Dienstag, 21. August 2012

Momente ohne Meta

Vom großartigsten Monat aller Zeiten.

Ein Anfang.
„Am Ende hat man nur drei wirkliche Freunde im Leben!“ Der Typ von Frittenbude ist stämmiger als erwartet. Er trägt Camouflage und wirft immer wieder solch melancholische Sentenzen in die Menge. Kein Hänfling mit Notizbuch, kein Tocotronic mit Mac unter den dünnen Ärmchen. Gut so.
Nach dem ekstatischen Abschluss „Das ist Kunst“ steht der Staub über der Blue-Stage, wie eine nächtliche Korona der Seligkeit, von den Neonstrahlern der Masse um die sandigen Frisuren gelegt. „Ein gutes Leben noch“, ruft es abschließend von der Bühne. Wiebke freut sich darüber, mit gespitzten Lippen, wie sie es häufig tut. Kathleen lächelt mit wachen Augen. Stefan nickt ostwestfälisch. So geht es zur Nachbarbühne, die Beatsteaks haben dort bereits mit ihrer Ausrast-Routine begonnen. Den Endorphinen, den Stimmbändern, dem Schweiß ist derlei Wiederholung routiniert egal.

Also, warum dieser Anfang? Warum nicht London, Hockeyfinale, Olympia-Atmosphäre oder die Beachvolleyball-Regenschlacht? Zwischen Köln, London, Köln, Bielefeld, Leipzig, Highfield und Leipzig gab es viel, die letzten Wochen. Warum nicht der Inder, der mich für einen Italiener hielt; der Engländer, mit dem ich mich beim Volleyball über die Hässlichkeit von Duisburg und die Schmerzlichkeit eines mit Vollspeed geschlagenen Hockeyballs unterhielt; oder nicht der walisische Volunteer, der mich mit glühendem Interesse nach der Eröffnungsfeier fragte und dessen Nationalismus, wie bei vielen seiner Landsleute, ganz knapp davor war, unsympathisch zu werden? Warum nicht?
Die Antwort liegt in dem Allgemeinplätzchen, dass Schreiben nichts anderes als Selektion und gesetzter Präferenzen ist und meiner konkreten Anwendung dieser Annahme.
Warum dieser Anfang? Weil er der gefühlte Kern ist. Das Wesen, das Wesen der letzten Wochen, das alle losen Enden dieses Augusts zusammenhält und -fügt. Dieses Ding, das man manchmal glaubt in den Händen zu halten. Bis es einem in Gedanken an den dazugehörigen Facebook-Post oder in der Vorformulierung dieses Blogeintrag wieder durch die Hände rinnt. In einem sanften, friedlichen Rieseln, wenn die Suche nach Reinheit neustartet. Ja, es sind die kurzen Momente, die das Leben ausmachen. Lachen, Sex, Livemusik. Olympiasiege, Auswärtssiege, Derbysiege. Man bestreitet das Leben rückwärts, den Blick immer dem Gewesenen zugewandt. Nur manchmal, schaut man sich selbst über die Schulter und sieht, was ist. Während ein Blogeintrag nichts anderes ist, als der Versuch, diesen kurzen Blick festzuhalten, ihn ein Wenig in die Länge zu ziehen. Auch jetzt, beim Lesen und Schreiben, nochmal da zu sein. Bei dem 2:1 fünf Minuten vor Schluss gegen Holland, der anschließenden Siegerehrung und ihrer leisen, stolzen Nationalhymne und wie Anna vergnügt und belustigt bemerkte, wie sie nach dem Ausklingen auf der Anzeigetafel immer noch um „Applaus“ bitten. Als ob dies nötig wäre; oder beim 2. Zehnkampftag, als es der Deutsche irgendwie schaffte, seine persönliche Stabhochsprung-Bestmarke mit dem Rücken zur Latte zu verbessern; oder später – die Session war da schon über sieben Stunden alt – ein Chilene und ein Japaner ihm diese Leistung gleichtaten. Gleichzeitig, auf den beiden nebeneinander liegenden Sprunganlagen, innerhalb von zwei Sekunden. Die Journalisten waren da schon längst beim Mittag; oder als mich die hübsche, bisher zurückhaltende Engländerin nach einen grandiosen Volleyball-Ballwechsel abklatschte. Oder auf dem Weg zum Highfield, als Hanna und ich das Abteil unterhielten, in dem wir auf dem Ipod des anderen, die jeweils größte Jugendsünde suchten (und fanden!); oder als wir mit Philip müde im Gras lagen, abseits der Massen, die Augen geschlossen, das dumpfe Geschrammel von Placebo über unseren Köpfen; oder als wir wenige Stunden später wieder bei Kräften waren und Philip im Shuttlebus nach Leipzig die (weiße!) Gitarre raus holte und der ganze Bus sich heiser durch die Hits schmiss, von „Lemon Tree“ bis „Wonderwall“; oder die Wasserschlachten, Buddy Ogün, stundenlang Simpsons-Zitate oder oder oder. 

Es ist einfach zu viel passiert, in diesem Monat, um den Glauben aufrecht zu erhalten, man werde dieser Reizüberflutung in einem Text Herr werden. Also, ein Überthema. Drei Freunde, behaupten Frittenbude. Mehr nicht. Zuvor spielten auf derselben Bühne die Wohlstandsopfer von Kettcar. Ich sehe sie zum vierten Mal, zum ersten Mal gut gelaunt. Nach ihrem „Danke der Academy“ läuft wieder diese Tonspur aus Fight Club. Von den portionierten Freunden, die man in Flugzeugen oder an Hotelbars trifft, ist in dem Film die Rede. So wie stolze Volunteers beim Beachvolleyball und gutgelaunte Bikini-Mädchen am Eingang zum Badesee des Highfields. Es ist die Sichtweise auf diesen Zustand, der entscheidet. Und die Umstände. Denn, um mal in dem Rollfeld-Bild von Fight-Club zu bleiben, portionierte Freunde sind bereichernd, solange da noch jemand hinter der Gepäckausgabe auf einen wartet, der es wert ist. One-Night-Stands sind super, solange sie nicht für Nähe gehalten werden. Spaß mit vorbei gelaufenen Animateuren ist großartig, solange man es nicht als Betrug erlebt, wie die Launemacher, die gleichen Gags im Rucksack, zum nächsten Zelt aufbrechen. Olympia, London, Festivals sind besonders, Außnahmen. Aber wirkliche Größe erhält die Besonderheit doch immer erst im Trott, in der Gewissheit, dass man sie teilt, teilen kann. Oder schlicht in dem Bewusstesein ihrer Seltenheit. 
Natürlich ist der Facebook-Post nicht das Glück und es besteht auch eine Gefahr, ihn dafür zu halten. Aber erst im Ausdruck von Glück kommt man ihm näher. Olympia ist nur alle vier Jahre. Und es wird auch wieder Monate geben, in denen es in den falschen Momenten regnet, eine Bewerbung nicht erfolgreich ist oder Arminia mal wieder ein Spiel verliert (unvorstellbar, ich weiß...), aber dann ist es gut, dass da Leute sind, mit denen ich diesen August 2012 oder sonst etwas zurückholen kann. Indem man sich von diesen Momenten erzählt, in denen man an nichts dachte, nicht mal kurz, nicht mal an die Möglichkeit, anderen von diesem Moment zu erzählen.
Letzte Woche schrieb mir Marko, er habe nun Prometheus gesehen. Er machte einen feinen Insider darüber und lud zum Gedankenaustausch. Auf Zwischenstation in Köln schob ich den Film noch schnell dazwischen, nachmittags, vor einem Feierabendbier mit Michaela. Die Aussicht auf eine baldige Diskussion als Antrieb. Am selben Tage rief mich Mittags Patrick an und fragte, ob ich mit auf eine WG-Party wolle. Man denkt aneinander. 

Jetzt sitze ich im ICE nach München und freue mich auf mein eigens Bett und einen Briefkasten voller Orga-Scheiß. Und eben auf das nächste Bier im GAP. Arminia spielt bald in Unterhaching. Ende des selben Monats trifft sich die Gang aus Geburtstagsgründen wiedermal in Bielefeld. Und im November in Leipzig. Immer auf der Suche nach der gesunden Mischung aus ungebrochenen Momenten der Euphorie und dem freudigen, naiven Versuch, ihrem Naturgesetz der Vergänglichkeit seine Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit entgegen zuwerfen.             



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