden“.
Die Angst
Der Fußball inspiriert zum Weitermachen. Das spirituelle dieses Sports liegt in der Tatsache, dass er kein Ende kennt. Es wird im Fußball nicht mitgedacht. Das nächste Spiel kommt immer. Es wird vielleicht kein gutes sein, aber es wird da sein. Wie ein Gottesdienst, ein Gefühl oder ein Atemzug. Man muss bei diesem Sport – um in der auch von mir schon ziemlich abgenutzten Analogie zu den Frauen zu bleiben – nie Kraft darauf verwenden, sich davon zu überzeugen, dass da doch mal jemand kommen wird, der sich für deine armseelige Blenderhaftigkeit interessiert. Unsicherheiten, ob er oder sie die richtige ist oder ob er oder sie das auch so empfindet, hat der Fußball nicht. Nochmal Hornby: „Du suchst dir deinen Verein nicht aus. Er sucht sich dich aus“. Nein, der Fußball ist die ultimative Geliebte. Er lässt dich in Ruhe, wann immer du möchtest und ist immer da, wann immer du Zeit und Verwendung für ihn hast.
Er lehrt dich den souveränen Umgang mit der Niederlage und das ehrenhafte Verhalten im Sieg. Er lehrt dich, dass du damit nie allein bist. Die größte und weltweit einzig erstzunehmende Fußballhymne trägt den Namen „You’ll never walk alone“. Und wenn man, so wie ich, die Einsamkeit als die größte menschliche Angst begreift, ist dies ein wirklich schöner Gedanke. Da kommt man nach Hause und es wartet jemand auf einen. Da geht man aus dem Haus und er ist schon da – und man wird ihn nie leid. Das ist Fußball.
Die Hoffnung
In A Single Man heißt es: „Es gab in meinem Leben wenige Momente eindeutiger Klarheit. In denen man nicht dachte, in denen man gar nicht merkte, dass man fühlte. Von diesen Momenten habe ich gelebt und gezehrt.“ Der Fußball stellt diese Momente bereit. Momente völliger Klarheit, in denen einem wildfremden Menschen um den Hals fallen. Oder Momente, in denen einem der Himmel auf den Kopf fällt und du dich fragst, wie beim schlechten Sex, was man hier eigentlich gerade macht. Wenn es nach 30 Minuten schon wieder 0:3 steht. Dann sagt man sich „da geh ich nie wieder hin!“, schläft eine Nacht drüber und ertappt sich selbst bei der nächsten Gelegenheit wieder in der Hoffnung. So wie man nach einer schlechten Liebe irgendwann doch wieder in der Disko steht und in den Augen der hübschen Dame an der Garderobe seine Zukunft sieht. Es ist die Hoffnung auf den nächsten Rausch, die uns zu Menschen macht. Mit der nächsten Frau wird alles super. Mit dem nächsten Stück kommt die Erleuchtung. Mit dem nächsten Spiel kommt der Auswärtssieg, die Meisterschaft. Immer wieder.