Samstag, 6. September 2008

Der Zukunft zugewandt

Basketball, Viertelfinale, Herren. Ab dem zweiten Spiel, im Ersten hat die USA Australien mit 35 Punkten demontiert, sitzen neben uns Luming und Shuang, zwei Studenten aus Peking, die eben ihre Voluteersschicht beendet haben und nun die leeren Plätze nutzen dürfen. Sie wirken gebildet, höflich und sprechen Englisch auf unserem Niveau - wenn nicht sogar besser, was für chinesische Verhältnisse sehr elitär ist. „Endlich“, denke ich: „endlich eine Möglichkeit mit Chinesen zu kommunizieren.“ Und wie!
Über den Sport und unsere Eindrücke von China, die ich ehrlich aber auch diplomatisch äußere, gelangen wir zu den spannenden Themen. Durch die harmlos anmutende Hintertür, der Eröffnungsfeier frage ich sachlich nach den letzten 100 Jahren, die in der dortigen Zeremonie fehlten. Warum Mao und das entstehen der KP nicht Teil der chinesischen Geschichte seien, jedenfalls nicht in den dargestellten 5000 Jahren chinesischer Geschichte ihren Platz hatten? „Weil das unsere Vergangenheit ist“, erklärt Shuang: „das ist nicht Teil der Weltgeschichte. Wir wollten zeigen was China der Welt gegeben hat, was wir in die Welt getragen haben, nicht was nur uns betrifft. Wir tragen Mao und unseren Schmerz in unseren Herzen.“ Das deckt sich mit unseren Beobachtungen der letzten Tage. Wenn es im öffentlichen Leben der Chinesen etwas nicht gibt, sind das Schmerzen. Kinder weinen nicht, als ob sie gelehrt hätten, dass es nichts bringt und alte Menschen sind in den Straßen gar nicht erst zu sehen. Aussortiert von fehlendem Platz und nicht vorhandenen Fahrstühlen in der Metro. Und wenn ein Sportler für das Vaterland den von ihm erwarteten Sieg erringt, wirken seine Jubelszenen weniger wie ausgelassene Freude, als mehr wie ein erlöster Mensch, dem eine zentner schwere Last abgefallen ist. Nur im großen Misserfolg lassen sich die Emotionen nicht mehr zurückhalten und es bricht heraus. Wie bei der Sportreporterin, die vor laufender Kamera in Tränen ausbrach. Tief erschüttert über das Aus ihres Hürdenläufers und einzige Hoffnung auf eine Goldmedaille in der Leichtathletik. "Deiche brechen Richtig - oder eben nicht", hat Kettcar wie immer Recht.
Als nach weiteren Themen Luming merkt, dass das Gespräch an der Stelle der Minderheiten kritischer wird, ergreift er die Initiative. Er tauscht sogar mit Shuang den Platz, rückt also näher und erzählt, dass China das Land mit den zahlenmäßig meisten Minderheiten sei und diese geachtet und integriert seien. Meinen Einwand, dass dies nur absolut und nicht relativ zur Einwohnerzahl sei, lasse ich lächelt versanden. Anschließend wird der angehende Richter oder Polizeikommissar, was in China der selbe Studiengang ist, allgemeiner. Er redet von der Größe und dem kulturellen Reichtum Chinas, dem angestrebten Weltfrieden und davon, wie sehr er hofft, dass China sich weiter so schnell entwickelt. Seine Worte klingen auswendig gelehrt, wie vieles was die Chinesen äußern und doch glänzen Lumings Augen. Er glaubt seine Vokabeln. Er ist Patriot, keine Frage. Aber ob er sein Land überhaupt kennt, weiß ich nicht. Auf ein Fußballspiel von China gegen Japan im letzten Jahr angesprochen, wo es heftige Schlägereien zwischen den Fangruppen gab, wissen beide nichts. Sie wissen beide nichts von den Ausschreitungen. Woher her auch? Die Zeitungen hier bestehen nur aus Sätzen wie „Es ist eine Ehre für China zu spielen“ und schlecht gefälschten Leserbriefen pseudo-ausländischer Gäste. Diese sind dann mit so typisch deutschen Namen wie „Hr. Bonn“ oder „Hr. Frankman“ unterschrieben. Im Fernsehen bestehen die Talkshows aus einer alten, bärtigen Person, die Texte abliest und das Motto der Spiele ist nicht minder politisch „One World – One Dream“. Mehr als nur der eine Traum, die eine Idee wäre destruktiv im Reich der Mitte.
Stattdessen fragt Luming naiv nach dem Ergebnis des Spiels und betont präventiv auswendig gelehrt, dass sich das Verhältnis die Japan stetig bessert. „Wir sind alle Opfer und Produkt unserer Bildung“, denke ich nur. Die beiden Studenten haben gelehrnt was in bestimmten Situationen zu sagen ist. Welche kleinen, blumigen Monologe die sie perfekt beherrschten über den Frieden und die Ziele, die man sich setzt, besonders gut ankommen. Und doch sind beide, besonders die etwas zurückhaltendere Shuang offen und interessiert. Sie wissen sehr viel über Deutschland. Zwar glauben sie, dass Gerhard Schröder in Warschau gekniet hätte, aber als wir sie verbessern, sagt auch Willy Brandt ihnen etwas. Unzählige Philosophen können sie aufzählen. Schopenhauer, Hegler und natürlich Marx und Engels. Aus einem beliebigen Land, dass 11 Flugstunden weit weg ist. Ich kenne kaum chinesische Philosophen, schon gar nicht was sie so gesagt haben. Ich weiß nicht mal, wie der aktuelle KP-Chef heißt, oder gar ein ehemaliger. Einer von euch?
Überhaupt, die beiden saugen alles auf was wir sagen. Sie sind neugierig und freuen sich über unsere Erzählungen und verdeutlichen dies durch eine warmherzige und zugeneigte Art, die mir bis dahin fremd war in dieser Stadt. Die beiden, besonders die Mathematikstudentin Shuang, wollen andere Dinge sehen, wollen andere Menschen treffen. Nicht mehr abhängig von nur einem Bildungsapparat seinen, was sie meines Erachtens zweifelsohne sind.
Nach dem Spiel, welches wir nicht mitbekommen, verlassen wir vier als allerletzes die Halle. Wir tauschen Mail- und Heimadressen aus und auf dem Weg zur Metro ich erzähle von der Schwierigkeit in China eine Postkarte zu schreiben. Postkarten schreiben die Chinesen nicht. Dann umarmen wir uns und bleiben in der losen Hoffnung zurück, dass dies nicht der letzte Kontakt war. In der sonst sehr stillen Metro tanzen und singen die in der letzten Sekunde siegreichen Argentiniern mit den Chinesen lautstark. Das chinesische Team war morgens chancenlos ausgeschieden.
Die letzten Tage ziehen etwas weniger befremdlich ins Land und man bekommt besonders im Vogelnest das Gefühl, dass sich die Last der Chinesen sich der Welt gut zu präsentieren etwas löst und die Anspannung der ersten Tage zum Ende der Spiele aufbricht. Sieger werden gefeiert und nicht mehr höflich beklatscht und auch die Welle macht erstnmalig ihre Runde im 91-tausend-Mann großen National Stadium. Eine westliche Ausgelassenheit erreicht dies freilich nie und die Zeit stellt auch korrekt fest, dass Chinesen alles könnten außer cool sein. Aber 'Fortschritt' ist ja das Wort, mit dem sich China selbst beschreibt.
Im Flieger zurück lese ich in einem bemerkenswert gutem FAZ-Interview mit Michael Groß den Satz: „Das chinesische Volk hat diese Spiele verdient – das chinesische Regime nicht.“
Eine Woche nach der Rückkehr liegt eine Postkarte im Briefkasten. Shuang, mit dieser Kommunikationsform nicht vertraut, weiß nicht weiß nicht was sie schreiben soll: „Lieber Wilhelmi“, beginnt sie im Denken, dass wäre mein Vorname: „Ich hoffe euch haben die Olympischen Spiele gefallen. Wir bleiben in Verbindung. Liebe Grüße, Li Schuang.“. Darunter hier Name in chinesischer Schrift. Er bedeutet: „der Zukunft zugewandt“.
Es lebe die deutsche Medienlandschaft.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen