Leipzig 2013:
Die Frage nach Bedeutsamkeit ist immer schon vom Absender beantwortet, sobald er sie stellt.
Kyle
ist auf den Kopf gefallen. Weil aber seine Eltern einen Atlantik weit
weg sind, sitze ich mit ihm in der Notaufname. Die Nacht-Schwester
ist mit der Versicherungssituation überfordert und lässt es an uns
aus. Weil Kyle aber aus gutem Hause kommt – und wohl immer
noch etwas benebelt ist – und ich finde, dass man manche Menschen
mit Freundlichkeit strafen muss, nicken wir nur und
ich deute gewissenhaft und wiederholt auf die Rechnungsadresse auf
dem Wisch zwischen uns. Dann geht die Frau in weiß und wir
verschränken die Arme und lehnen unsere Hinterköpfe an die Wand.
Die Ruhe des Linoleum-besetzen Flurs kriecht in unsere Stimmlagen.
Kyle
ist begeistert von deutschen Krankenhäusern, fast so sehr wie von
der hiesigen Mülltrennung, den Shuttlebussen am Flughafen, dem
Fehlen dicker Menschen und, ja, auch deutscher Musik. Ich verziehe
das Gesicht: „Rammstein?“ „Nein, die Atzen... Discopogo“. Ich
lache verlegen, weil mir das ganze genauso peinlich ist wie ich diese
Antwort mag. Nachhaltiges Abspacken – eine schöne Kombination, ein
schönes Deutschlandbild. Mehr aus einem Reflex heraus, empfehle ich
Deichkind und Spider Murphy Gang und frage Kyle nach seiner
heimischen Musik. Er erzählt von Country und dessen Huldigung des
Nichtstuns und daran anschließend berichtet er von seinem Sommerjob
auf der Farm seines Onkels in Virginia. Irgendwann kommt die
Schwester zurück, nimmt ihn und seinen Verdacht auf eine Gehirnerschütterung
mit und ich fahre zurück in die Sportschule.
Klischees
sind kein realer Zustand, sie sind allenfalls eine Wertung. In dem
Moment, wo aus der Wertung ein Zustand werden könnte, implodiert
dieser und hinterlässt nichts als Erleichterung. Weswegen man selbst ja auch nie Stereotyp sondern immer die Ausnahme ist.
Ein
Deutscher und ein Amerikaner sitzen also nachts um 1 Uhr auf
Plastikschalen, reden über Mülltrennung, Musik und ihre
Sportvereine. Das ist kein Klischee. Wenn, dann ist das romantisch
und schön, fein und übergroß, Smalltalk und doch Verständigung. Die alte Geschichte von den Tönen und der Musik, die sie machen. Welcome to Goethe – where the global village is just around the
corner!
Es
braucht etwas Verklärung und Naivität – auch ein paar
Alt-68er-Eltern zu haben, schadet sicher nicht, um dem Ganzen in
edler Geste seine Medaille der Bedeutsamkeit um den Hals zu legen. Dann erhebt
sich Erlebnis, wo eigentlich auch nur Fakten stehen könnten: 52
Teenager mit reichen Eltern aus 20+ Ländern, für drei Wochen in
Deutschland um, offiziell, deutsch zu lernen und, inoffiziell, sich
heimlich mit der Sommerliebe eine Flasche Barcadi Breezer zu teilen
und/oder auf dem Fußballplatz heimatliche Beleidigungen und
anschließend Mailadressen auszutauschen. In einem Wort: Urlaub. Ich
selbst, dazwischen, eine Hybridfigur aus Animateur,
Möchtegern-Autorität und Beobachter. Letzte Rolle ist mein
Privatvergnügen. Und was ich sehe, es sind Klischees.
Die
Spanier bekommen alle erst um 23 Uhr Hunger, die Griechen sind
gemütlich, die Amerikaner offenbaren wenig Selbstzweifel, die Briten
haben Etikette (und können keine Elfmeter schießen), die Russen brauchen die erste
Woche, um ihr Lächeln zu finden und der Italiener kann sie, irgendwie, alle haben. Wenn Edouard (von allen nur „la
parisienne“ gerufen) ausrutscht oder vor eine Tür rennt, ruft er
„Vive La France!“ und stolziert weiter. Otto Sakaguchi füllt
seinen Namen mit noch mehr Originalität, indem er anfangs im
Deutschland-Trikot über die Flure rennt und „Jaaapaaan!“ ruft.
Später bekommt er Heimweh, doch seine Höflichkeit verbietet es ihm,
dergleichen zu kommunizieren. Nur nach dem gewonnenen Finalspiel
glänzen seine Augen.
Jetzt
zu sagen, dass Fußball diese universelle Weltsprache über all dem
hier ist, liegt nah. Aber, letztlich trifft es das nicht ganz.
Sprache sorgt für Verständigung, für Verständnis. Sprache führt
zusammen. Doch der Fußball ist einen Schritt weiter. Er nutzt die
Zusammenführung. Ein in sich geschlossener Raum, in dem eigene
Regeln gelten, und der genau aus diesem Grund ein Versuchslabor, ja
eine Spielwiese für all die Dinge da draußen ist. So wie Goethe
insgesamt. Und wenn dann der Norweger den Ukrainer anmault, er möge
doch schneller spielen, oder der Kasache dem Mexikaner auflegt, ist
sich für einen kurzen Moment niemand darüber bewusst. Und weil
eben niemanden derlei auffällt, weil es eben niemand interessiert, kann
ich in alldem Bedeutsamkeit finden. (Nur um sie dann wieder aufs
Rationale runterzubrechen, in der hämpfligen Hoffnung, sie dadurch
nicht auszuhöhlen). Du nennst es Pathos, ich nenne es Sommerjob.
Am
letzten Tag kommt Yiran („Tiger“) aus Peking ins Büro und dankt
mir, dass ich „sein Spiel verbessert hätte“ - und jedes Klischee
des strebsamen, ergebnisorientierten Chinesen löst sich auf und wird
in mir zu einer kleinen, reinen Insel der Rührung. „Gern
geschehen, hat Spaß gemacht“ stammle ich verunsichert, ob solcher
Worte und dann ist Yiran aus der Tür und der Kurs ist aus.
Alle sind weg. Tegel
liegt in meinem Rücken. Der Himmel hat das gleiche Blau wie die
Energydose in meiner Hand, die bei konstanter Fahrt graziös auf
meinem Oberschenkel liegt. Jedem Klischee seinen Frieden, denke ich
und drehe das Radio lauter. Jedem Frieden seine Naivität. Jeder Naivität ihren Schutzraum. Jedem Schutzraum seine Wirkung. Jeder Wirkung seine Zeit. Jeder Zeit ihre Verklärung. Jeder Verklärung ihre Wahrheit. Jeder Wahrheit ihre Schönheit.
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