Eine
Weihnachtsgeschichte
Der
Streit bricht dieses Jahr bereits vor dem Mittagessen aus. Manuela
zerschlägt eine Kugel des Christbaumschmucks, was Mutter seufzend
kommentiert. Dass sie diese Arbeit ja gar nicht machen müsse,
verteidigt sich Manuela, und wo eigentlich Anja sei, die doch helfen
wolle. Worauf Mutter sich beklagt, dass alle diese
„Familientradition“, als Arbeit empfinden würden. Was Manuela
ein wenig zum Weinen bringt. Sie ruft „Druck“ und „Nachteil“
und hadert mit ihrer Rolle als der Ältesten, was im Ausruf „Ich
bin nicht alle“ seinen Höhepunkt findet. Nachdem Mutter ihre
Entbehrungen für diese Familie aufgezählt hat, knallt eine Tür und
ich kann mir dem Eindruck nicht verwehren, dass es auch bei diesem
Streit unterschwellig darum geht, dass meine Eltern sie tatsächlich
Manuela genannt haben.
„Komm
mal mit“, sagt meiner Vater und schleift mich mit rudernden
Bewegungen hinter sich her.
„Och
nö“, sage ich und folge ihm.
„Doch. Ich will dir was zeigen“, sagt er und macht das
Kellerlicht an.
„Sag
nicht, du hast jetzt 'ne Modelleisenbahn.“
Vater
rudert weiter und schlurft die Treppen hinunter. Noch bevor ich durch
die Tür seines Arbeitszimmers bin, höre ich das Zischen einer
geöffneten Getränkedose. „Da!“, sagt Vater und wartet auf Lob.
„Ok.
Äh... Ok.“, sage ich und die Pupillen meines Vaters weichen
zurück. Ein Bier in der Hand sehe ich mich um. Ein Stapel Sport Bild
liegt neben einem Sessel mit dunkelblauem Baumwollüberzug. Die
Lehnen sind ausgefranst und zwei aufgerissene Nähte bringen gelben
Kunststoff zum Vorschein. Davor steht eine Apparatur aus
Mini-Flatscreen, Mini-Boxen und Mini-Bar, davor eine Spielekonsole
und Plastikhüllen mit Gewehrläufen, Gasmasken und Nachtsichtgeräten
darauf.
„Prost!“,
ruft Vater, nickt zufrieden und wischt sich die Feuchtigkeit aus dem
Mundwinkel.
„Prost“,
sage ich und kann nicht an mich halten: „Kannst du dir keinen
Porsche kaufen, wie die anderen Kinder auch?“
„Ach
quatsch“, ist Vater trotzig wie so oft in den letzten Jahren: „Ist
doch total cool, hier“ und in seiner Betonung des Wortes Cool
steckt die ganze Verzweiflung seiner Lebensphase.
„Und
wenn Mutter dir das Taschengeld kürzt, verziehst du dich hier
runter?!“
„Oder
wenn der FC spielt“, antwortet er, deutet auf dem Pay-TV-Receiver
und wir trinken beide: „Hättest du doch bestimmt auch gerne.“
„Ich
hab nicht mal einen Fernseher, Papa.“
„Ja,
stimmt“, wird Vater nachdenklich: „Na ja“, sagt er, trinkt noch
einen Schluck, stellt die halbvolle Dose in zurück und geht nach
oben. Es hatte geklingelt.
Frida
stürzt herein. „Bruderherz“, fällt sie mir um den Hals und
küsst mich ab. „Ist das ein Knutschfleck?“, fragt sie und tippt
auf meiner Brandnarbe am Hals herum, als wäre sie ein Reset-Knopf.
Sie macht diesen Witz jedes Mal und ich finde ihn immer noch nicht gut.
Sie ist noch dünner als letztes Jahr. Anja rennt über den Flur und
fällt Frida um den Hals. Unvermittelt will sie ihre Meinung nach
einer bestimmten Website wissen. Vom ganzen Krach angelockt, kommt
Manuela die Treppe hinunter. Sie grüßt, während sie das Geländer
fest im Griff hat. Frida macht keine Anstalten, den dicken
Wintermantel auszuziehen. „Hallo“, ruft nun Mutter mit
Anstrengung auf der Zunge und steckt die Hände in die Hüfte. „Und,
freut ihr euch schon?“, ist das erste, was sie fragt. Wir nicken
höflich.
Nach
der Messe haben wir alle unser bestes Elternsprechtag-Grinsen auf und
schütteln Hände. „Guck mal, die Junge von den Gilberts ist wieder
schwanger.“, flüstert Frida.
„Ja,
der Vater ist, glaub' ich, in Afghanistan.“, nicke ich.
„Anja,
pack dein Handy weg. Es ist heiliger Abend“, fordert Mama. Ihr
Wisch durch ihre Strähnen verrät ihre Sorge, dass man uns zuhört.
„Was
hat das damit zu tun? Sind Handys an Weihnachten verboten?“, fragt
Anja, wie ich finde, nicht zu unrecht.
„Heute
ist Familie, morgen kannst du wieder mit deinen Freunden schreiben“,
springt Manuela ein. Ihre Kette hat einmal Oma gehört.
„Komm,
lass uns gehen“, sagt Frida und hackt sich bei mir ein. Wir
schlittern nach Hause und treiben Anja vor uns her. Manchmal lacht
sie übertrieben laut über etwas in ihrem Display. Aber als wir sie
auch beim dritten Versuch nicht fragen, was denn so lustig sei, lässt
sie enttäuscht davon ab.
„Wie
geht’s denn Björn?“, fragt mich Frida.
„Weiß
ich nicht.“
„Wie,
du weißt es nicht?“
„Ich
weiß es nicht.“
Frida
überlegt: „Ach komm, nicht wirklich. Schon wieder?“
„Schon
wieder... “, sage ich und bin mir meiner Schuld bewusst. Der Schnee
knarzt unter meinen Schuhen, als würden wir über einen Speicher
gehen, der lange nicht mehr betreten wurde.
„Wie
lange ging es diesmal? 3 Monate? Du musst dein Leben in den Griff
kriegen, Mann!“, sagt Frida und boxt mir in die Seite: „Erzählst
du Mama und Papa davon?“
„Die
wissen alles, was sie wissen müssen.“
„Willst
du sie nicht teilhaben lassen?“
„Nein.
Ich will nicht nochmal von Papa so angeschaut werden. Ich bin nicht
hier, um mich … mitzuteilen.“
„Warum
sollte wir denn sonst nach Hause kommen?“, fragt Frida. Sie klingt
nicht wie jemand, der von seinen eigenen Worten überzeugt ist.
„Weiß
nicht. Weil es …“
Frida
kratzt sich die Nase: „Vielleicht...“
„Weil
es noch falscher wäre nicht zu kommen“, werfe ich hinterher.
„Wärst
du denn heute gerne woanders?“
„Nein.
Aber deswegen muss es mir noch lange nicht gefallen.“ Frida grinst.
Ich fahre fort: „Ich muss mich nicht öffnen. Ich bin von hier weg,
um mich nicht mehr öffnen zu müssen. “
„Du
hast ihn nur erschreckt. Welcher Vater nimmt so was einfach auf.
Meinst du nicht, es würde sie freuen, für dich da zu sein?“
„Sagt
meine kleine Schwester, die sich seit Jahren zu Hause nicht traut,
ihre Stulpen vom Handgelenk zu nehmen.“
„Arsch“
zischt Frida, zieht ihren Arm aus meinem und boxt mich erneut in die
Seite. Diesmal tut es weh.
Zur
Bescherung läuft Schuberts Ave Maria – weil das schon immer so
war. Die Freude über die Geschenke ist von jener Begeisterung
dominiert, genau das zu bekommen, was man dem anderen aufgetragen
hat, zu besorgen. Niemand weint, es ist ein gutes Jahr.
Zur
Suppe gibt es, wie immer, Weißwein, zur Ente, wie immer, Rotwein und
zum Eis Obstler, wie immer. Es läuft immer noch Schubert aber er
wird mit jedem Glas weniger nervig. Etwa zwischen dem ersten und
zweiten Stück Ente ist es Zeit für die Bestandsaufnahme. Manuela
berichtet von ihrem Kollegen, der vielleicht etwas wäre. Sie ist
befördert worden, ihre Katze war beim Arzt und ihre neue Wohnung sei
auch sehr gemütlich mit dem neuen Teppich. Ich wünsche ihr, dass
sie irgendwann akzeptiert, dass die Rolle der Ältesten genau richtig
für sie ist. Anja erzählt von ihrer verbesserten Deutschnote und
von Mirko, der offensichtlich ein Arschloch ist.
„Soll
ich ihn verprügeln?“ frage ich. Anja nickt.
Frida
kratzt sich am Ohr und stottert Worte wie „Relaunch“ und
„Projektkoordination“, und das mit diesem Lächeln, das ihr schon
so viele Türen geöffnet und so viele Probleme gemacht hat.
„Ich
freue mich, dass es meinen Kindern so gut geht“, ruft Mutter, und
stemmt die Hände in die Hüfte.
„Unseren
Kindern“, sagt Vater und grinst.
„Unseren
Kindern, jaja.“. Sie stoßen an und mir wird bewusst, wie lange ich
nicht mehr hier war.
Mein
Blick fällt auf Fridas Handgelenk, das sie sich kratzt. Ich mache
mit und kratzte mich spiegelverkehrt. Frida sieht das und kann zu
meinen Glück darüber lachen. Anja fällt die Gabel auf den Boden,
wofür sie von Manuela einen bösen Blick erhält. Ich knöpfe mein
Hemd auf.
Weit
nach Mitternacht, die Damen sind längst im Bett, sitzen Vater und
ich im Keller und spielen Krieg. Er sagt „zocken“ dazu und selbst
das ist mir zu dieser Uhrzeit egal. Als der Ladebalken eines neuen
Levels blinkt, frage ich: „Wie geht’s denn dir?“, und merke,
dass ich diese Frage beim letzten Mal hier unten hätte stellen
sollen.
Vater
knurrt und bricht auf der Flanke mit seinem Panzer durch. „Du musst
auf den Radar gucken, wenn du unter Beschuss genommen wirst“. Ich
falle und lasse den Controller in meinen Schoss sinken. Vater beendet
das Level. Ich schaue ihm dabei zu.
„Uns
geht’s gut“, sagt er unvermittelt, ohne vom Bildschirm
aufzublicken: „Es war ein ruhiges Jahr.“
„Das
mag wohl sein“, sage ich.
„Doch.
Ich finde uns geht’s gut.“
„Ok.“,
nimmt meine Stimme eine Abwehrhaltung ein: „Findest du nicht, dass
wir uns zu wenig kennen?“ Ich bin überrascht, wie intuitiv ich die
Frage stelle.
„Geht“,
sagt er und schnieft: „Versteh mich nicht falsch, mich interessiert
was ihr treibt. Aber ich finde das zu viel verlangt. Familien müssen
sich nicht verstehen oder kennen. Familie muss nur da sein. Keine
Ahnung, es ist Weihnachten, alle sind ganz zufrieden, alle sind
gesund. Findest du nicht?“
„Was
finde ich nicht?“,
„Gehts
uns nicht gut? Die Ente heute, die war doch gut.“
Ich
denke an Manuela und ihre Halskette, an Frida und ihre Stulpen, an
Mama und ihre Schürze.
„Vielleicht“,
sage ich und folge Vater in ein Sumpfgebiet.
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