Donnerstag, 19. Dezember 2013

2013 - Ein Kinojahr in Bildern

Max Frisch, dieser alte Rumtreiber, hatte wohl Recht, dass wir unser Leben früher oder später als Geschichte hinter uns her schleifen - und sie dementsprechend in Bildern erzählen. Womit der Film dem Leben einen Schritt voraus (oder hinterher) ist: Seine Bilder erwachsen vielleicht der Verklärung, sie sind aber, einmal in die Linse geworfen, vor dieser gefeit. Die Aura der Wiederholung (Sorry, Walter), sie hat ihr emotionales Zentrum nicht im Film und nicht im Akt. Der Kern des Großen Ganzen ist die Szene. In ihr erhebt sich alles sowie es zum erliegen kommt. Oder um es mit Howard Hawks zu sagen: "Ein guter Film ist drei gute Szenen und keine schlechte".

10) This is the End - Michael Cera auf Kokain
Ist dies der beste Cameo-Auftritt aller Zeiten, wie meine Freunde von indiewire.com behaupten. Äh.... ja! Oder in anderen Worten: sehr, sehr... sehr lustig.



9) The World's End - Twins
Billy Wilder hätte es geliebt. Ok, das Ende will vielleicht etwas viel. Aber hey, es ist Edgar Wright. Der darf seit Scott Pilgrim eh alles. Es ist Rosemund Pike, die darf seit Barneys Version alles. Und ansonsten ist es schlicht gute Comedy. Mit dem kleinen Nerdgrinsen, weil sie über Zwillinge reden und selbst welche im Spiegel sind. Weil das Timing stimmt, weil die Seitenhiebe auf Moralverlust, Ipod-Generation im Gesamtverlauf gleichsam charmant wie korrekt sind. Und, tja, weils 2 Stunden schön smooth zwischen die Ohren geht, an denen ein fettes Lächeln aufgehängt ist.


8) The Pervert's Guide To Ideology  - Rammstein
Ich hätte auch andere Szenen, Gedanken, Momente heraus nehmen können. Es ist natürlich wieder einmal nicht das reine Dozieren, sondern der Akzent, der Look, der Körper, der Gestus, der Schnitt, die Überlagerung von Komplexität und Banalität. Es macht einen heiden (Wortspiel, juhu!) Spaß und bringt unbelesene Vollpfosten wie meine Wenigkeit doch voran.


7) World War Z - Showdown
Es ist offiziell: Brad Pitt ist Jesus. Ach quatsch: Jesus ist Brad Pitt! Das Meer wie Moses teilen, die Cola locker im Anschlag, dem (ziemlich vital geratenen) Zombie tief in die Augen blicken, als wäre es das erste Mal. Lang, lang lebe das Mainstreamkino und seine Idee von Coolness (im Indie-flick nebenan geklaut), die es uns immer wieder in die Köpfe planzt. Dass der Film dabei mit grandiosem Soundtrack und toller Montage so manchen Moment in die Klischees legt, der gar spannende anthrophologische oder politische Fragen aufwirft (Israel-Palästina, anyone?), egal. Hauptsache Brad Pitt hats im Griff und Moritz Bleibtreu kommt den Mund irgendwann wieder zu.


6) Paradies: Hoffnung - 2 Mädchen im Bett 
Wer nur einen Seidl kennt, weiß was er (sich an)tut. Und doch, seine Paradies-Trilogie war einen Wimpernschlag anders als es, sagen wir, Hundstage war. Ein Film, den ich hasste wie keinen zweiten vor oder nach ihm (Wofür ich ihn natürlich geliebt habe und immer mehr liebe!). Und doch, Paradies war weich, warm, sein Blick unabwendbar. Und die Zentralperspektive plötzlich nicht mehr kalt und richtend, sondern unvoreingenommen und wach. Dass dieser dem Objekt dienende Ansatz des Zeigens im Kosmos Kino so fremdartig wirkt, zeigt doch vielleicht, wie was wir verlernt haben. Seidl zeigt uns - bei aller Verletzlichkeit, die das mit sich bringt - was wir vermissen. 


5) Only God Forgives - Time To Meet The Mother / Devil
Was habe ich mich über die Kritiken aufgeregt, die den Polizeichef, den lokalen Antagonisten zum Untitelgebenden Höllenfürsten ausriefen. Nein, die Mutter ist, was wir fürchten. Wir? Der Westen. Amerika. Wir? Das 3-Akt-Erzählen. Das Wertesystem einer Aufsteiger-Kultur. Die, bei denen das Gute triumphiert. Aber wir sind nicht das Gute! Der Däne Refn und das kanadische Sexsymbol Gosling demontieren sich selbst. Vielleicht gibt es in diesem (in meinem Kopf) immer besser werdenden Film Szenen, die das besser beschreiben, wie der Endkampf, der keiner ist, der eben nicht hollywood'schen Logik des Fallens und Wiederaufstehens folgt (http://www.youtube.com/watch?v=V42UhZsei6k). Aber nichts ist so verrückt, so intensiv, so böse wie dieses Schwiegermutter-Interview. Wir sind die Bösen. Sie hat es uns in die Wiege gelegt. Wir haben es mit der Muttermilch aufgesogen und sind nichts weiter als hilflose Sozialattrappen auf diesem gottverlassenen Planeten. Und für Drehbuchfreunde wie mich: Sie sagt auch beim zweitem Mal "May", dieses grandiose Miststück.




4) Gravity - Die Einsamkeit
Wann immer die klugen Filmemacher dieser Welt ins All gehen, drehen sie ihre Kamera und blicken auf die Erde. Aus großer Entfernung entsteht immer auch große Nähe. Frage: War (dabei) ein Film schon mal existenzieller? War ein Symbol schon mal grundlegender? Haben wir sowas schon mal gesehen? Letzteres kann ich beantworten: Nein, haben wir nicht. Und in den nächsten 10 Jahren werden sich Leute an Filmschulen von Peking bis Buenos Aires an diesem Film abarbeiten. Allein deshalb sollten man ihn (mehrfach) gesehen haben.   



3) Frances Ha - Paris
Was war ich stolz, als der große Noah Baumbach und die große Greta Gerwig sich eine Sequenz ausgedacht haben, die im Kern exakt einer Szene glich, die ich zur Zeit des Kinostarts in München und Internet zum Besten gab (Centre Pompidou). Paris - als Fata Morgana in der Wüste Selbstfindung. Was haben wir in der Großstadt nicht alles verlernt? Und mit was hat sie uns nicht beschenkt? Mit Leidenschaft, mit Wille und Hoffnung. Doch alles was zu helfen scheint, ist diese Pseudo-Erleuchtung namens Eiffelturm. Stürzen wir uns hinunter in die Seine - dann ist der Blick darauf, wo wir hingehören wieder klar. 




2) Spring Break - Britneys "Everytime"
Diese Szene - zeigt alles was Kino kann und was Kino will. Sie lebt, atmet und trieft nach den Grenzüberschreitungen der Kunst. Dieser Film dreht alles durch den großen Joint Popkultur. Anti-subversiv, natürlich im Affekt und so lässig in all seiner Brutalität. Diese Szene ist Rausch - wie sie nur alle paar Jahre einem vor die Augen tritt. Ein Freund von mir benannte mal die Stärke von Harmony Korines Filmen damit, dass "sie vollkommen wertfrei sind". Diese Minuten sind Korines Everest. Tut damit was ihr wollt, ich serviere. Hat das mit uns, unserer Generation, unserem Leben zu tun? Aber Hallo! Schaut in euch und was seht ihr? Britney, Guns & a "fucking sensitive side". It's Spring Break, bitches!
Ich kann es nicht auf der Seite einbetten, also so:  http://www.youtube.com/watch?v=kD8hbg67u5c


1) La Vie D'Adele - Party
Das Aufgehen, wie es die deutsche Sprache so schön benennt, also der Kratzer, den der Moment in uns treibt und dieser süßsaure Prozess des Wiederzusammenwachsens. Diese Frau, zwischen Menschen, ganz bei sich. Die junge Frau und das Meer. Der Pop. Die Bewegung. Das Hier. Das Jetzt. Dieser 3-Stundenfilm ist eine Goldgräber-Stadt, auf Suche nach dem Riss in sich: Beim Essen, Reden, Ficken, Weinen - Tanzen! Eine Essenz meiner Welt zwischen Auswärtsspielen, Alkohol und Menschen mit dicken Brillengläsern. Es war ein gutes Jahr.  



Lobende Erwähnung sollten außerdem erhalten: Die Katze in der New Yorker U-Bahn in Inside Llewyn Davis; die Eröffnungparty in La Grande Ballezza; die Hochzeit in About Time, der abschließende Zusammenbruch Tom Hanks in Captain Philips, die Foxconn-Sequenz in A Touch of Sin; der Hitler-Mickey-Mouse vergleich als auch Sandra Hüllers Österreichweisheiten in Finsterworld; die Eröffnung von Feuchtgebiete; die (1.) Predigt Javier Bardems in To The Wonder; die betrunkene Allison Janney in The Way Way Back; die Eröffnung von Pacific Rim; das letzte Rennen in Rush; der finale Twist in Side Effects, der Mandarin-Kniff in Iron Man 3; das Mutter/Schwiegertochter-Gespräch in Mutter und Sohn; der letzte Besuch beim Pfarrer in Mea Culpa Maxima; der Ritt auf der Rasierklinge in The Place Beyond The Pines; das Backstreet-Finale in This Is The End; Rob Loewes Schönheitstipps in Behind The Candelabra; die Promo-Tour in The Hunger Games II; die anfängliche Einsamkeit Jack Gyllenhaals in Prisoners; die China-Zukunftsversion in Cloud Atlas; Nicole Kidmans Welthass in Stoker; der verseuchte Tümpel in The East; die Gerichtsverhandlung in The Bling Ring; Steve Carell und der Groupie in The Incredible Burt Wonderstone; die Pfannkuchenschlacht in 00 Schneider - Im Wendekreis der Eidechse; das Wiedersehen in The Great Gatsby.    

U.a. (noch) nicht gesehen: The Counselor, Ain't Them Bodies Saints, Oldboy, The Fifth Estate, Zwei Leben, The Act Of Killing, The Lone Ranger, Enough Said, Jung und Schön, The Butler, Touchy Feely, Der Schaum der Tage, usw.  

Und nun nach 2014: Wo Scorsese bereits den den besten Trailer aller Zeiten hinterlegt hat und Jennifer Lawrence schon wieder alles raushaut... Here we go!

Dienstag, 17. Dezember 2013

Call Of Duty

Eine Weihnachtsgeschichte

Der Streit bricht dieses Jahr bereits vor dem Mittagessen aus. Manuela zerschlägt eine Kugel des Christbaumschmucks, was Mutter seufzend kommentiert. Dass sie diese Arbeit ja gar nicht machen müsse, verteidigt sich Manuela, und wo eigentlich Anja sei, die doch helfen wolle. Worauf Mutter sich beklagt, dass alle diese „Familientradition“, als Arbeit empfinden würden. Was Manuela ein wenig zum Weinen bringt. Sie ruft „Druck“ und „Nachteil“ und hadert mit ihrer Rolle als der Ältesten, was im Ausruf „Ich bin nicht alle“ seinen Höhepunkt findet. Nachdem Mutter ihre Entbehrungen für diese Familie aufgezählt hat, knallt eine Tür und ich kann mir dem Eindruck nicht verwehren, dass es auch bei diesem Streit unterschwellig darum geht, dass meine Eltern sie tatsächlich Manuela genannt haben.
Komm mal mit“, sagt meiner Vater und schleift mich mit rudernden Bewegungen hinter sich her.
Och nö“, sage ich und folge ihm.
Doch. Ich will dir was zeigen“, sagt er und macht das Kellerlicht an.
Sag nicht, du hast jetzt 'ne Modelleisenbahn.“
Vater rudert weiter und schlurft die Treppen hinunter. Noch bevor ich durch die Tür seines Arbeitszimmers bin, höre ich das Zischen einer geöffneten Getränkedose. „Da!“, sagt Vater und wartet auf Lob.
Ok. Äh... Ok.“, sage ich und die Pupillen meines Vaters weichen zurück. Ein Bier in der Hand sehe ich mich um. Ein Stapel Sport Bild liegt neben einem Sessel mit dunkelblauem Baumwollüberzug. Die Lehnen sind ausgefranst und zwei aufgerissene Nähte bringen gelben Kunststoff zum Vorschein. Davor steht eine Apparatur aus Mini-Flatscreen, Mini-Boxen und Mini-Bar, davor eine Spielekonsole und Plastikhüllen mit Gewehrläufen, Gasmasken und Nachtsichtgeräten darauf.
Prost!“, ruft Vater, nickt zufrieden und wischt sich die Feuchtigkeit aus dem Mundwinkel.
Prost“, sage ich und kann nicht an mich halten: „Kannst du dir keinen Porsche kaufen, wie die anderen Kinder auch?“
Ach quatsch“, ist Vater trotzig wie so oft in den letzten Jahren: „Ist doch total cool, hier“ und in seiner Betonung des Wortes Cool steckt die ganze Verzweiflung seiner Lebensphase.
Und wenn Mutter dir das Taschengeld kürzt, verziehst du dich hier runter?!“
Oder wenn der FC spielt“, antwortet er, deutet auf dem Pay-TV-Receiver und wir trinken beide: „Hättest du doch bestimmt auch gerne.“
Ich hab nicht mal einen Fernseher, Papa.“
Ja, stimmt“, wird Vater nachdenklich: „Na ja“, sagt er, trinkt noch einen Schluck, stellt die halbvolle Dose in zurück und geht nach oben. Es hatte geklingelt.

Frida stürzt herein. „Bruderherz“, fällt sie mir um den Hals und küsst mich ab. „Ist das ein Knutschfleck?“, fragt sie und tippt auf meiner Brandnarbe am Hals herum, als wäre sie ein Reset-Knopf. Sie macht diesen Witz jedes Mal und ich finde ihn immer noch nicht gut. Sie ist noch dünner als letztes Jahr. Anja rennt über den Flur und fällt Frida um den Hals. Unvermittelt will sie ihre Meinung nach einer bestimmten Website wissen. Vom ganzen Krach angelockt, kommt Manuela die Treppe hinunter. Sie grüßt, während sie das Geländer fest im Griff hat. Frida macht keine Anstalten, den dicken Wintermantel auszuziehen. „Hallo“, ruft nun Mutter mit Anstrengung auf der Zunge und steckt die Hände in die Hüfte. „Und, freut ihr euch schon?“, ist das erste, was sie fragt. Wir nicken höflich.

Nach der Messe haben wir alle unser bestes Elternsprechtag-Grinsen auf und schütteln Hände. „Guck mal, die Junge von den Gilberts ist wieder schwanger.“, flüstert Frida.
Ja, der Vater ist, glaub' ich, in Afghanistan.“, nicke ich.
Anja, pack dein Handy weg. Es ist heiliger Abend“, fordert Mama. Ihr Wisch durch ihre Strähnen verrät ihre Sorge, dass man uns zuhört.
Was hat das damit zu tun? Sind Handys an Weihnachten verboten?“, fragt Anja, wie ich finde, nicht zu unrecht.
Heute ist Familie, morgen kannst du wieder mit deinen Freunden schreiben“, springt Manuela ein. Ihre Kette hat einmal Oma gehört.
Komm, lass uns gehen“, sagt Frida und hackt sich bei mir ein. Wir schlittern nach Hause und treiben Anja vor uns her. Manchmal lacht sie übertrieben laut über etwas in ihrem Display. Aber als wir sie auch beim dritten Versuch nicht fragen, was denn so lustig sei, lässt sie enttäuscht davon ab.
Wie geht’s denn Björn?“, fragt mich Frida.
Weiß ich nicht.“
Wie, du weißt es nicht?“
Ich weiß es nicht.“
Frida überlegt: „Ach komm, nicht wirklich. Schon wieder?“
Schon wieder... “, sage ich und bin mir meiner Schuld bewusst. Der Schnee knarzt unter meinen Schuhen, als würden wir über einen Speicher gehen, der lange nicht mehr betreten wurde.
Wie lange ging es diesmal? 3 Monate? Du musst dein Leben in den Griff kriegen, Mann!“, sagt Frida und boxt mir in die Seite: „Erzählst du Mama und Papa davon?“
Die wissen alles, was sie wissen müssen.“
Willst du sie nicht teilhaben lassen?“
Nein. Ich will nicht nochmal von Papa so angeschaut werden. Ich bin nicht hier, um mich … mitzuteilen.“
Warum sollte wir denn sonst nach Hause kommen?“, fragt Frida. Sie klingt nicht wie jemand, der von seinen eigenen Worten überzeugt ist.
Weiß nicht. Weil es …“
Frida kratzt sich die Nase: „Vielleicht...“
Weil es noch falscher wäre nicht zu kommen“, werfe ich hinterher.
Wärst du denn heute gerne woanders?“
Nein. Aber deswegen muss es mir noch lange nicht gefallen.“ Frida grinst. Ich fahre fort: „Ich muss mich nicht öffnen. Ich bin von hier weg, um mich nicht mehr öffnen zu müssen. “
Du hast ihn nur erschreckt. Welcher Vater nimmt so was einfach auf. Meinst du nicht, es würde sie freuen, für dich da zu sein?“
Sagt meine kleine Schwester, die sich seit Jahren zu Hause nicht traut, ihre Stulpen vom Handgelenk zu nehmen.“
Arsch“ zischt Frida, zieht ihren Arm aus meinem und boxt mich erneut in die Seite. Diesmal tut es weh.

Zur Bescherung läuft Schuberts Ave Maria – weil das schon immer so war. Die Freude über die Geschenke ist von jener Begeisterung dominiert, genau das zu bekommen, was man dem anderen aufgetragen hat, zu besorgen. Niemand weint, es ist ein gutes Jahr.

Zur Suppe gibt es, wie immer, Weißwein, zur Ente, wie immer, Rotwein und zum Eis Obstler, wie immer. Es läuft immer noch Schubert aber er wird mit jedem Glas weniger nervig. Etwa zwischen dem ersten und zweiten Stück Ente ist es Zeit für die Bestandsaufnahme. Manuela berichtet von ihrem Kollegen, der vielleicht etwas wäre. Sie ist befördert worden, ihre Katze war beim Arzt und ihre neue Wohnung sei auch sehr gemütlich mit dem neuen Teppich. Ich wünsche ihr, dass sie irgendwann akzeptiert, dass die Rolle der Ältesten genau richtig für sie ist. Anja erzählt von ihrer verbesserten Deutschnote und von Mirko, der offensichtlich ein Arschloch ist.
Soll ich ihn verprügeln?“ frage ich. Anja nickt.
Frida kratzt sich am Ohr und stottert Worte wie „Relaunch“ und „Projektkoordination“, und das mit diesem Lächeln, das ihr schon so viele Türen geöffnet und so viele Probleme gemacht hat.
Ich freue mich, dass es meinen Kindern so gut geht“, ruft Mutter, und stemmt die Hände in die Hüfte.
Unseren Kindern“, sagt Vater und grinst.
Unseren Kindern, jaja.“. Sie stoßen an und mir wird bewusst, wie lange ich nicht mehr hier war.
Mein Blick fällt auf Fridas Handgelenk, das sie sich kratzt. Ich mache mit und kratzte mich spiegelverkehrt. Frida sieht das und kann zu meinen Glück darüber lachen. Anja fällt die Gabel auf den Boden, wofür sie von Manuela einen bösen Blick erhält. Ich knöpfe mein Hemd auf.

Weit nach Mitternacht, die Damen sind längst im Bett, sitzen Vater und ich im Keller und spielen Krieg. Er sagt „zocken“ dazu und selbst das ist mir zu dieser Uhrzeit egal. Als der Ladebalken eines neuen Levels blinkt, frage ich: „Wie geht’s denn dir?“, und merke, dass ich diese Frage beim letzten Mal hier unten hätte stellen sollen.
Vater knurrt und bricht auf der Flanke mit seinem Panzer durch. „Du musst auf den Radar gucken, wenn du unter Beschuss genommen wirst“. Ich falle und lasse den Controller in meinen Schoss sinken. Vater beendet das Level. Ich schaue ihm dabei zu.
Uns geht’s gut“, sagt er unvermittelt, ohne vom Bildschirm aufzublicken: „Es war ein ruhiges Jahr.“
Das mag wohl sein“, sage ich.
Doch. Ich finde uns geht’s gut.“
Ok.“, nimmt meine Stimme eine Abwehrhaltung ein: „Findest du nicht, dass wir uns zu wenig kennen?“ Ich bin überrascht, wie intuitiv ich die Frage stelle.
Geht“, sagt er und schnieft: „Versteh mich nicht falsch, mich interessiert was ihr treibt. Aber ich finde das zu viel verlangt. Familien müssen sich nicht verstehen oder kennen. Familie muss nur da sein. Keine Ahnung, es ist Weihnachten, alle sind ganz zufrieden, alle sind gesund. Findest du nicht?“
Was finde ich nicht?“,
Gehts uns nicht gut? Die Ente heute, die war doch gut.“
Ich denke an Manuela und ihre Halskette, an Frida und ihre Stulpen, an Mama und ihre Schürze.
Vielleicht“, sage ich und folge Vater in ein Sumpfgebiet.      

Montag, 28. Oktober 2013

Centre Pompidou

Meine Hüfte vibriert. Aber heute bin ich raus.
Nein. Nur zwei. Es gibt genau zwei Arten, auf die ein Witz gelingen kann. Wenn er überhaupt gelingt“, sagt Helene und kratzt sich an der nackten Wade, die sie mitsamt ihren Füßen aufs Armaturenbrett gelegt hat: „Beim ersten Mal und beim hundertsten Mal.“ Ihr Rock ist etwas in den Sitz gekrochen und der Blick auf ihr Muttermal freigegeben. Es scheint sie nicht zu stören. Manchmal möchte ich sie darauf ansprechen, wie sie mit ihrem Körper umgeht oder erzählen, dass er mir fast Angst macht. Aber wir sind nicht so weit, so intim. Ich kann meiner Assoziation eines überfürsorglichen Opas oder Onkels nicht nachgehen. Ich kann sie nicht fragen.

Und beim hundertundersten Mal?“, frage ich und bin froh, dass ich dabei den Blinker setzen muss. Es verleiht meiner Frage eine gewisse Lässigkeit.
Wer erzählt schon Witze 101 Mal?“, fragt Helene, und weil wir beide dazu nur nicken und gespielt nachdenklich in die Ferne schweifen, schaffen wir einen fast witzigen Moment.
Helene dreht über die Wählscheibe meines Ipods, welcher ans Radio angeschlossen ist. Das dazugehörige Rattern knistert durch die Boxen und füllt den Wagen mit einer Art digitalen Meditation. Die Mittagssonne spiegelt sich im Display des Players. „Ah, Studentenpogo“, sagt sie und eine Gitarre beginnt zu hüpfen. We're the people / the happy with the broken hearts / the ones who draw a picture and proclaim that it's art. Ich lasse das Fenster noch etwas weiter herunter. Die Kurbel ist mir das Liebste in meinem Auto. Wie ein Überbleibsel aus meiner Kindheit; ich neben meiner Mutter, die mich zum Einkaufen mitnimmt. Ich darf Kekse aussuchen und auf dem Rückweg fragt sie mich, warum ich diesen oder jenen Popstar so mag. Zum Kurbeln habe ich beide Hände gebraucht, das Machen war noch schwer, das Denken einfach.

Hast du dein kleines Schwarzes dabei?“, frage ich und deute auf das vor uns liegende Straßenschild, das uns den Weg nach Baden-Baden weisen will.
Jaaa“, sagt Helene und es liegt ein Triumph in ihrer Stimme, den ich weder entschlüsseln noch erklären kann. Das wird mir zu heiß. Plötzlich ist alles nicht mehr aufregend sondern gefährlich und ich lasse mein eigens installiertes Thema schnell wieder versanden. Casinos sind ja doch nur was für Pauschaltouristen und Telekomaktionäre, durchzuckt es mich. Das Navi spricht von noch etwa 500 Kilometern.
Du meinst das Kleid, dass ich letzten Sommer am Gärtnerplatz getragen hab'?“, fragt Helene vorsichtig aber hörbar geschmeichelt. Ihre Hand fährt flüchtig über meine Schulter.
Möglich“, sage ich.
Was für ein Abend!“, sagt Helene: „Du warst so süß, meine Fresse. Und ich mochte dein Hemd. Du sahst so gut aus. Understatementaufreißer, ich sags dir.“
Mein Blick fällt in den Rückspiegel. Ein Mercedes will vorbei, ich mache Platz. Dem Das-wurde-aber-auch-Zeit-Blick des Fahrers setze ich ein Grinsen und Winken entgegen, das provokant sein soll. Der CLK zieht davon.
Schon komisch“, sagt Helene.
Was?“
Na ja, der Abend.“
Wieso?“
Ach, weiß auch nicht.“

Helene war letzten Sommer noch mit Michael aus ihrer Band zusammen, der diese kurze Zeit später verließ. Nachdem Helene ihn verlassen hatte. Am Gärtnerplatz trug sie eine Fußkette zu ihren Ballarinas und als ich fragte, möglichst verträumt klingend, was ihr Tattoo über ihrem Knöchel bedeute, sagte sie nur: „Liebe“, und hat gelacht. Später hat sie mich aufgeklärt. Das Tattoo sei eine „Urlaubseuphorieschwachsinnigkeit“ sowie ihr chinesisches Sternzeichen. „Im Zeichen der Ratte Geborene sind kreativ“, hat sie dann ihr Smartphone zitiert: „spontan und offen für alles Neue. Ihr Enthusiasmus lässt sie viele Dinge in Gang setzen, doch ihr mangelndes Durchhaltevermögen fördert nicht unbedingt das Beenden des Begonnenen.“ Außerdem erinnere es sie an ihre Jugend. Es wäre eine „Ode an die Fehlbarkeit“. Sie müsse nicht damit leben, sie „dürfe es“. Dann hat sie wieder gelacht und wir unterhielten uns über Musik, ein bisschen über Filme und noch mehr Musik. Sie nannte ein paar betrunkene Teenager neben uns ein „Untervögeltgeschwader“ und immer wieder hat sie mir dabei ihre Hand auf meine Brust gelegt, wie eine Krankenschwester, der man vertraut, weil man bereits länger ihr Patient ist. Und als sie Zigaretten drehte, hat sie mir die erste angeboten, ohne zu wissen, ob ich rauche. Ich griff dankend zu, sie drehte die nächste.

Die Sonne steht immer noch hoch. Helene hat eins meiner T-Shirts von der Rückbank genommen und es sich zwischen Fensterscheibe und Wange gelegt. Ihre Sonnenbrille rutscht zur Schläfe hinauf und ich sehe, wie es unter ihren Lidern hervor zuckt. Ich suche einen geeigneten Song für diesen Anblick, für all das hier. Nach ein paar Klicks nehme ich den Daumen von der Taste. I strain my eyes / To tell the difference between shooting stars and satellites / From the passenger seat as you are driving me home.

Wir sind auf der Höhe von Verdun als Helene unvermittelt beginnt mitzuflüstern: „Do they collide? / I ask and you smile. / With my feet on the dash / The world doesn't matter“ und keiner von uns macht den Fehler, irgendetwas auszusprechen. Ich habe meinen Ellenbogen auf die Seitentür gestützt. Meine Hand ist in meiner Frisur vergraben und ich traue mich nicht, hinüber zu schauen. Aus Angst etwas zu zerstören. Ich wünsche mir ein schwarzes Loch, das uns mitnimmt – und nie wieder ziehen lässt. Ich hoffe auf einen Mammutbaum auf dem Mittelstreifen. Bis in alle Ewigkeit, jetzt! Das einzige was ich noch mehr will – dass Helene sich dasselbe wünscht.

Fast unbemerkt legt sich die Stadt vor unsere Füße. Noch während ich abfahre, fällt mein Blick durchs Lenkrad: 19:16 Uhr. Links folgt uns die Seine in ihrer ganzen warmen Kälte, wie ein Interpol-Song. Dann nach rechts, auf den Boulevard de la Bastille. Auf dem Parkplatz kehrt Helene ins Auto zurück. Sie streckt sich, grinst burschikos in meine Richtung und nimmt ihre Füße vom Armaturenbrett. „Danke“ sagte sie: „Wirklich. Danke dir, Cowboy.“ Was immer sie damit meint.
Gerne“, sage ich und mache den Motor aus: „Und jetzt?“
Jetzt steigen wir aus“, sagt sie. Ihre Stimme hat jene sonore Gequältheit, kurz nach dem Aufwachen. Und noch bevor irgendetwas anderes passieren kann, fällt die Tür zurück in die Karosserie. Ich ziehe hastig meine Schuhe an, stopfe den Ipod ins Handschuhfach und laufe ihr hinterher. Fast vergesse ich abzuschließen.
Auf der Piazza Beaubourg angekommen, falle ich auf den Fuß einer Staue: zwei mir unbekannte Gestalten in der Diagonalen. Einer stößt die Glatze in den Torso des anderen, der davon zu Boden geht. Was ist das? Mit dem Kopf durch die Brust? Sich die homosexuellen Hörner abstoßen? Ich bin müde. Die Fahrt steckt mir in den Gliedern – oder aber die Ankunft. „Warst du schon mal hier?“, fragt Helene, hüpft leicht auf und ab und fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Ich schüttle den Kopf.
Ich auch nicht“, sagt sie und schaut umher. Es vergehen ein paar Minuten, in denen sie beginnt, sichtlich inspiriert von alldem hier, von einem Film zu erzählen. Ich kenne ihn nicht, es geht um einen Alkoholiker und eine Blinde und über Liebe und diese Stadt und Sehnsucht und es gibt Feuerwerk und er sei sehr schön. „Und David Bowie hat den Soundtra ... da!“, unterbricht Helene sich selbst und dreht ihre Schultern zur Mitte des Platzes: „Marco!“, kreischt sie und läuft los.
Er hat sich seinen Helm auf den Arm gespießt, kann ihn aber dank seiner Körpergröße trotzdem noch entschlossen in ihren Nacken legen. Ich blicke auf die zwei Wesen über mir und wieder zurück, sehe wie er sie zielsicher an der Hüfte packt und ihr etwas ins Ohr sabbert. Helene biegt sich an ihm entlang. Meine Schnürsenkel sind immer noch offen. Zurück am Auto nehme ich meine Kopfhörer von der Rückbank und gehe. Den Abend nutzen.

Hoch oben über der Stadt ist mein Blick genauso distanziert von allem wie übersichtlich. Niemand erzählt Witze. Niemand lacht.  

Montag, 7. Oktober 2013

Das ironische Leben im Richtigen

Eine Literdose Faxe! Für jeden! Philip hatte vorgesorgt. Dazu alles was die Freundschaft braucht: Einen VW Lupo, gesammelte Frauengeschichten des abgelaufenen Semesters und Simpsons-Zitate. Unterlegt von einem Kassettendeck, das die Schönheit der Erwartung beschwört. Ein Konzertbesuch.
Heute füllen Royal Republic die großen Hallen, damals, vor ein paar Jahren – und dies findet hier nicht ohne Stolz seine Erwähnung – nicht. 126 Mann sind da, aufgerundet. Das tut den Songs keinen Abbruch und, wie es sich für schwedische Poserbands mit Holzfäller-Bartwuchs gehört, der Darbietung ebenso wenig. I can see your Underwear, from down here, röhrt es. Niveau ist, was man draus macht. Die Geschichte des Rock'n'Roll handelt nicht von Selbstkontrolle. Also auf den Zug aufgesprungen, dessen lebensbejahendes Vorbeirauschen Mädchen mit weißen Stiefeln gerne mit heraufgezogenen Augenbraun quittieren.

Es ist Zeit für schlechte Witze: „Play Summer Of 69!“ ist meine lautstarke Ansage in die Ansage des Gitarristen hinein. Weil ich in der dritten von drei Reihen stehe, kommt die Botschaft an. Ein müdes Lächeln, nächster Song. Das Spiel wiederholen wir zwei noch ein paar mal, bis es schließlich heißt: Ok, this goes out to the annoying guy over there! So you can shut up! Dann akkordunterlegt: I got my first real six-string / Bought it at the five-and-dime / Played it 'till my fingers bled / Was the summer of 69. In einem Wort: Wooooowooooo! Ironie war nie ehrlicher. Und fand die hübsche Brünette mit Piratenohrringen das nicht gerade witzig?! Nein, fand sie nicht. Aber Philip lacht. Und wir beide merken – die guten Abende sind jene, an denen die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum in einem Liter Faxe verwischt.

Mittwoch, 14. August 2013

Heimat!


You can't fuck with me, I'm from Bielefeld“. Die damit gezierte Wand beschließt ein verwahrlostes Bahnhofsgebäude. Direkt gegenüber meiner Grundschule am südlichen Rand dieser, meiner Geburtsstadt. Diese Semiurbanität, aus der ich mehr geflohen als gezogen bin, wo man Hochdeutsch kann, aber nicht damit prahlt, wo man zum Lachen in den Keller geht, außer man lacht über sich selbst.
Der HSV ist Gast auf der Alm. Die Sonne scheint zurückhaltend, genügsam an diesem Samstagnachmittag Ende August. Die Spielzeit 2008/09 ist noch jung. Nach zwei Unentschieden weiß man noch nicht, wo man steht. Obwohl man das als Bielefelder eigentlich immer weiß: unten.
Doch nach einer guten halben Stunde führen die Heimfarben mit 2:0. Kein Grund zur Beunruhigung. Verlieren tut wir noch früh genug. Kurz vor und kurz nach der Pause erzielt der Ex-Armine Reinhardt den Ausgleich, später trifft Olic und abschließend – als ob es nicht schon demütigend genug wäre – vollendet auch noch Fußball-Mephisto David Jarolim persönlich zum 2:4 Endstand. Es ist ein Treppenwitz in dieser Stadt, dass gegen Arminia immer die X-beinigen und Gesichtselfmeter treffen. Es ist eines dieser Spiele, nach denen man sich immer auf der Alm zueinander umdreht und in souveräner Melancholie nickt: „Hab ich doch gesagt!“ Aber es ist ein gutes Spiel. Ein paar eigene Großchancen und Aluminium-Treffer später hallt es die Ränge hinunter: „Niemand erobert den Teutoburger Wald!“ Das Rund steht. „Es gibt nur eine Arminia!“ Stolz aus 20.000 Kehlen. Man beklatscht einander. „Niemand! Erobert! Den Teutoburger Wald!“, in der kollektiven Fähigkeit zwischen Ergebnis und Leistung zu unterscheiden. Frei von Ironie, frei von Scham. In Köln oder auf Schalke wären sie nach so einem Spiel sofort ihrer missmutigen Wege gegangen. In Stuttgart, Frankfurt oder Berlin hätten sie den Mannschaftsbus blockiert. In München hätten sie ein solches Spiel erst gar nicht verloren. Aber nicht hier, in diesem von den Römern nie kultivierten Stück schönster Belanglosigkeit. Hier verliert man, aber mit Anstand, mit Rückgrat, mit Würde.
Dostojewski hat mal gesagt: „Ohne Heimat sein heißt Leiden“. Diese Niederlage, dieser tiefe, ehrliche Stolz, dieses Gefühl von Zugehörigkeit, diese Ehre, diese Gänsehaut, diese kollektive Größe, diese fünf Minuten nach Abpfiff, dieser Moment Heimat, ich möchte ihn nicht missen, für keinen Sieg der Welt.



Dienstag, 30. Juli 2013

Du nennst es Pathos, ich nenn' es Goethe

Leipzig 2013: 
Die Frage nach Bedeutsamkeit ist immer schon vom Absender beantwortet, sobald er sie stellt.  


Kyle ist auf den Kopf gefallen. Weil aber seine Eltern einen Atlantik weit weg sind, sitze ich mit ihm in der Notaufname. Die Nacht-Schwester ist mit der Versicherungssituation überfordert und lässt es an uns aus. Weil Kyle aber aus gutem Hause kommt – und wohl immer noch etwas benebelt ist – und ich finde, dass man manche Menschen mit Freundlichkeit strafen muss, nicken wir nur und ich deute gewissenhaft und wiederholt auf die Rechnungsadresse auf dem Wisch zwischen uns. Dann geht die Frau in weiß und wir verschränken die Arme und lehnen unsere Hinterköpfe an die Wand. Die Ruhe des Linoleum-besetzen Flurs kriecht in unsere Stimmlagen.
Kyle ist begeistert von deutschen Krankenhäusern, fast so sehr wie von der hiesigen Mülltrennung, den Shuttlebussen am Flughafen, dem Fehlen dicker Menschen und, ja, auch deutscher Musik. Ich verziehe das Gesicht: „Rammstein?“ „Nein, die Atzen... Discopogo“. Ich lache verlegen, weil mir das ganze genauso peinlich ist wie ich diese Antwort mag. Nachhaltiges Abspacken – eine schöne Kombination, ein schönes Deutschlandbild. Mehr aus einem Reflex heraus, empfehle ich Deichkind und Spider Murphy Gang und frage Kyle nach seiner heimischen Musik. Er erzählt von Country und dessen Huldigung des Nichtstuns und daran anschließend berichtet er von seinem Sommerjob auf der Farm seines Onkels in Virginia. Irgendwann kommt die Schwester zurück, nimmt ihn und seinen Verdacht auf eine Gehirnerschütterung mit und ich fahre zurück in die Sportschule.

Klischees sind kein realer Zustand, sie sind allenfalls eine Wertung. In dem Moment, wo aus der Wertung ein Zustand werden könnte, implodiert dieser und hinterlässt nichts als Erleichterung. Weswegen man selbst ja auch nie Stereotyp sondern immer die Ausnahme ist.
Ein Deutscher und ein Amerikaner sitzen also nachts um 1 Uhr auf Plastikschalen, reden über Mülltrennung, Musik und ihre Sportvereine. Das ist kein Klischee. Wenn, dann ist das romantisch und schön, fein und übergroß, Smalltalk und doch Verständigung. Die alte Geschichte von den Tönen und der Musik, die sie machen. Welcome to Goethe – where the global village is just around the corner!

Es braucht etwas Verklärung und Naivität – auch ein paar Alt-68er-Eltern zu haben, schadet sicher nicht, um dem Ganzen in edler Geste seine Medaille der Bedeutsamkeit um den Hals zu legen. Dann erhebt sich Erlebnis, wo eigentlich auch nur Fakten stehen könnten: 52 Teenager mit reichen Eltern aus 20+ Ländern, für drei Wochen in Deutschland um, offiziell, deutsch zu lernen und, inoffiziell, sich heimlich mit der Sommerliebe eine Flasche Barcadi Breezer zu teilen und/oder auf dem Fußballplatz heimatliche Beleidigungen und anschließend Mailadressen auszutauschen. In einem Wort: Urlaub. Ich selbst, dazwischen, eine Hybridfigur aus Animateur, Möchtegern-Autorität und Beobachter. Letzte Rolle ist mein Privatvergnügen. Und was ich sehe, es sind Klischees.
Die Spanier bekommen alle erst um 23 Uhr Hunger, die Griechen sind gemütlich, die Amerikaner offenbaren wenig Selbstzweifel, die Briten haben Etikette (und können keine Elfmeter schießen), die Russen brauchen die erste Woche, um ihr Lächeln zu finden und der Italiener kann sie, irgendwie, alle haben. Wenn Edouard (von allen nur „la parisienne“ gerufen) ausrutscht oder vor eine Tür rennt, ruft er „Vive La France!“ und stolziert weiter. Otto Sakaguchi füllt seinen Namen mit noch mehr Originalität, indem er anfangs im Deutschland-Trikot über die Flure rennt und „Jaaapaaan!“ ruft. Später bekommt er Heimweh, doch seine Höflichkeit verbietet es ihm, dergleichen zu kommunizieren. Nur nach dem gewonnenen Finalspiel glänzen seine Augen.
Jetzt zu sagen, dass Fußball diese universelle Weltsprache über all dem hier ist, liegt nah. Aber, letztlich trifft es das nicht ganz. Sprache sorgt für Verständigung, für Verständnis. Sprache führt zusammen. Doch der Fußball ist einen Schritt weiter. Er nutzt die Zusammenführung. Ein in sich geschlossener Raum, in dem eigene Regeln gelten, und der genau aus diesem Grund ein Versuchslabor, ja eine Spielwiese für all die Dinge da draußen ist. So wie Goethe insgesamt. Und wenn dann der Norweger den Ukrainer anmault, er möge doch schneller spielen, oder der Kasache dem Mexikaner auflegt, ist sich für einen kurzen Moment niemand darüber bewusst. Und weil eben niemanden derlei auffällt, weil es eben niemand interessiert, kann ich in alldem Bedeutsamkeit finden. (Nur um sie dann wieder aufs Rationale runterzubrechen, in der hämpfligen Hoffnung, sie dadurch nicht auszuhöhlen). Du nennst es Pathos, ich nenne es Sommerjob.

Am letzten Tag kommt Yiran („Tiger“) aus Peking ins Büro und dankt mir, dass ich „sein Spiel verbessert hätte“ - und jedes Klischee des strebsamen, ergebnisorientierten Chinesen löst sich auf und wird in mir zu einer kleinen, reinen Insel der Rührung. „Gern geschehen, hat Spaß gemacht“ stammle ich verunsichert, ob solcher Worte und dann ist Yiran aus der Tür und der Kurs ist aus.

Alle sind weg. Tegel liegt in meinem Rücken. Der Himmel hat das gleiche Blau wie die Energydose in meiner Hand, die bei konstanter Fahrt graziös auf meinem Oberschenkel liegt. Jedem Klischee seinen Frieden, denke ich und drehe das Radio lauter. Jedem Frieden seine Naivität. Jeder Naivität ihren Schutzraum. Jedem Schutzraum seine Wirkung. Jeder Wirkung seine Zeit. Jeder Zeit ihre Verklärung. Jeder Verklärung ihre Wahrheit. Jeder Wahrheit ihre Schönheit. 

Freitag, 14. Juni 2013

Jahrgang 2002

Wie der Schmerz im Magen, das schwere Atmen nach dem Schlag, damals, an der Bushaltestelle. Was hab ich ihm die Fresse poliert. Was hab ich Stefan die Nase versenkt, diesem Minderwertigkeitsmagneten. Ohne Kontrolle, ohne Maß, ohne jede Regung außer meiner Gliedmaßen war ich ihm ins Selbstbewusstsein gestiegen. Während er überheblich in die Messer meiner Verzweiflung gelaufen war. Ich schleppte mich nach Hause, frei und fertig. Und dann, im Bett, dieser Tagtraum, diese Vorstellung, in meinem adrenalinüberschwemmten Bewusstsein: In Gedanken ging ich zu ihr, hielt ihr dramatisch die Stirn hin, die ich zuvor noch geboten hatte. „Du solltest den anderen sehen", klang ich so beiläufig wie möglich und sie, Ricarda, ließ mich herein. Sie machte mir Tee. Sie hörte mir zu und irgendwann haben wir darüber gelacht, was für ein Idiot ich bin.
Blut tropfte behäbig von meinem Knie ins Bettlacken. Das Salz meiner Euphorie. Einmal nicht Opfer gewesen. Einmal das weinerliche „bitte beachtet mich“ in meinem Kopf gegen das „Seht mich an!“ eines Feldherren getauscht. Gutes Gefühl, gute Vorstellung. Gute 8 Stunden, gutes Aufwachen. Ehe Janine vom Nachbartisch plötzlich, irgendwann in Mathe, herüber spuckte, wie unfair ich doch gekämpft hätte. Zum Beweis lagen ein paar von Stefans Haaren auf dem Tisch. Er schaute nicht hinüber. Ich war, wie so oft, zwar der Sieger, aber nicht der Gewinner. Das Urteil über mich war mit ihm zusammen in den Dreck gefallen.

Ich parke meinen Seat an der zum Eingang am weitesten entfernten Stelle. Es muss niemand sehen, was für ein Auto ich fahre und zusätzlich will ich noch etwas Ruhe in der Bewegung finden, ehe ich ankomme. Ich kontrolliere noch einmal meine Erscheinung in der Reflexion der Autotür, streiche ein paar Haare über meine Geheimratsecken und drehe mich mit Seriosität und sauber geknicktem Kragen zur Vorhalle. Es ist nasskalt. Mein Atem läuft mir die Wangen hinunter. Der Schnee der letzten Tage hat sich in Wasser zurückverwandelt oder hängt sich als tropfender Matsch an meine Fersen. Ein paar Lichter ziehen mit mir über den Asphalt, als ob sie nichts besseres zu tun haben.
Die Offenbarung ist nah. Ich habe alles dabei, mein Aussehen, mein Selbstbewusstsein – meine ehrfürchtige Aura, die mir die Großstadt in ihren anonymen Stunden der Einsamkeit angelegt hat. Ich bin nicht eitel, ich fordere nur meinen Anteil ein. Die letzten Jahre, die Umzüge und Kompromisse, die Hast nach dem Ideal und die Opfer auf dem Weg zum Olymp, mit dem heutigen Tag werden sie entlohnt sein.

Vor dem Gebäude stehen zwei und frieren. Ich habe vergessen, wie sie heißen, erkenne aber ihre Gesichter und grüße mit einem Nicken. Einer war in meinem Bio-Kurs und hatte immer T-Shirts an, die ich nicht verstand. Der Andere war, egal.
Mit dem Öffnen der Schiebetür löse ich den Knopf an meinem Mantel und ziehe den Schal in geübtem Tempo aus seiner eigenen Schlaufe. Doch es fehlt das Publikum. Einzig Esther sieht mich, die Tochter unserer damaligen Schulsekretärin. Immer noch auf der Suche nach Bestätigung im Erstellen von Anwesenheitslisten. Sie hat die Arme hinter dem Bund ihres Rocks verschränkt, bis sie mir diese bei meinem Anblick einem Lasso ähnlich entgegen wirft: „Richard!“ ruft sie mir zu, als ob sie damit angeben will, dass sie meinen Namen kennt. Nochmal: „Richard Quackernack. Schön, dass du da bist.“ Ich höre, dass sie diesen Satz noch übt. Er sitzt noch nicht. Esther wurde mit 5 Jahren eingeschult und hat die 3. Klasse übersprungen. Das merkt man bis heute.

Ja, schön, dass das heute stattfindet“, sage ich mit dem Grinsen eines Hotelportiers und gönne mir einen ersten Blick in die Halle. Seit dem Abi-Ball hat sich wenig geändert. Ein Dutzend rautenförmiger Säulen strukturiert immer noch den Raum, der sich im hinteren Drittel etwas öffnet und an seinen Flanken eine Bar und ein kleines Podium zulässt. „Wo kann ich denn meine Sachen abgeben, hier?“, frage ich und hoffe auf eine Verneinung.
Du kannst dich gleich hier ausziehen“, grinst Esther und legt die Hände auf ihre Hüften. Sie sieht etwas besser aus als früher. Nur ihr Gesicht ist weiterhin so makellos wie langweilig. „Ok“, sage ich und versuche hinter der Garderobe bekannte Gesichter zu erspähen. Doch es ist noch spärlich gefüllt und die wenigen Anwesenden kenne ich nicht oder aber sie interessieren mich nicht. Sie stehen in kleinen Gruppen zusammen und sehen aus, wie, ja wie Hiergebliebene. Wie Zerrspiegel meines Argwohns. Wie jene, die sich jede Woche sehen, beim Bäcker, beim Fitness und demnächst beim Musikvorspiel der Kleinen. Nur diesmal tragen sie andere Schuhe dazu und beglückwünschen sich zu ihrem Erscheinungsbild. Dann reden sie über den neuen Italiener am Bahnhof oder das Fernsehprogramm am Donnerstagabend. Sie sehen aus wie jene, die jetzt bald ihr Referendariat beendet haben und überlegen, ob es mal etwas 'neues' sein soll, im Nachbarviertel. Ich verachte ihren Lebensstil. Ihren Lebenslauf, von der Schule, über Mallorca, in die Schule. Sie haben keine Fragen. Sie lachen über alles, was ihnen keine Angst macht. Sie haben noch nie ihren Atem bemerkt. Vor ihnen bin ich geflüchtet. Vor ihrer dauerhaften Ironie, die sich vor Leidenschaft und Bekenntnis fürchtet. Vor ihrer Ödnis, die sie selbst Ruhe nennen. Vor ihrer Seligkeit, die ihnen den Zugang zu etwas höherem versperrt, die ihnen ihren Verstand verkleistert. Nur raus aus dieser Stadt. Zwar groß genug, um dem Edeka-Parkplatz zu entgehen, aber eben auch ohne Untertitel im Kino. Mittelmaß in seiner primitivsten Erscheinung. Die ersten zwanzig Jahre, sie waren der Apparativ des Lebens, gegessen wird zu Hause. Und Home is where your art is. Ich bin auserwählt, ja verdammt, ich bin. Meine Leiden werden sich umkehren, werden zu Treib-, nein Kraftstoff werden. Dieser Schmerz in meinem Magen, er wird ein Bauchgefühl werden. Ein Instinkt. Die Zeit der Opfer ist vorbei. Ich werde siegen. Ich trage etwas in mir. Ich kann. Ich will. Ich muss! Und ich bin heute hier, um zu zeigen, dass ich Recht habe. Das letzte Lachen, es ist laut, es dreckig – es gehört mir.

An der Bar gibt es Bier. Ich nenne es bei der Bestellung versehentlich „Helles“ und bekomme dafür ein Pils und einen schiefen Blick. Das Glas läuft spitz zu, trägt einen Papierring am Fuß und hält sich schlecht. So ungewohnt. Es lacht mich aus. Es sagt, dass ich nicht von hier bin. Ich bin geflohen, aus dem nun beschmutzten Nest. Alle, das Glas, die Hinterbliebenen, sie schauen mir auf den Rücken, mustern mich und flüstern: Er hält sich für was besseres. Dazugehören ist immer noch genauso wichtig wie unergründlich. Die Worte sind zuweilen neu, sagen aber das gleiche wie immer. Die Ansichten sind etwas aufgebrochen, die Witze klingen feiner, sind es aber nicht. Die Frauen sind selbstbewusster. Manche Jedenfalls. Und alles was ich gegen diese Spirale machen kann, ist diese Rolle anzunehmen. Dieses Anderssein mit Erfolg zu füllen. Ich halte mich nicht für etwas besseres, das wäre arrogant. Ich bin etwas besseres, das ist selbstbewusst. Ich bin kreativ, ich denke, ich fühle, ich stehe auf Bühnen. Ich mache etwas aus meinem Leben. Mein Name steht in Zeitungen. Ricarda fehlt.
Hey“, tippt es mir zärtlich auf die Schulter. Ich drehe mich um, erleichtert, dass mich jemand aus meinen Gedanken reißt. „Selber Hey“, erblicke ich Laura: „Du? Hier?“, frage ich und nestle verlegen ich an meinem Gürtel. Weitere Schwachsinnigkeiten kann ich mir verkneifen.
Wie geht’s dir?“, fragt sie.
Joa...,“ sage ich und hebe mit Unterstatement und einem leichten Augenrollen meine
Schultern: „Und selbst?“
Ich glaube, wenn es mir nicht gut gehen würde, wäre ich nicht hier.“, sagt Laura. Ich gucke fragend. Sie:„Naja, mein Haus, mein Auto, mein Boot... du weißt schon.“
Mhm.“, erhebe ich mein Kinn: „Aber warum kauft man sonst sein Boot?“ Ich weiß nicht, mit wie viel Ernst ich diese Frage stelle.
Warum kauft man überhaupt Boote?“ Lauras Lächeln ist warm, ohne dabei ihren Satz auszuhöhlen. Sie trägt Ausschnitt, das hat sie früher nie getan. Überhaupt, ihre Haare sind kürzer und stufig geschnitten. Außerdem hat sie zugenommen und den Körper eines Mädchens gegen den einer Frau eingetauscht. Nur die lila Strähne, die an ihrer linken Wange entlang fällt, ist noch da. Beständigkeit als Reifeprozess. „Du siehst toll aus“, sage ich und bemühe mich, ihr dabei nicht auf die Brüste zu schauen.
Danke“, antwortet sie und fixiert mich. Ich glaube, man hat ihr wehgetan, sehr. Sie glaubt es nicht. Sie glaubt überhaupt nicht mehr viel. Ich möchte sie in den Arm nehmen und merke, dass ich sogar in meiner Fantasie dafür der Falsche bin. Ich will mich entschuldigen. Aber es ist vorbei, bevor es eine Chance hatte zu beginnen. Ich habe diese Chance immer abgelehnt.

Ein Pils später lacht Laura einen Lehrer an, der etwas von einer Kursfahrt erzählt. Ricarda fehlt. Jana, die dumme Handballerin mit viel zu großen Oberarmen sehe ich. Caroline, die natürlich von allen nur Caro oder Line gerufen wird, sehe ich. Steht da Carpe Diem in ihrem Nacken? Langsam wird es voller und die Musik wechselt. Ein 17jähriger hinter einem Apple, der in seinem Flanellhemd so aussieht, wie man sich außerhalb von Berlin Berlin vorstellt, wechselt in den Elektro. Ich nehme mein Bier und trage es wie eine Urne vor mir durch den Raum, auf der Suche nach einem Anschluss, einem Eindruck, einer Idee von diesem Abend.

Vor der Toilette, die ich vor allem besuche, um in Bewegung zu bleiben, finde ich Tim und Mirko. Sie haben keine Ahnung von Fußball, reden aber trotzdem drüber. Ich steige ein, verliere mich und taumle mit verschränkten Armen und steilen Thesen in die Zeit.
Bis ich plötzlich Stefan im Zentrum einer lauthals prustenden Gruppe sehe. Bauarbeitergelächter. An seinem Arm hängt eine Frau. Blond, winzige Nase, viel jünger als er, nicht unser Jahrgang. Ohne eine Vertröstung an Tim und Mirko zieht es mich in seine Richtung. Die linke Hand in der Hose, das Sakko elegant über das Gelenk gelegt, das mittlerweile wieder einmal leere Bier in der rechten. Jetzt gilt's. Nur wir zwei und alles was uns hierher geführt hat.
Tach“, sage ich und reiche gönnerhaft jedem einzelnen der Runde die Hand. Stefan grüßt zurück: „Was machst du denn hier? Wohnst du jetzt nicht irgendwo im Süden?“ Seine Krawatte ist bordeauxrot, sein Hemd schwarz. Er trägt eine Uhr, die entweder verdammt teuer ist oder nur danach aussieht. Ich kenne den Unterschied nicht. Aber ich weiß, wie man Menschen im Unklaren lässt, wie man sich ihre Wertschätzung erschleicht, die auf der Kraft des Mysteriösen fußt. Derlei bringt einem die Szene bei und ich lege einen trägen Blick an, der sowohl Jubel wie Ekel bedeuten könnte.
Ja, dafür sind solche Abende doch da, nicht?“, sage ich: „Ich war eh beruflich in der Nähe.“ Der zweiten Teil ist erfunden.
Ja, schön.“, sagt Stefan: „Was machst du denn jetzt?“
Ich installiere. Also, ich, ja, ich bin Künstler.“ Ich will einen Schluck nehmen, aber das Glas ist immer noch leer. Ich führe es trotzdem zum Mund, die Handfläche als Sichtschutz um den Boden des Gefäßes gelegt. Ich hasse das Wort 'Künstler'.
Ah, cool“, bringt Stefan ohne jede Tiefe in seinen Worten hervor. Er windet sich: „Und was verdient man da so?“ Es ist die Frage, die ich nur von Leuten gestellt bekomme, die damit nichts zu tun haben, wie meine Oma oder mein nicht vorhandener Steuerberater: „Genug. Also, die Zahlungen schwanken, aber ich brauche keine anderen Jobs aufzunehmen“, sage ich mit einem antrainierten Lächeln und die Gruppe ringt sich ein ebensolches ab. „Wohnt ihr,... wohnst du noch hier?“, mein Blick fällt auf die Fußgelenke von Stefans Begleitung, die sich vor Langeweile ineinander verlieren. „Ja, noch.“, sagt Stefan ohne Zukunft in der Stimme. Sein 'noch' ist eine Verhöhnung, eine Parodie. Schlagartig wird es leer in mir: „Naja, Stefan, war schön dich mal wieder zu sehen.“ und noch während ich dies sage, durchfließen mich die Abschiedsworte der Runde wie einen Ausguss. Im Gehen fällt mir auf, dass ich ihn ja gar nicht nach seinem Beruf gefragt habe. Ricarda fehlt.
Langsam spüre ich den Alkohol. Ich trete in die Mitte des Saales und suche Menschen, die ich vermissen könnte, morgen auf der Autobahn. Laura tippt gedankenverloren in ihr Backsteinhandy, eine Sanftmut umspielt ihr Hacken in die unnachgiebigen Tasten. Ich will sie nicht stören. Tim spricht mit Janine und versucht so beiläufig wie möglich seine Hand von ihrer Schulter abwärts wandern zu lassen. Sie merkt es, und lässt es mit sich geschehen. Es läuft mittlerweile Drum&Bass und der DJ rudert mit geschlossener Faust um sein Ohr herum.
Auf dem Weg nach Draußen stellt sich mir Esther in den Weg. „Na, Hübscher“, lallt sie leicht und verzieht das Gesicht.
Na?“ antworte ich.
Na?“, macht sie einfach weiter und lacht.
Ich wollte gerade zu Herrn Brügge und ihm für diese scheiß LK-Klausur damals danken“, lüge ich so charmant wie es mir möglich ist. Ich weiß, da wird sie nicht mitkommen. Nicht nachdem Herr Brügge sie damals eine dumme Pute genannt hatte und dafür fast seinen Job verloren hätte. Sie seufzt. Ich durchquere den Raum und als sie nicht guckt, biege ich ab und stehe draußen vor der Mehrzweckhalle. Es vergehen einige Momente, die sich zu einem großen zusammen drücken. Mir ist kalt, aber die Stille durchflutet mich. Ich zelebriere die Leere.

Du rauchst?“, fragt Laura über meine Schulter, als sie hinaus tritt. Sie trägt Mantel und Tasche.
Du gehst?“
Ja, nicht mein Abend. Nicht hier.“
Wo geht’s noch hin?“
Laura sagt nichts. Sie erhebt den Blick, schnieft leicht mit der Nase und ist für einen ganz kurzem Moment nicht auf dieser Welt. Bis sie in ihrer Handtasche kramt und ebenfalls eine Zigarette herauszieht. Ich gebe ihr Feuer und komme ihren Wangen dabei näher als ich gedacht hätte. „Danke“, sagt sie und deutet auf meine rechte Faust: „Seit wann?“
Hm, noch nicht lang. Heute brauche ich auch nur einen Grund vor die Tür zu gehen.“
Du warst früher so militant dagegen“, stellt Laura fest, ohne auf meine Anspielung einzugehen.
Ja, das Militante verliert sich mit den Jahren.“
Stimmt.“, sagt sie zufrieden und wir schweigen.
Du siehst wirklich super aus“, sage ich in die Stille. Ich halte mich damit für mutig.
Weißt du...“, Laura dreht sich zu mir: „Ich will das von dir nicht hören. Nicht mehr. Ich wollte das vielleicht mal von dir hören. Aber jetzt nicht mehr. Das ist lange her. Verstehst du?“
Aber ich meine es.“ Dabei ist mir gerade gar nicht nach Verteidigung.
Ok, meinetwegen. Aber damals hast du es auch gemeint, also, du es nicht vergessen, dir ist es nicht irgendwie entwischt, so hups, einfach so. Ich glaube, du sagst es nur, weil du es damals nicht gesagt hast. Warum bist du überhaupt hier?“
Warum bist du denn hier?“, verschaffe ich mir Zeit. Die Frage trifft mich. Nicht als solches, aber sie kommt von Laura.
Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie alle, wie du wohl auch: Um etwas zu erfahren, was ich eh schon wusste.“
Ja. Tatsächlich“, sage ich nur und spüre eine tiefe Dankbarkeit für diese Feststellung.
Ein Kombi fährt vor. Am Steuer sitzt ein junger Mann im Anzug und winkt uns zu. Laura drückt ihre Zigarette aus, die noch nicht mal halb abgebrannt ist: „Da gehöre ich hin“, sagt sie und umarmt mich, ohne mir nah zu kommen. Ich rieche ihr Shampoo. Es riecht nach wilder, unberührter Freiheit und allem, was man sonst noch verklären kann, wenn man keine Ahnung hat.
Sorry“, flüstere ich ihr zu, als sie beginnt, sich von mir zu lösen.
Dinge passieren.“, sagt sie und geht.


100 Kilometer später auf einer Raststätte. Der Motor ist aus, das Hemd aufgeknöpft. Meine Schuhe liegen im Fußraum des Beifahrersitzes. Das Flackern der Laterne surrt und ich zupfe meditativ an der Bügelfalte meiner Hose. Seitlich lasse ich meine Beine aus der offenen Wagentür auf den Boden fallen und rauche der Radioantenne entgegen. Der Grund unter mir ist fast trocken, nur eine letzte feuchte Schicht zieht langsam in meine Socken. Es ist ein schönes Gefühl, wie sich meine Zehen in die Rillen des Asphalts graben, eins mit ihm werden. Und zum ersten Mal seit langem bin ich weder ein Sieger noch ein Verlierer, nicht mal ein Gewinner.