Montag, 2. November 2015

Im Kreis


Ein Antworttext auf „Ein Brief an das Karussell“ von Franziska Amend

Ich habe hier nie gespielt. Dabei wohnen wir nur wenige hundert Meter entfernt, da drüben in unseren Mittelklassehaus, mit dem Mittelklassegarten dahinter und dem Mittelklasse-wagen davor. Das Stehen auf der Wippe, zentral, breitbeinig, mit dem Ziel möglichst lange kein Balkenende auf den Autoreifen sinken zu lassen.  Eine Erinnerung an etwas, dass es nie gab liegt auf diesem Spielplatz. Alles hat seine Faszination verloren und ein sonderlich großer Fan des Schaukelns war ich nie. Das führt ja doch zu nichts.
Ich liege zwischen Eisenstangen. Ein rostiges Kuchenstück bugsiert mich durch die Nacht. Alles dreht sich. Das Knarzen der Drehscheibe schreibt Plattitüden in die Nacht. Ich habe keine nennenswerten Erfahrungen mit Alkohol, habe weder einen Führerschein, einen Schulabschluss noch eine Freundin und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben alt.
Mit 16 bin ich jetzt in einem Alter, in dem meine Eltern, die Freunde meiner Eltern und Menschen im Alter meiner Eltern mir sagen, dass dieses Alter vorbei geht. Dabei stelle ich mir die Frage, welches Alter nicht vorbei geht. Ich weiß nicht, was ich zu meinen Eltern sagen kann. Vor kurzem habe ich gelesen, dass Menschen, nach ihrer Definition für Liebe fragt, ausnahmslos von den Dingen erzählen, die keine Liebe sind. Wenn Sie mich also nach meinen Eltern fragen, kann ich Ihnen sagen, dass ich sie weder für sonderlich streng noch klug halte. Meine Mutter hält Frauen, die arbeiten (Geld verdienen) für bessere Menschen als Frauen, die nicht arbeiten (kein Geld verdienen), würde dies aber nie so sagen und mein Vater hat kein Interesse an Musik. Ich finde das ziemlich unfair. Denn ich denke, es gibt zwei Arten von Vätern. Von den einen lernt man, wie man Geld verdient und glücklich wird, von den anderen lernt man etwas über Musik und wie man mit ihr unglücklich wird. Da mein Vater aber kein Interesse an Musik hat, gehöre ich zu jenen, die keins dieser beiden Privilegien genießen dürfen. Schließlich sind die Haare meines Vaters länger als jene meiner Mutter, da ist nicht viel mit Geldverdienen.

An dieser Stelle möchte ich Sie, kritische Leser bitten, meinen vorherigen Einschub, ich hätte dies oder jenes 'vor kurzem gelesen', keiner allzu strengen Stilkritik zu unterwerfen. Ja, derlei Einleitungen entlarven vor allem ihren Absender als verunsicherten Redner, doch ich glaube meiner Wahrnehmung der Erwachsenen auf diese Weise weit näher zu kommen als auf anderen, subtileren Wegen. Geht es an dieser Stelle schließlich nicht darum wie ein typischer 16-Jähriger zu klingen – was immer das ist –, sondern wie ein 16-Jähriger, der glaubt sich wie 40 Jahre zu fühlen. Nennen Sie mich Wunderkind, Heuchler oder Pubertätsstreber, wie es Ihnen beliebt. Aber ganz gleich wie wenig authentisch Sie diese Zeilen auch finden mögen, so glauben Sie mir zumindest, die Sprache der für mein Alter offiziell empfohlenen Bücher ist noch viel weniger die meine. Oder haben sie einen 16 Jährigen schon einmal das Wort Pervers-o-mat sagen hören? Auch die An- oder Abrede 'Alter' habe weder ich, noch irgendjemand in meiner Gegenwart jemals gebraucht. Ein paar Langweiler, Ironievergewaltiger sagen so was vielleicht, aber sonst. Wenn die Erwachsenen wieder Das Unwort und das Jugendwort des Jahres verleihen, denke ich jedenfalls immer: Das Unwort des Jahres sollte Jugendwort sein.

Eine Sache vielleicht noch zu meinen Eltern. Ich denke, sie interessieren sich nicht wirklich für mich. Sie sind vielmehr erleichtert, dass ich so bin wie ich bin. Wer ich bin, haben sie vor ein paar Jahren entschieden, als sie begannen, mich reflektiert zu nennen und dies an jeder passenden oder unpassenden Stelle auch taten. Ich weiß nicht genau, was dieser Ausdruck über mich erzählt. Ich weiß, dass der Typ im Spiegel mir ähnlich sieht, aber nicht zwangsläufig mit mir identisch ist, ich eine Beziehung zu ihm habe wie ich sie zu Gemälden oder Geschwistern habe. Und ich kann diesem scheinbar sehr grundlegenden Prinzip westlichem Lebensverständnisses das passende griechische Drama zuweisen. Meine Lehrerin hat dann immer einen wehmütigen Glänz in den Augen, wenn sie mich dran nimmt. Es erzählt mehr über sie als über mich. Auch sie sagt, dass diese Zeit vorbei geht, wenn sie entscheidet mir helfen zu wollen.
Wissen Sie, warum ich mich alt fühle? Ich glaube, es liegt genau daran, dass das alle immer sagen: Dass geht vorbei. Dass die Dinge noch vor mir liegen. Auf der Uni, sagt meine Mutter, da wirst du deine Leute finden. Du brauchst ein Mädchen, sagt mein Vater und meine Lehrerin sagt ich habe "alle" Möglichkeiten. Als ob alles eine Rolltreppe wäre, mit der es ohne eigenes Zutun auf und vorwärts geht. Aber dies entspricht nicht im Geringsten meiner Wahrnehmung. Leicht, ohne eigene Anstrengung, lief bislang gar nichts und gibt es überhaupt etwas, dass häufiger gewartet werden muss als Rolltreppen?
Ich weiß, sonderlich neu ist das hier nicht, ein 16-Jähriger blickt in den verdunkelten Himmel, fühlt sich verloren, trinkt Alkohol, der ihm nicht schmeckt und sucht halt in mittelmäßigen Metaphern und wird sich bald mal an Drogen versuchen oder was mit seinen Haaren machen. Genauso das ganze Metaebenen-Getue, um sich gegen jede potenzielle Kritik abzusichern und der billige Trick, sich an den Leser direkt zu wenden. Wie wenn sie in Filmen sagen, dass das ja immer im Film gesagt wird, nur um sich raus zureden, dass sie das nicht besser hinbekommen haben, mit dem Drehbuch. Aber so ist es nun mal. Ich bin nicht gerade zufrieden, sonst würde ich hier nicht liegen und mich im Kreis drehen. Natürlich könnte ich noch viel krassere Bilder wählen, die ihnen von der Tristesse meines Daseins erzählen, aber ich will sie nicht unnötig aufregen. Sie würden sie ja doch ablehnen, postulieren eine andere, ausgewogenere, bessere Sicht auf das Leben zu haben, Varianten des halbvollen Glases abspulen, das Wort Pubertät so häufig in Nebensätzen unterbringen, dass dieses vollkommen ausgehöhlt wird oder sich eine Zustimmung schlicht verbieten. 

Ich glaube einfach nicht, dass die Tränen der Leute unterschiedlich schmecken. Sehen Sie, ich werde diese Gedanken jetzt mit einem Rückgriff auf ein paar Momente vom Anfang beschließen. Ich denke, dass würde meinen Eltern oder meiner Lehrerin gefallen, es würde sich anfühlen, als würden die Dinge Sinn machen. Das mögen die Leute. Ich denke jedenfalls, dass Menschen sich vor allem selbst retten wollen. Und immer wenn ich als reflektiert beschrieben werde, geht es dabei doch nicht um mich. Es gibt jedenfalls kaum einen brutaleren Satz als „Das wird schon wieder“. Reines Desinteresse. Wer weiß schon, wie es wird. Und ich bin alt, weil ich all diese Menschen sehe, die älter sind als ich und keinen nennenswerten Unterschied erkenne. Eine Unterscheidung zwischen Menschen, altersunabhänig, lasse ich gelten: Es gibt jene, die wissen dass sie unglücklich sind und jene, die das nicht wahrhaben wollen und dann sagen, dass die Pubertät nur eine Phase sei. Ich glaube nicht, dass irgendetwas vergeht, die ganze Unsicherheit, Einsamkeit, die unerfüllten Sehnsüchte, die Wissenslücken, Identitätsprobleme, Geldsorgen, Sorgen. Dass Sex mehr Gutes als Schlechtes auslöst, dass Freiheit irgendwann mal keine Angst mehr macht, dass Sicherheit seine Banalität verliert. Dass die Menschen mit der Zeit klüger, witziger, spannender werden, bessere Musik hören, bereichernde Bücher lesen. Wissen Sie mittlerweile wer sie sind? Oder haben Sie einfach bessere Vokabeln, darauf eine Antwort zu geben? Sind sie nicht mehr einsam, frustriert, hadernd, verkorkst, verwirrt, verunsichert? Weinen Sie nicht mehr unter der Dusche? Schlafen Sie ruhig? Ohne  Beißschiene? Halten Sie sich für einen moralischen Menschen? Wie geht es Ihren Eltern? Wie geht es Ihnen mit ihnen? Wie enttäuscht sind sie von Ihnen? Wie ist es mit der Karriere? Gibt es sie, lohnt sie sich? Macht Geld glücklich? Machen Kinder glücklich? Ändert die Ehe etwas (außer die Steuererklärung)? Ist ihre Angst in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden? Wie ist es mit der Liebe? Der Großen? Der einzig Wahren? Ich glaube, die Pubertät geht nicht vorbei. Sie ist die einzige Zeit, die bleibt.