Eine Weihnachtsgeschichte
Pastor
Pranke juckte es. Auf gleich zweierlei Arten. Zunächst war da das
offensichtliche. Sein Stand auf der Kanzel war gerade, beide
Handinnenflächen gleichmäßig um das Mikro gelegt, der Rumpf
stabil. Eine Haltung, die seinen Worten eine beabsichtigte
Ernsthaftigkeit wie Würde verlieh, nicht aber dazu vermacht war,
sich beiläufig und fröhlich-egal am Steißbein entlang zu fahren.
Das zweite Jucken kam von Außen. Das Balg der Steinhöfers hatte
Hunger oder war verschüchtert oder müde oder was auch immer. Pastor
Pranke hatte keine Ahnung von Kindern, kein Interesse. Deswegen war
er hier gelandet. Ganz anders als viele seiner Kollegen. Jene, die
das Worte Liebe viel zu oft nutzten und schon im Priester-Seminar
sich nicht zu schade waren, beruhigende Begriffshülsen wie Herde,
Schaf und Weinberge aufzuschütten. Etwas, wie Pastor Pranke nicht
ohne stolz feststellte, nie in den Sinn kam. Er stand gerne hier
oben, die Schultern allem überlegen, und redete von Gott.
Die
Gemeinde hasste ihn, das war ein offenes Geheimnis. Seinen Kollegen,
Pastor Göhlert, jubelten sie zu. Göhlert war jung und motiviert und
schwul und biederte sich an. Das ganze Klischee. Er nahm selbst am
Krippenspiel teil, schwang einen Besen dabei, grunzte
aufmerksamkeitshaschend am Strohberg vorbei und johlte
verständnisvoll wann immer einer der angehenden
zu-Firmenden-Pubertäts-Vollpfosten zu faul oder zu dumm oder beides
war, um sich 3 Zeilen Text zu merken. Als er in der Gemeinde ankam,
sah man sein leeres Ohrloch und ein paar blonde Strähnen, war
ebenfalls noch nicht ganz herausgewachsen. Seine Predigten waren ein
einziges Staccato an Glücksformeln und Sinnphrasen. Alles Sinn bei
ihm machte Sinn und immerzu schlossen sich in seinen Ansprachen Türen
und gingen wieder auf. Tür auf, Tür zu, Tür auf. Am Ende waren sie
immer offen. Göhlert war, wie Pranke fand, nicht ganz dicht.
Als
das Spiel zu Ende war und das Klatschen des Saales genauso höflich
verstummt war wie es angefangen hatte, rang sich Pastor Pranke ein
„Danke für die Darbietung“ ab. Die Lokalpresse hatte ihn, wie
die Jahre zuvor auch, kürzlich gefragt, ob er es nicht schade finden
würde, dass die Kirche nur an Weihnachten so voll sei. Sicherlich,
hatte er im geübten Ton geantwortet, sei es schade, dass „viele
den Weg zu uns nur an den Feiertagen finden“, aber er freue sich
über jeden Menschen, zu jedem Anlass. In solchen Momenten musste
Pranke immer an Philipp Lahm denken. Der sagte auch immer das gleiche
und richtige. Ein adretter, tüchtiger Mann, der nichts dafür
konnte, jede Woche nach dem gleichen Ereignis, die gleichen Fragen
gestellt zu bekommen. Und sie dann jede Woche aufs neue aber nicht
neu zu beantworten. Pranke mochte diesen eigens entworfenen Vergleich
von ihm. Weihnachten war sein Heimspiel. Göhlert hatte ihn mal mit
ins Stadion geschleppt. Sie waren viel zu früh da gewesen und die
ersten auf ihren Plätzen. Das Flutlicht war von unendlicher, fast
erdrückender Klarheit gewesen und ein paar Spieler waren in
Trainingsanzügen und mit dicken Kopfhörern über den Platz
geschlichen. Jeder für sich. Wie sie scheinbar an nichts anderes
dachten, als daran den einen vor den anderen Fuß zu setzen. So
warteten sie, die Müdigkeit von Zoo-Löwen in den Gliedern, auf die
Massen, die ihnen etwas zurufen und dumme Fragen stellen würden. Da
musste Pranke automatisch an seine Kirche denken. Wie sie morgens um
6:30 Uhr roch, als er sie aufschloss, ein paar Kerzen anzündete, ein
stummes Gebet vollzog und sich in einem verstohlenen Moment etwas zu
viel Weihwasser ins Gesicht und auch hinter die Ohren träufelte.
Wenn er nicht Pastor geworden wäre, dann wohl Architekt, dachte
Pranke gerne und hoffte Göhlert würde noch etwas länger am
Würstchenstand brauchen.
„Doch
heute geht es nicht nur um Geschenke“, sagte Pranke ohne Haltung
oder Stimmlage zu verändern. Ohne Ironie, ohne irgendeinen Versuch
seine eigenen Worte selbstgefällig zu entkräften. Er lugte über
seiner Lesebrille hervor, um seine Zuhörer doppelt ins Visier zu
nehmen. Er suchte den Anblick von Frau Schauert. Sie wollte immer,
dass er sie Hedwig nannte, was er aus Anstand auch tat. Aber Frau
Schauert war ihm lieber. Sie hatte ihn vor diesem und anderen Sätzen
in seiner Ansprache gewarnt. Vor fast allen, aber vor diesem mit dem
meisten Nachdruck. Frau Schauert war verwitwet, hatte eine Tochter
irgendwo im Ausland und zusammen saßen sie ein paar Mal die Woche in
Prankes Büro, aßen ihre trockenen Kekse und lasen still
nebeneinander die Zeitung. Sonntags fragte er sie, ob er die kurze
oder die lange Stelle aus dem Evangelium lesen sollte. Frau Schauert
wollte immer die kurze und er tat ihr den Gefallen. Aber die
Geschenke-Sache war ihm zu wichtig. „Ihr werdet gleich alle nach
Hause gehen und euch über eure neue Playstation freuen oder euer
neues Fahrrad, aber haltet kurz inne“, sagte Pranke, keinen
Gedanken daran verschwendend wie viel Angriffsfläche er damit wieder
bot und sein Blick ging die Reihen ab. Der Älteste der Mahrhoffs
blickte ihn an, dann wieder auf seine Hüfte wo sein Handy lag, dann
wieder zu ihm und zurück. Als würde er autofahrend SMS-schreiben
und Pastor Pranke war die Leitplanke. Den Steinhöfers war ihr Balg
peinlich. Zurecht, natürlich! Aber sie waren nicht souverän genug
einfach den kurzen wie schmerzlosen, für alle beteiligten sinnvollen
Gang durchs Mittelschiff nach draußen zu gehen. Stattdessen saßen
sie drei da, Papa, immer noch in seinem verhassten Feiertags-Mantel
steckend, tat so als würde er zuhören und Mama, für sich immer
einredete religiös zu sein, wiegte das Schreiteil in den nicht
kommenden Schlaf, mit Bewegungen die weniger ein Wiegen als mehr ein
aggressives Zucken waren. Daneben die Blaukopfs – verdammte
Hippies. Göhlerts Gruppies. Immer kurz vorm Weinen und immer am
Nicken, wenn ein Satz des Kollegen die Welt in Zuckerfarben malte und
wieder mal nach Habt-euch-alle-lieb-Opiaten gierte. Die Frau trug
ausschließlich pastell und er war impotent. Weswegen sie in bester
Postkartenmanier beschlossen hatten, sich davon nicht unterkriegen zu
lassen. In den nächsten Jahren, wenn ihnen Jesus nicht mehr reicht,
dann wird es wohl ein Nordafrikaner werden, oder die Scheidung.
Frau
Schauert fixierte Pranke. Ein minimales Lächeln vor der trockenen
Gesichtshaut. Jetzt ertrag es, bade es aus, schien sie ihm zu zurufen.
Nichts lieber als das, dachte er und sog das hörbare Augenrollen des
Mobs in sich auf. Langweilt euch! Mir mir. Schindet euch, überwindet
etwas, einmal. All das dachte Pranke und kam zum Ende. Er sagte
Fröhlichkeit, wo Göhlert wahrscheinlich Glück gesagt hätte und
schritt ohne auf eine Reaktion zu warten von der Kanzel herab. Auf
den unteren Stufen konnte er die klammheimliche Erleichterung hören,
wie das Geräusch einer müden Schulklasse, die aufschreckt, wenn der
Lehrer den Fernseher hereinrollt.
Göhltert
sprang auf, sein vom blinden Genuss aufgeblähter Bauch vor ihm, und
dankte den Zu-Firmenden, übergab ihnen kleine Geschenke und
junggebliebene Grußkarten mit handschriftlich verfassten
Sinnbotschaften auf dem Rücken. Eine der Alsbachs flüsterte hörbar
„Das ist ja so lieb“ durch den Raum und wechselte ihren
50-Euro-Schein für die Kollekte in einen Hunderter. Dann forderte
Göhltert die Gemeinde zum Aufstehen auf, ließ das Licht dimmen und
der Organist stimmte „Oh, du Fröhliche“ an. Nach kurzer Zeit
verschwanden auch die LED-Lichter im Raum und man sang. Pranke hatte
die Arme auf dem Rücken und flüsterte den Text. Gleich würde er
allen die Hand schütteln, während sie durch ihn durchsahen. Und
wenn alle dann endlich bei ihren Mp3-Playern und freundlichen Worten
waren, würde er mit einer Flasche Wein und einem Käsebrötchen in
seinem Büro sitzen, vielleicht Bach dazu hören oder ein Buch lesen.
Er würde auf Schnee warten und auf Frau Schauert, und irgendwann
würde er, die Hände immer noch auf dem Rücken, durch seine
verlassene Kirche schlurfen. Er würde eine Kerze anzünden und
denken, dass er sich Gott immer näher fühlte als Jesus (ganz gleich
wie sehr man ihm im Pristerseminar diesen Gedanken um die Ohren hauen
würde). Er würde die Gebetsbücher ordnen und denken: Ihr seit mein
Kreuz, ich bin eures. Und am Ende legen wir es ab und es geht uns
besser. Pranke bemerkte sein eigens, seliges Lächeln im Gesicht, was
er sich sofort verbot. Das Lied kam zum Ende und für einen fast nur
zu erahnenden Moment gab sogar das Steinhöfer-Balg Ruhe.
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