Dienstag, 17. Dezember 2013

Call Of Duty

Eine Weihnachtsgeschichte

Der Streit bricht dieses Jahr bereits vor dem Mittagessen aus. Manuela zerschlägt eine Kugel des Christbaumschmucks, was Mutter seufzend kommentiert. Dass sie diese Arbeit ja gar nicht machen müsse, verteidigt sich Manuela, und wo eigentlich Anja sei, die doch helfen wolle. Worauf Mutter sich beklagt, dass alle diese „Familientradition“, als Arbeit empfinden würden. Was Manuela ein wenig zum Weinen bringt. Sie ruft „Druck“ und „Nachteil“ und hadert mit ihrer Rolle als der Ältesten, was im Ausruf „Ich bin nicht alle“ seinen Höhepunkt findet. Nachdem Mutter ihre Entbehrungen für diese Familie aufgezählt hat, knallt eine Tür und ich kann mir dem Eindruck nicht verwehren, dass es auch bei diesem Streit unterschwellig darum geht, dass meine Eltern sie tatsächlich Manuela genannt haben.
Komm mal mit“, sagt meiner Vater und schleift mich mit rudernden Bewegungen hinter sich her.
Och nö“, sage ich und folge ihm.
Doch. Ich will dir was zeigen“, sagt er und macht das Kellerlicht an.
Sag nicht, du hast jetzt 'ne Modelleisenbahn.“
Vater rudert weiter und schlurft die Treppen hinunter. Noch bevor ich durch die Tür seines Arbeitszimmers bin, höre ich das Zischen einer geöffneten Getränkedose. „Da!“, sagt Vater und wartet auf Lob.
Ok. Äh... Ok.“, sage ich und die Pupillen meines Vaters weichen zurück. Ein Bier in der Hand sehe ich mich um. Ein Stapel Sport Bild liegt neben einem Sessel mit dunkelblauem Baumwollüberzug. Die Lehnen sind ausgefranst und zwei aufgerissene Nähte bringen gelben Kunststoff zum Vorschein. Davor steht eine Apparatur aus Mini-Flatscreen, Mini-Boxen und Mini-Bar, davor eine Spielekonsole und Plastikhüllen mit Gewehrläufen, Gasmasken und Nachtsichtgeräten darauf.
Prost!“, ruft Vater, nickt zufrieden und wischt sich die Feuchtigkeit aus dem Mundwinkel.
Prost“, sage ich und kann nicht an mich halten: „Kannst du dir keinen Porsche kaufen, wie die anderen Kinder auch?“
Ach quatsch“, ist Vater trotzig wie so oft in den letzten Jahren: „Ist doch total cool, hier“ und in seiner Betonung des Wortes Cool steckt die ganze Verzweiflung seiner Lebensphase.
Und wenn Mutter dir das Taschengeld kürzt, verziehst du dich hier runter?!“
Oder wenn der FC spielt“, antwortet er, deutet auf dem Pay-TV-Receiver und wir trinken beide: „Hättest du doch bestimmt auch gerne.“
Ich hab nicht mal einen Fernseher, Papa.“
Ja, stimmt“, wird Vater nachdenklich: „Na ja“, sagt er, trinkt noch einen Schluck, stellt die halbvolle Dose in zurück und geht nach oben. Es hatte geklingelt.

Frida stürzt herein. „Bruderherz“, fällt sie mir um den Hals und küsst mich ab. „Ist das ein Knutschfleck?“, fragt sie und tippt auf meiner Brandnarbe am Hals herum, als wäre sie ein Reset-Knopf. Sie macht diesen Witz jedes Mal und ich finde ihn immer noch nicht gut. Sie ist noch dünner als letztes Jahr. Anja rennt über den Flur und fällt Frida um den Hals. Unvermittelt will sie ihre Meinung nach einer bestimmten Website wissen. Vom ganzen Krach angelockt, kommt Manuela die Treppe hinunter. Sie grüßt, während sie das Geländer fest im Griff hat. Frida macht keine Anstalten, den dicken Wintermantel auszuziehen. „Hallo“, ruft nun Mutter mit Anstrengung auf der Zunge und steckt die Hände in die Hüfte. „Und, freut ihr euch schon?“, ist das erste, was sie fragt. Wir nicken höflich.

Nach der Messe haben wir alle unser bestes Elternsprechtag-Grinsen auf und schütteln Hände. „Guck mal, die Junge von den Gilberts ist wieder schwanger.“, flüstert Frida.
Ja, der Vater ist, glaub' ich, in Afghanistan.“, nicke ich.
Anja, pack dein Handy weg. Es ist heiliger Abend“, fordert Mama. Ihr Wisch durch ihre Strähnen verrät ihre Sorge, dass man uns zuhört.
Was hat das damit zu tun? Sind Handys an Weihnachten verboten?“, fragt Anja, wie ich finde, nicht zu unrecht.
Heute ist Familie, morgen kannst du wieder mit deinen Freunden schreiben“, springt Manuela ein. Ihre Kette hat einmal Oma gehört.
Komm, lass uns gehen“, sagt Frida und hackt sich bei mir ein. Wir schlittern nach Hause und treiben Anja vor uns her. Manchmal lacht sie übertrieben laut über etwas in ihrem Display. Aber als wir sie auch beim dritten Versuch nicht fragen, was denn so lustig sei, lässt sie enttäuscht davon ab.
Wie geht’s denn Björn?“, fragt mich Frida.
Weiß ich nicht.“
Wie, du weißt es nicht?“
Ich weiß es nicht.“
Frida überlegt: „Ach komm, nicht wirklich. Schon wieder?“
Schon wieder... “, sage ich und bin mir meiner Schuld bewusst. Der Schnee knarzt unter meinen Schuhen, als würden wir über einen Speicher gehen, der lange nicht mehr betreten wurde.
Wie lange ging es diesmal? 3 Monate? Du musst dein Leben in den Griff kriegen, Mann!“, sagt Frida und boxt mir in die Seite: „Erzählst du Mama und Papa davon?“
Die wissen alles, was sie wissen müssen.“
Willst du sie nicht teilhaben lassen?“
Nein. Ich will nicht nochmal von Papa so angeschaut werden. Ich bin nicht hier, um mich … mitzuteilen.“
Warum sollte wir denn sonst nach Hause kommen?“, fragt Frida. Sie klingt nicht wie jemand, der von seinen eigenen Worten überzeugt ist.
Weiß nicht. Weil es …“
Frida kratzt sich die Nase: „Vielleicht...“
Weil es noch falscher wäre nicht zu kommen“, werfe ich hinterher.
Wärst du denn heute gerne woanders?“
Nein. Aber deswegen muss es mir noch lange nicht gefallen.“ Frida grinst. Ich fahre fort: „Ich muss mich nicht öffnen. Ich bin von hier weg, um mich nicht mehr öffnen zu müssen. “
Du hast ihn nur erschreckt. Welcher Vater nimmt so was einfach auf. Meinst du nicht, es würde sie freuen, für dich da zu sein?“
Sagt meine kleine Schwester, die sich seit Jahren zu Hause nicht traut, ihre Stulpen vom Handgelenk zu nehmen.“
Arsch“ zischt Frida, zieht ihren Arm aus meinem und boxt mich erneut in die Seite. Diesmal tut es weh.

Zur Bescherung läuft Schuberts Ave Maria – weil das schon immer so war. Die Freude über die Geschenke ist von jener Begeisterung dominiert, genau das zu bekommen, was man dem anderen aufgetragen hat, zu besorgen. Niemand weint, es ist ein gutes Jahr.

Zur Suppe gibt es, wie immer, Weißwein, zur Ente, wie immer, Rotwein und zum Eis Obstler, wie immer. Es läuft immer noch Schubert aber er wird mit jedem Glas weniger nervig. Etwa zwischen dem ersten und zweiten Stück Ente ist es Zeit für die Bestandsaufnahme. Manuela berichtet von ihrem Kollegen, der vielleicht etwas wäre. Sie ist befördert worden, ihre Katze war beim Arzt und ihre neue Wohnung sei auch sehr gemütlich mit dem neuen Teppich. Ich wünsche ihr, dass sie irgendwann akzeptiert, dass die Rolle der Ältesten genau richtig für sie ist. Anja erzählt von ihrer verbesserten Deutschnote und von Mirko, der offensichtlich ein Arschloch ist.
Soll ich ihn verprügeln?“ frage ich. Anja nickt.
Frida kratzt sich am Ohr und stottert Worte wie „Relaunch“ und „Projektkoordination“, und das mit diesem Lächeln, das ihr schon so viele Türen geöffnet und so viele Probleme gemacht hat.
Ich freue mich, dass es meinen Kindern so gut geht“, ruft Mutter, und stemmt die Hände in die Hüfte.
Unseren Kindern“, sagt Vater und grinst.
Unseren Kindern, jaja.“. Sie stoßen an und mir wird bewusst, wie lange ich nicht mehr hier war.
Mein Blick fällt auf Fridas Handgelenk, das sie sich kratzt. Ich mache mit und kratzte mich spiegelverkehrt. Frida sieht das und kann zu meinen Glück darüber lachen. Anja fällt die Gabel auf den Boden, wofür sie von Manuela einen bösen Blick erhält. Ich knöpfe mein Hemd auf.

Weit nach Mitternacht, die Damen sind längst im Bett, sitzen Vater und ich im Keller und spielen Krieg. Er sagt „zocken“ dazu und selbst das ist mir zu dieser Uhrzeit egal. Als der Ladebalken eines neuen Levels blinkt, frage ich: „Wie geht’s denn dir?“, und merke, dass ich diese Frage beim letzten Mal hier unten hätte stellen sollen.
Vater knurrt und bricht auf der Flanke mit seinem Panzer durch. „Du musst auf den Radar gucken, wenn du unter Beschuss genommen wirst“. Ich falle und lasse den Controller in meinen Schoss sinken. Vater beendet das Level. Ich schaue ihm dabei zu.
Uns geht’s gut“, sagt er unvermittelt, ohne vom Bildschirm aufzublicken: „Es war ein ruhiges Jahr.“
Das mag wohl sein“, sage ich.
Doch. Ich finde uns geht’s gut.“
Ok.“, nimmt meine Stimme eine Abwehrhaltung ein: „Findest du nicht, dass wir uns zu wenig kennen?“ Ich bin überrascht, wie intuitiv ich die Frage stelle.
Geht“, sagt er und schnieft: „Versteh mich nicht falsch, mich interessiert was ihr treibt. Aber ich finde das zu viel verlangt. Familien müssen sich nicht verstehen oder kennen. Familie muss nur da sein. Keine Ahnung, es ist Weihnachten, alle sind ganz zufrieden, alle sind gesund. Findest du nicht?“
Was finde ich nicht?“,
Gehts uns nicht gut? Die Ente heute, die war doch gut.“
Ich denke an Manuela und ihre Halskette, an Frida und ihre Stulpen, an Mama und ihre Schürze.
Vielleicht“, sage ich und folge Vater in ein Sumpfgebiet.      

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