Donnerstag, 4. Dezember 2008

Schnee, der in Dreckslöcher fällt

Ich würde lügen. Ich würde bösartig, hinterlistig lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir die Welt verändert hätten. Das draußen von nun an die Flocken aufwärts steigen und der Matsch zu purem, reinen und unberührten Schnee werden würde. Die Welt war nach diesem Abend, die Selbe die sie auch schon zuvor gewesen ist. Mit allem was dazu gehört.
Unter anderem die Wohnung, in der wir uns ab etwa 21.30Uhr einrichteten. Eine Festplatte guter Musik, ein mit Aufbackbaguette gefüllter Ofen, IKEA-Tisch und der darauf abgestellte Alkohol. Darum 4 Kommilitonen und die Idee eines Trinkspiels, bei dem jeder den Tequilla leeren muss, der nicht fähig ist zum eben vom Nebenmann genannten Film einen Schauspieler zu nennen. Was beim Scrabble das Wörterbuch, ist hier imdb.com. Nach Mitternacht wird auf Martini umgestellt. Mit diesem nimmt die Konzentration auf das Spielchen ab und die zu den jeweils genannten Filmen geäußerten Stammtischparolen übernehmen die Überhand. Es ist eine Assoziationkommunikation. Ein Wort ergibt das Andere. Jede Meinung findet einen Gegenpart, jede Idee, eine Abneigung. Ein Film ergibt den Nächsten, eine Filmmusik den nächsten Darsteller und dieser einen Regiesseur.
Von Magnolia und darauf über Youtube gesuchten Aimee Man, gelangt die Runde zu Queens Of The Stoneage und über Umwege zu Scorsese, "Hard Candy" und später auch Tarrence Malik und sein von uns allen Seiten selten einig für grandios befundenes Meisterwerk „“The Thin Red Line“.
An diesem Punkt erreicht der Abend einen Wendepunkt. Mit diesem Film und der alteingesessenen Frage nach der Existenz des Anti-Kriegsfilms wird es (etwas) politisch. Wir sitzen nicht bei Anne Will in der Berliner Kuppel, aber den Stammtisch haben wir immer noch nicht ganz verlassen. Das ändert sich, als jeder erstmal ein paar Sätze, die ihm grundsätzlich auf der Seele brannten los geworden ist. Ab diesem Punkt wird die Diskussion gradliniger. Und als gegen 2.30Uhr das Thema geklärt und die Konzentration zurück gekehrt ist fällt Schnee auf Fenster in der Dachschräge.
Die Diskussion wird persönlicher, lauter, aggressiver. Von Afrika, der dortigen, westlichen Verantwortung nach der Kolonialzeit, Globalisierung, Europas Selbstfindung seit dem 30jährigen Krieg, der dabei (nicht) zu findenden Analogie zu Afrika heute, führt uns erneut zum schwarzen Kontinent. Unsere Meinungen darüber sind, wie immer, emotional befleckt, wenn diesmal auch deutlich mehr als sonst. Auch wenn ich weit davon entfernt bin, dies als unsachlich und hinderlich zu bewerten. Vielmehr ist es ehrlich. Ob naiv, zwanghaft optimistisch, melancholisch gleichgültig oder eine ausgewachsene Aggression gegen alles und jeden; alles hier von uns vier vorgetragene Etwas ist grundehrlich. Wir sind ehrlich, wenn wir sagen, dass wir genauso wie alle anderen auch nichts tun, dass dieser Abend, diese Diskussion reiner Selbstzweck ist und dass wir eigentlich diese Welt nicht ändern wollen. Ob wir es nickend, weinend oder mit Schaum vorm Mund sagen, wir sagen es. In den Zeilen oder dazwischen. Der Tequilla in unserer Blutbahn ist dabei schon lange nicht mehr wirksam.
Irgendwann wird es müde. Die Fähigkeit dem Gegenüber zu zuhören geht vor die Hunde, Beleidigungen wechseln den Adressaten und gegen 5.30 hat der Gastgeber den Geistesblitz Tee aufzusetzen. Beide Hände an der großen Tasse, endet dieser Abend wie ein guter Film. Er warbt seinem Ende entgegen. Wie in „The Thin Red Line“ ist das Gemetzel, das ganze Chaos über uns eingebrochen, hat Unmengen an Fragen aufgeworfen, auf die wir keine Antwort haben. Was bleibt ist der schlichte Abspann, weiß auf schwarz und ein trüber Chor sind melanesische Lieder, die zwar schön aber dadurch auch entlarvent sind. Das Licht geht an, die Idioten sind bereits hektisch raus gerannt und du presst dich noch ein letztes Mal kurz in den Sitz.
Um kurz vor 7Uhr steige ich aus dem Bus aus. Die Sonne mit mir. Ich werde heute oder morgen weder auf eine Demonstration gehen, noch Flugblätter verteilen. Ich werde nachdem der Biomarkt bereits geschlossen hat bei Aldi an der Kasse stehen, Hackfleisch in der Hand und diese komische Uni-Wahl völlig vergessen. Aber das wäre auch ohne diesen Abend der Fall gewesen, also lassen wir die Moral endlich mal Beiseite, die hat hier eh nichts zu suchen.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause läuft mir der Matsch über die Schuhe. In Puff und Schwulendisko ist auch schon das Licht aus. Sogar die Batterien meines Mp3-Players haben keinen Saft mehr, wofür es keinen besseren, weil unbedeutenderen Zeitpunkt geben könnte. Denn; es geht mir gut. Hier, in dieser Welt in der – ohne jede hier selbst schützende – Ironie Kinder in Afrika sterben, vielleicht sogar weil ich nicht im Biomarkt kaufe. Hier, in dieser Stadt zwischen Bordell, Dreck und nicht fahrenden Bussen, habe ich etwas gefunden. Habe ich Leute gefunden, mit denen ich gerne die Dienstagnächte verbringe, womit auch immer. Leute mit Plakaten im Treppenhaus, gutem Musik- und Filmgeschmack und einer Menge Lebensbejahender Energie, die nicht in jedem zu finden ist.
Ich würde lügen, wenn ich sage, dass diese Welt sich verändert hätte, gestern.
Aber ich fühle mich doch deutlich wohler und besser in ihr zurecht. Ich fühle mich zu Hause.