Sonntag, 26. Januar 2014

Geh doch nach Hause!

My home was my castle. Wir haben die Burg der eigenen vier Wände aufgegeben und diesen einstigen Schutzraum den Versprechungen der Arbeitswelt geopfert. Perfektionismus wurde zur Tugend, Leistungsdenken ein Dauerzustand. Warum man sich Burn-Out und verwandte Krankheiten eigentlich zu Hause holt. – Ein Essay.

Der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Denn Ernesto ist zu Gast und gibt die volle Punktzahl.
Das Perfekte Dinner macht seinem Namen alle Ehre. Kandidat Ernesto trägt eine beige-weiß-karierte Mütze. Dazu ein Sommerhemd, in deren Ausschnitt ein zierliches Goldkettchen verschwindet. Davor das Nummernschild. Dem Kandidat mundete die Bewirtung. 10 Punkte.
Ein Format, harmlos gewiss, und in keinster Weise der Untergang des alteuropäischen Abendlandes. Jedoch Ausdruck eines Phänomens, einer Entwicklung, die über das Symbol und über die kurzfristige Mode bedeutsam ist. Das Private, nicht zu verwechseln oder gleichzusetzen mit dem Begriff der Privatsphäre, unterwirft sich zunehmend den Regeln der Arbeitswelt, den Leistungsprinzipien der Konkurrenz, dem Denken des Kapitalismus. Kochen um jeden x-beliebigen Preis. Der Gewinner hat gewonnen. Und wer gewinnt, hat gewonnen. Geselligkeit als Ergebnissport, Punktesystem inklusive.
Auch für die Teilzeitprominenz gibt es die Variante am Sonntagabend. Man ist nicht zum Kochen in der Sendung, sondern um sich seinen Berühmtheitsstatus zurück zu holen. Wessen Castingband kein neues Album mehr aufnehmen darf, wessen Sportkarriere keine Fortsetzung im Trainerlehrgang findet, wer nichts mehr zu verlieren hat, der kocht.
Auf Vox schauen wir also der Halbberühmtheit beim kulinarischen Anbiedern zu und fühlen uns ihr überlegen. Unter der Woche kochen wir auf gleichem Sender selbst.

Wir haben nicht verlernt zu kochen. Wir brauchen einfach jemanden, der uns sagt, dass alles gut ist. Jamie Oliver, Wohlfühl-Schnibbler vom Dienst, zeigt mit Charme und ewiger Jugend, dass man sich auch für die einfachen Dinge nicht zu schämen braucht. Sein medizinisches Pendant heißt Dr. Eckardt von Hirschhausen. Bei großen Lebensfragen bietet Richard David Precht Orientierung. In Mars-und-Venus-Dingen hilft Mario Barth. Und wer gerade denkt, der einzige zu sein, der nicht weiß wohin mit sich, dem tätschelt die Julia Engelmann der Saison die Stirn. Wo Antworten sind, wurden Fragen gestellt. Wo Fragen sind, herrscht Ratlosigkeit. Von der Küche über den Medizinschrank bis ins Wohn- und Schlafzimmer: Es scheint derzeit viel banalen Klärungsbedarf zu gehen.

Einender Eskapismus im Wohnzimmer

Das eigene Heim verliert zunehmend seinen Schutzraum-Status und bekommt eine gesellschaftlich fortschrittliche Rolle zugewiesen. Nicht erst durch Google-Street-View. Ein Rundgang durch seine einzelnen Räumlichkeiten macht Sinn. Beginnen wir im Wohnzimmer, in dessen Mitte der Fernseher thront, Spielekonsolen zu seinen Füßen. Für diese, ehemals ein reiner Hort des Hedonismus, werden nun Programme entwickelt, die Fitness-Übungen zum Abnehmen oder zur Bewegungssteigerung bereithalten. Die Wii kann sogar Yoga. Gameboy-Spiele definieren ihren Reiz in der IQ-Steigerung. Ein Begriff wie Gehirnjogging kann nur in einer Zeit materiell ausgereizter Ressourcen entstehen. Wir haben unser Heim zu einem physischen wie psychischen Fitnessstudio umgebaut. Die Playstation ist ein Hometrainer geworden.

Ist die Konsole ausgeschaltet, findet der Fernseher seine Funktion als Flucht- und Fixpunkt. Aber auch als Erzieher dient die Gerätschaft. Das Model und der Freak zeigt Erfolgschancen bei Frauen auf, indem es seine opportunistischen Kandidaten irgendwo runter springen lässt, während ihm die Laufstegpomeranze rät, häufiger zu duschen. Die Castingshows lehren derweil, wie wir zu singen haben und vor allem, wie wir nicht zu singen haben. Außerdem erzählt man uns, wenn man etwas genauer hinsieht, dass zu viel Persönlichkeit auch nichts bringt. Was zählt, ist nur ein Satz: „Ich werde alles geben“. Ob als versuchtes Model, Sänger oder Gastgeber: „Ich werde alles geben“, wie auswendig gelernt. Nein, es ist auswendig gelernt. Wenn Sportkommentatoren lobende Worte für jemanden finden, heißt es meist: „Er hat alles richtig gemacht“.
Unsere Sprache hat sich verändert. Wir haben Begriffe wie Life-Coach oder Performance-Angst einfach und unkommentiert in unseren Wortschatz gelassen. Im Fernsehen haben wir sie zum ersten Mal gehört.
Nur Doku-Soaps spenden ambivalenten Trost. Bei allem Versagen, so peinlich wie die Familie am RTL-Nachmittag ist man dann doch nicht. Das Privatfernsehen ist geprägt von Eskapismus und Unsicherheit. Eine Sendung wie Das Supertalent beruht einzig auf dem Prinzip der Präventiv-Wertung. Schon in der obligatorischen Ankündigung eines Kandidaten erfährt der Zuschauer, ob er gleich zu jubeln, zu staunen oder zu buhen hat. Das voran gestellte Video erzählt dafür, ob der folgende Vortänzer einen tragischen Familienfall zu pflegen hat, sich trotz seiner ärmlichen Verhältnisse Lebensfreude und Optimismus bewahrt hat oder leidenschaftlicher Sammler gebrauchter Unterwäsche ist. Die Prophezeiung hat sich selbst erfüllt, bevor auch nur ein Schritt getanzt oder ein Ton gesungen ist. Das Glückmoment der Gruppenzugehörigkeit im gemeinsamen Fühlen und Handeln, wie plump und manipulativ dieses auch entstehen mag, ist elementar für den Erfolg solcher Sendungen. Eine unsichere Gesellschaft zeichnet sich durch äußere Homogenität aus, nach der sie strebt und die ihre eigene Ausbreitung vorantreibt. Selbst die Quoten-Schwarze und die Quoten-Blonde, die Dieter Bohlen flankieren, versichern sich in Körpersprache und Mimik regelmäßig beim Mann in ihrer Mitte. Ob sie das Dargebotene nun gut oder schlecht zu finden haben, ob er den Daumen hebt oder senkt. Dabei steht dies immer schon vorher fest.
Der Fernseher ist eine letzte Flucht vor der Welt geworden. Er nimmt einem das Denken und sogar das Fühlen ab, und betreibt gleichzeitig kulturästhetische Erziehung. Eine letzte passive Insel der Nicht-Überforderung in Zeiten der mentalen Überschwemmung und der Aktivitätspflicht. Das Medium, welches mal das Fenster zur Welt sein wollte, ist die letzte Ablenkung vor ihr.

Diplom-Küchentischpsychologen

Neben dem Fernseher liegt ein Stapel Illustrierte. Meist ist es gleich ein ganzer Haufen, gerne auch auf dem Klo platziert. Auch wenn jedes Heft identisch gestaltet ist, scheint der Markt eingängiger Frauenzeitschriften nie gedeckt. Fast jedes Exemplar bietet Tipps für die unterschiedlichsten Lebenslagen. Viele davon betreffen den öffentlichen Raum, das Schminken, die Mode, das Verhalten gegenüber dem Chef, den Kollegen. Doch auch die engste Umwelt besitzt Optimierungsmöglichkeiten. Wie man mit Freundinnen umzugehen hat, mit Geschwistern und, naturgemäß häufig: dem Partner. Das Leben ist zu einer ewigen Fortbildung geworden. Freundinnen machen Persönlichkeitstests, Beziehungen beginnen gleich in der publizistischen Paartherapie. Alles kann verbessert werden: Die Körpersprache beim ersten Date. Die Art, mit der man sich vor dem Sex auszieht. Die richtige Wortwahl bei der zweisamen Generalkritik. Man analysiert sich in die Depression. Gibt man bei Amazon die Worte „Ratgeber“ und „Liebe“ ein, erhält man gut 6600 Treffer. Bei „Ratgeber“ und „Geld“ ist es weniger als die Hälfte. Wer so viel zu verbessern hat, so unperfekt ist, kann gar nicht geliebt werden. Die eigene Unsicherheit wird auf die Zöglinge übertragen. Absolute Spitzenreiter bleiben demnach die Erziehungsratgeber, mit fast 30.000 Vorschlägen. Selbst die eigene Emotion steht auf dem Prüfstand. Und lieben tut man – so viel haben wir von Bridget Jones noch behalten – leidenschaftlich, kompromisslos, ewig. Ohne jeden Zweifel. Und wenn eine Kleinigkeit am Partner nicht stimmt– so viel haben wir von Carrie Bradshaw noch behalten – hat man Reißaus zu nehmen. Auf der Flucht vor sich selbst. Wenn wir nicht lieben oder nicht geliebt werden, gibt es dafür nur einen Grund: die eigene Fehlerhaftigkeit. Um es mit Heidi Klum zu sagen: Man hat nicht alles gegeben.
Das Grundniveau an psychologischem Halbwissen und Selbstreflektion ist so hoch wie nie. Wir wissen, dass wir eigentlich nur Angst vor Nähe haben oder dass wir eigentlich nur Menschen suchen, die wie unsere Eltern riechen. Die Ausschlachtung der Ratio hat uns alle zu großartigen Küchentischpsychologen ausgebildet. Nur führt eine wissende Ratio nicht zu einer höheren, emotionalen Reife. Reflektion ist lediglich das ewige Lamentieren über sich selbst, das immer nur neue Bereiche der emotionalen Schwäche benennt, aber nicht bekämpft.

Die Treppe hinauf gelangt man ins Schlafzimmer. Im Bett hat man selbstredend genauso zu funktionieren. Selbst im Intimsten hat das Prinzip der Leistungserbringung Einzug erhalten. Der ehemalige Schutzraum Sexualität bricht auf, wird durch Phänomene wie YouPorn gleich geschaltet, die wie das Fernsehen ästhetische Erziehung betreiben. Der richtige Sex: Es gibt ihn. Er ist unbehaart, ausdauernd, abwechslungsreich, spontan und sowieso. Der Aufstieg des Pornos aus dunklen Kellern in die beiläufige Häuslichkeit des Internets hat ihm den verruchten Charakter, die spannende Aura der Andersartigkeit genommen. Früher waren der Porno und seine Darsteller etwas aus einer anderen Welt. Heute drehen wir alle unseren eigenen. Zu sehen in der Kategorie Amateur. Der Sexfilm gilt nicht mehr als exotisches Etwas, das man sich verklemmt bis verstört, innerlich distanziert bis heimlich-fasziniert ansieht. Er ist zum Standard geworden, den wir täglich versuchen zu erreichen. Und wenn man etwas erreichen kann, kann man dabei scheitern. Wenn wir glücklich sein können, sind wir es nicht. Auch schon vor dem Sex, also im Bad gibt es einheitliche Auswüchse. Früher war es für die Frau unmöglich, den Kampf gegen die eigene, freiheitsheuchelnde Behaarung anzutreten. Heute dagegen muss jede Dame – und der Fairness halber sei gesagt, dass auch Männer zunehmend häufiger solchen Pflegeauflagen unterliegen – sich von sämtlichen Auswüchsen unterhalb der Schultern entledigen. So oder so: es bleibt ein Hygiene- und Schönheits-Diktat. Die Frage der Intimrasur ist keine Frage. Man hat keine Wahl.

Ich teile mich mit, also bin ich

Beim Thema Sex ist man heutzutage wie konditioniert am Computer. Der Laptop wird ja auch – so zeigt es uns beispielsweise die (kinderfreundliche) Werbung – direkt mit ins Bett genommen. Dass aus der dauerhaften Möglichkeit der Internetnutzung und Erreichbarkeit über W-Lan und Smartphones unmittelbar der Zwang der Erreichbarkeit wird, verrät die Telekom-Werbung nicht. Natürlich kann Oma jederzeit Mails checken. Aber der Chef kann auch jederzeit solche senden – und verlangen, dass diese umgehend gelesen werden.
Das Internet im Allgemeinen und Facebook im Speziellen sind natürlich zu nennen, wenn es um die Vermischung einstmals getrennter Welten geht. Wenn Intimes und Öffentliches eine undurchsichtige Mischform bilden. Der Like-Button ist vielleicht das deutlichste Bild für die Unterordnung intimer Dinge unter einem Prinzip der Leistung. Etwas gut finden lassen, heißt immer auch, es der eventuellen Missbilligung anderer zu unterwerfen. Doch trägt man in Netzwerken sein Privates nicht nur in den öffentlichen Raum und gibt ihn damit zur Bewertung frei. Das Internet ist zu einem Echtzeitmedium geworden. Die Bewertung findet simultan zum Erlebten statt. Das Foto aus der ersten Reihe, das Video der neuen Single wird noch auf dem Konzert hochgeladen und damit auch noch während selbigem bewertbar. Gerne wird auch die gerade zubereitete Mahlzeit fotografiert und gepostet. Wo wir wieder beim perfekten Diner wären. Etwas zur Bewertung freigeben heißt, sich abzusichern. Mache ich auch alles richtig, ist die Frage, die hinter der Pasta im Profil steht. Ist alles gut bei mir? Jetzt? Während die Angst vor dem Alleinsein alles umschließt. Und Mobilfunkanbieter zeigen währenddessen Hipster, die während des Bungee-Sprungs ihren Freunden erzählen, wo sie gerade sind. Ein Glücksversprechen: Ohne die Teilhabe anderer ist das Eigene, das Innere nichts wert. Es existiert gar nicht. Ich teile mich mit, also bin ich. Es gibt nichts Privates mehr, weil sich das Private neuerdings erst durch seine Präsenz im öffentlichen Raum definiert.

Nachdem man also zwischen Lokalsportteil und Aufwach-Zigarette seine Mails gecheckt hat, fährt man zur Arbeit. Im Radio redet ein Wirtschaftsweiser. Aber man hört nicht hin. In Gedanken legt man sich bereits seine Worte zurecht. Die letzte Nachricht hat das Thema des ersten Meetings preisgegeben. Was schrieb Gordon Gekko uns noch gleich ins Notizbuch: „Lunch is for pussys!“

Der Rhythmus, bei dem man mit muss

Das Wesen des Kapitalismus ist der Fortschritt. Das Wesen des Fortschritts ist die Verbesserung, gerne auch Optimierung genannt. Und da ist der Optimismus gleich mit drin, also die Werbung.
Werbung ist auf eine Aussage zu reduzieren: Es ist möglich, glücklich zu sein. Womit, wodurch oder wie erklärt jeder Reklamekontakt für sich. Wenn wir glücklich sein können, bekommen wir damit aber eigentlich gesagt, dass wir es im Moment nicht sind. Optimierung, Perfektion ist ein Loop, eine Endlosschleife, ein Hamsterrad.
Genauso wie die Werbung ihr Bestehen aus dem dauerhaften Vorhandensein eines Verbesserungspotenzials konstruiert, ist im Kapitalismus der Fortschritt ein immer währendes Moment. Der Weg, der Anstieg ist das Ziel. Rentenalter werden herauf gesetzt. Schüler früher eingeschult und vor allem: früher durchs Abitur geprügelt. Den protokollartigen Auslandsaufenthalt zwängt man sich trotzdem noch irgendwie in den Lebenslauf. Englischunterricht gibt es ab der ersten Klasse, Geografieaufgaben werden bereits im Kindergarten gestellt. Auch Noten fürs Betragen schaffen es immer wieder aufs Zeugnis. Druck allerorten. Wer es nicht aufs Gymnasium schafft, verliert. Der Lebensweg entscheidet sich am Ende der Grundschule. Da ist sie wieder, die Undurchlässigkeit, die Bewahrung der Homogenität, nach der unsichere Gesellschaften immerzu streben.
Auch wenn in der Workload-Überforderung das unzureichende Klischee der bösen, fiesen Arbeitswelt steckt. Mit dem Wegbrechen einer ideologischen Alternative, und wenn sie noch so sozialistisch-fragwürdig war, ist auch die Frage nach der Veränderung gewichen. Nützt ja doch nichts, wird auf eingebrachte Zweifel entgegnet und weiter gemacht. Der Körper kennt darauf immer nur die Antwort des unkontrollierten Ausbruchs, des Hilfeschreis. Ausgebrannt ist man dann, verenglischt: Burn-Out. Doch der seelische Zwilling der Depression kämpft weiter um den Titel des Leidens mit dem schlechtesten gesellschaftlichen Stand. Ein Bein kann sich jeder brechen. Krebs bekommen, ist Schicksal. Aber traurig sind nur die Schwachen. Dies sei nur eine Mode, ist da der häufig gebrachte Einwand. Alle wären sie jetzt erschöpft, das geht vorbei. Doch offen geht weiterhin niemand damit um. Mag die Anzahl der Krankschreibungen auch seltsam rapide gestiegen sein – was vielleicht sogar nur der Tatsache geschuldet ist, dass diese Krankheit endlich einen Namen hat –, zugeben tun die wenigsten, deswegen in Behandlung zu sein. Allein die bloße Existenz der Frage, ob es sich bei diesem Leiden nicht einfach um eine fragwürdige und faule Generalentschuldigung der Arbeitenden handelt, zeigt die Rechtfertigungsnot, in der sich Erschöpfte und Ausgelaugte sehen. Da wählt man lieber die Taktik der körperlichen Verdrängung. Symptome wie Müdigkeit und Nervosität werden unterdrückt und bekämpft. Ritalin ist bei Schülern und Studenten der neue Traubenzucker. Der Energiedrink Red Bull verkaufte sich im Jahr 2010 4,2 Milliarden Mal. Für dieses Jahr wird der Rekordabsatz von 4,6 Milliarden erwartet. Dreimal so viel wie noch 2005.
Mit der zunehmenden Angst im Perfektionierungsdauerlauf auf der Strecke zu bleiben, also im Wettrennen gegen eine fiktive Masse, die scheinbar immer besser, länger und gewissenhafter arbeitet als man selbst, entscheiden sich immer mehr Angestellte für die Arbeit und gegen die Freizeit. Womit diese Entscheider zur eigentlichen, weiterhin unfassbaren, fiktiven Masse werden, an der sich andere wiederum orientieren. Es ist eine nur schwer zu durchbrechende Abwärtsspirale. Doch die Entscheidung für oder gegen die Freizeit ist letztlich eine genauso autonome wie jede andere. Konkurrenzdruck ist immer eine Größe, der man sich genauso entziehen kann, wie man sich freiwillig auf sie einlässt.
Doch die Schwierigkeit ist nicht zu leugnen: Karriere gegen Spaß. Der berufliche Erfolg ist neuerdings nur noch zum Nachteil des Privatlebens zu erreichen, nicht mehr im Einklang mit ihm.

Vom Privaten zum Politischen

Die Aufgabe Freizeit und Arbeit in Einklang zu bringen, ist nicht neu. Die Wirtschaftswunderer grenzten das Private vom Beruflichen ab, in dem sie es mit dem Geschlecht verbanden. Ohne Frauen war der Arbeitsmarkt nur noch halb so voll, weshalb jedes nostalgische, glorifizierende Sehnen nach jenen Tagen immer auch etwas arg Verdrängendes hat. Und dennoch: „Samstags gehört Vati mir“ war zwar Verstärkung patriarchalischer Strukturen, aber genauso die quantitative Zusicherung von Freizeit. Das Waschen des Autos, zugegebenermaßen ein miefiges Hobby, war immer noch ein Hobby.
In der 68er-Bewegung dann entwickelte man die Idee einer von der Arbeitsobrigkeit befreiten Lebenssituation, in dem man das Private, die Selbstverwirklichung nicht zum wichtigsten, sondern zur alternativlosen Allheiligkeit erklärte. Die einstmalige Grenze, die man mit dem Schließen der Haustür zog, verwischte. 1970 wurde in der Frankfurter Eppsteiner Straße 47 das erste Mal ein Haus besetzt. Das Private wurde politisch. Die Häuserwand zur Kampfzone. Die Zeit war voller Dogmen. Eine sich schminkende Frau war Antifeministin. Das Ideal der freien Sexualität war letztlich das Diktat der sexuellen Freigiebigkeit. Frei hieß groteskerweise nur, was dem Ideal entsprach – oftmals schlicht die plumpe Umschichtung des Vorangegangenen. Frei wäre gewesen, sie hätten gerufen: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört zwar zum Establishment, aber hey, jedem das Seine, ihr Spießer. Klingt fast genauso catchy. Womit wir nochmals zur Werbungssprache zurückkehren.
Bis in die 60er Jahre fristete das Wort Mehr in der deutschen Werbesprache eine untergeordnete Rolle. Inhaltliche Begriffe wie Frisch oder Schmeckt waren ihm einige Nennungen voraus. Erst in den 70ern wurde Mehr häufiger genutzt, stieg aus unteren Top 20-Platzierung bis auf Platz drei. Dort steht der Begriff bis heute. Im Geschäftsjahr 2010/2011 wurden nur die Wörter Wir und Leben öfter in Werbeslogans verwendet.
Das Mehr ist gleichermaßen Dogma wie Zugpferd einer vereinheitlichenden Entwicklung geworden, die bis heute anhält. Der konservative Backroll heutiger Mittdreißiger, die Sehnsucht nach Stabilität, die Konzentration auf das kleine, private Glück, fernab großspuriger Ideale, die über die Kernfamilie hinaus gehen, ist nicht wie oft behauptet, eine Rückbesinnung auf Nachkriegswerte. Es ist eine erneute Steigerung, ein erneutes Mehr. Waren die monogamen 50er auf den materiellen Aufstieg fokussiert, koste es was es wolle, probten die Hippies den Ausstieg, der letztlich nur ein Einstieg in eine neue Welt voller Wertvorgaben war.
Ganz im Wesen des Kapitalismus, der sich nach dem Ausreizen eines Wirkungsfeldes einem neuen zuwendet, ist die Logik der Leistungserbringung nun vom rein beruflichen ins private Leben übergegangen. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, in dem man nicht funktionieren muss.
Demnach sind die Burn-Out-Fälle, die Ritalin-Junkies, die überforderten Grundschüler und ihre Eltern nicht einfach die Resultate eines Kapitalismus, der sich unersättlich im Ausloten seiner Grenzen zeigt, und dem man sich klagend ergibt. Letztlich sind sie das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Verteidigung des Schutz- und Rückzugraums Privat. Überarbeitung als qualitatives Problem.
Wir lassen uns das Rauchen verbieten, unsere Butter ist cholesterinfrei, wir leben in dem Bewusstsein, dass Sex mehr Kalorien verbrennt als Joggen. Der Fortschritt, er hört nie auf. Wir öffnen ihm die Tür. Wir ließen das Drehteam hinein, uns beim Kochen zu begleiten. Wir geben uns im Internet und sonst wo zur Bewertung frei. Wir lesen die Zeitschriften und Ratgeber, die wir lesen. Wir gucken die Sendungen, die wir gucken.
Für sein Privatleben – soweit liegt es dann doch noch in der Natur der Sache – ist am Ende eines langen Arbeitstages immer noch jeder selbst verantwortlich. Worin aber ein Hoffnung spendender Lösungsansatz steckt.
Beim nächsten Konzert die Kamera auslassen. Freunde zum Essen einladen, ohne Sorge um den Hauptgang. Solange genügend Wein im Haus ist, ist die Würze des Hauptgangs nicht entscheidend. Mal wieder den Tetris–Highscore knacken und nicht durch den Vorderlappen joggen. YouPorn als das annehmen, was es ist: gute Comedy. Dass die Karriere ihren Platz herrischer einfordert als früher, ist unumstritten. Umso wichtiger ist es für jeden Einzelnen, sich seine stress- und leistungsfrei-Zone zu erhalten.
Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wir sind, liebe Werbung, ganz und gar nicht glücklich. Aber wir könnten es wieder werden.

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