Dienstag, 30. Juli 2013

Du nennst es Pathos, ich nenn' es Goethe

Leipzig 2013: 
Die Frage nach Bedeutsamkeit ist immer schon vom Absender beantwortet, sobald er sie stellt.  


Kyle ist auf den Kopf gefallen. Weil aber seine Eltern einen Atlantik weit weg sind, sitze ich mit ihm in der Notaufname. Die Nacht-Schwester ist mit der Versicherungssituation überfordert und lässt es an uns aus. Weil Kyle aber aus gutem Hause kommt – und wohl immer noch etwas benebelt ist – und ich finde, dass man manche Menschen mit Freundlichkeit strafen muss, nicken wir nur und ich deute gewissenhaft und wiederholt auf die Rechnungsadresse auf dem Wisch zwischen uns. Dann geht die Frau in weiß und wir verschränken die Arme und lehnen unsere Hinterköpfe an die Wand. Die Ruhe des Linoleum-besetzen Flurs kriecht in unsere Stimmlagen.
Kyle ist begeistert von deutschen Krankenhäusern, fast so sehr wie von der hiesigen Mülltrennung, den Shuttlebussen am Flughafen, dem Fehlen dicker Menschen und, ja, auch deutscher Musik. Ich verziehe das Gesicht: „Rammstein?“ „Nein, die Atzen... Discopogo“. Ich lache verlegen, weil mir das ganze genauso peinlich ist wie ich diese Antwort mag. Nachhaltiges Abspacken – eine schöne Kombination, ein schönes Deutschlandbild. Mehr aus einem Reflex heraus, empfehle ich Deichkind und Spider Murphy Gang und frage Kyle nach seiner heimischen Musik. Er erzählt von Country und dessen Huldigung des Nichtstuns und daran anschließend berichtet er von seinem Sommerjob auf der Farm seines Onkels in Virginia. Irgendwann kommt die Schwester zurück, nimmt ihn und seinen Verdacht auf eine Gehirnerschütterung mit und ich fahre zurück in die Sportschule.

Klischees sind kein realer Zustand, sie sind allenfalls eine Wertung. In dem Moment, wo aus der Wertung ein Zustand werden könnte, implodiert dieser und hinterlässt nichts als Erleichterung. Weswegen man selbst ja auch nie Stereotyp sondern immer die Ausnahme ist.
Ein Deutscher und ein Amerikaner sitzen also nachts um 1 Uhr auf Plastikschalen, reden über Mülltrennung, Musik und ihre Sportvereine. Das ist kein Klischee. Wenn, dann ist das romantisch und schön, fein und übergroß, Smalltalk und doch Verständigung. Die alte Geschichte von den Tönen und der Musik, die sie machen. Welcome to Goethe – where the global village is just around the corner!

Es braucht etwas Verklärung und Naivität – auch ein paar Alt-68er-Eltern zu haben, schadet sicher nicht, um dem Ganzen in edler Geste seine Medaille der Bedeutsamkeit um den Hals zu legen. Dann erhebt sich Erlebnis, wo eigentlich auch nur Fakten stehen könnten: 52 Teenager mit reichen Eltern aus 20+ Ländern, für drei Wochen in Deutschland um, offiziell, deutsch zu lernen und, inoffiziell, sich heimlich mit der Sommerliebe eine Flasche Barcadi Breezer zu teilen und/oder auf dem Fußballplatz heimatliche Beleidigungen und anschließend Mailadressen auszutauschen. In einem Wort: Urlaub. Ich selbst, dazwischen, eine Hybridfigur aus Animateur, Möchtegern-Autorität und Beobachter. Letzte Rolle ist mein Privatvergnügen. Und was ich sehe, es sind Klischees.
Die Spanier bekommen alle erst um 23 Uhr Hunger, die Griechen sind gemütlich, die Amerikaner offenbaren wenig Selbstzweifel, die Briten haben Etikette (und können keine Elfmeter schießen), die Russen brauchen die erste Woche, um ihr Lächeln zu finden und der Italiener kann sie, irgendwie, alle haben. Wenn Edouard (von allen nur „la parisienne“ gerufen) ausrutscht oder vor eine Tür rennt, ruft er „Vive La France!“ und stolziert weiter. Otto Sakaguchi füllt seinen Namen mit noch mehr Originalität, indem er anfangs im Deutschland-Trikot über die Flure rennt und „Jaaapaaan!“ ruft. Später bekommt er Heimweh, doch seine Höflichkeit verbietet es ihm, dergleichen zu kommunizieren. Nur nach dem gewonnenen Finalspiel glänzen seine Augen.
Jetzt zu sagen, dass Fußball diese universelle Weltsprache über all dem hier ist, liegt nah. Aber, letztlich trifft es das nicht ganz. Sprache sorgt für Verständigung, für Verständnis. Sprache führt zusammen. Doch der Fußball ist einen Schritt weiter. Er nutzt die Zusammenführung. Ein in sich geschlossener Raum, in dem eigene Regeln gelten, und der genau aus diesem Grund ein Versuchslabor, ja eine Spielwiese für all die Dinge da draußen ist. So wie Goethe insgesamt. Und wenn dann der Norweger den Ukrainer anmault, er möge doch schneller spielen, oder der Kasache dem Mexikaner auflegt, ist sich für einen kurzen Moment niemand darüber bewusst. Und weil eben niemanden derlei auffällt, weil es eben niemand interessiert, kann ich in alldem Bedeutsamkeit finden. (Nur um sie dann wieder aufs Rationale runterzubrechen, in der hämpfligen Hoffnung, sie dadurch nicht auszuhöhlen). Du nennst es Pathos, ich nenne es Sommerjob.

Am letzten Tag kommt Yiran („Tiger“) aus Peking ins Büro und dankt mir, dass ich „sein Spiel verbessert hätte“ - und jedes Klischee des strebsamen, ergebnisorientierten Chinesen löst sich auf und wird in mir zu einer kleinen, reinen Insel der Rührung. „Gern geschehen, hat Spaß gemacht“ stammle ich verunsichert, ob solcher Worte und dann ist Yiran aus der Tür und der Kurs ist aus.

Alle sind weg. Tegel liegt in meinem Rücken. Der Himmel hat das gleiche Blau wie die Energydose in meiner Hand, die bei konstanter Fahrt graziös auf meinem Oberschenkel liegt. Jedem Klischee seinen Frieden, denke ich und drehe das Radio lauter. Jedem Frieden seine Naivität. Jeder Naivität ihren Schutzraum. Jedem Schutzraum seine Wirkung. Jeder Wirkung seine Zeit. Jeder Zeit ihre Verklärung. Jeder Verklärung ihre Wahrheit. Jeder Wahrheit ihre Schönheit.