Montag, 28. Oktober 2013

Centre Pompidou

Meine Hüfte vibriert. Aber heute bin ich raus.
Nein. Nur zwei. Es gibt genau zwei Arten, auf die ein Witz gelingen kann. Wenn er überhaupt gelingt“, sagt Helene und kratzt sich an der nackten Wade, die sie mitsamt ihren Füßen aufs Armaturenbrett gelegt hat: „Beim ersten Mal und beim hundertsten Mal.“ Ihr Rock ist etwas in den Sitz gekrochen und der Blick auf ihr Muttermal freigegeben. Es scheint sie nicht zu stören. Manchmal möchte ich sie darauf ansprechen, wie sie mit ihrem Körper umgeht oder erzählen, dass er mir fast Angst macht. Aber wir sind nicht so weit, so intim. Ich kann meiner Assoziation eines überfürsorglichen Opas oder Onkels nicht nachgehen. Ich kann sie nicht fragen.

Und beim hundertundersten Mal?“, frage ich und bin froh, dass ich dabei den Blinker setzen muss. Es verleiht meiner Frage eine gewisse Lässigkeit.
Wer erzählt schon Witze 101 Mal?“, fragt Helene, und weil wir beide dazu nur nicken und gespielt nachdenklich in die Ferne schweifen, schaffen wir einen fast witzigen Moment.
Helene dreht über die Wählscheibe meines Ipods, welcher ans Radio angeschlossen ist. Das dazugehörige Rattern knistert durch die Boxen und füllt den Wagen mit einer Art digitalen Meditation. Die Mittagssonne spiegelt sich im Display des Players. „Ah, Studentenpogo“, sagt sie und eine Gitarre beginnt zu hüpfen. We're the people / the happy with the broken hearts / the ones who draw a picture and proclaim that it's art. Ich lasse das Fenster noch etwas weiter herunter. Die Kurbel ist mir das Liebste in meinem Auto. Wie ein Überbleibsel aus meiner Kindheit; ich neben meiner Mutter, die mich zum Einkaufen mitnimmt. Ich darf Kekse aussuchen und auf dem Rückweg fragt sie mich, warum ich diesen oder jenen Popstar so mag. Zum Kurbeln habe ich beide Hände gebraucht, das Machen war noch schwer, das Denken einfach.

Hast du dein kleines Schwarzes dabei?“, frage ich und deute auf das vor uns liegende Straßenschild, das uns den Weg nach Baden-Baden weisen will.
Jaaa“, sagt Helene und es liegt ein Triumph in ihrer Stimme, den ich weder entschlüsseln noch erklären kann. Das wird mir zu heiß. Plötzlich ist alles nicht mehr aufregend sondern gefährlich und ich lasse mein eigens installiertes Thema schnell wieder versanden. Casinos sind ja doch nur was für Pauschaltouristen und Telekomaktionäre, durchzuckt es mich. Das Navi spricht von noch etwa 500 Kilometern.
Du meinst das Kleid, dass ich letzten Sommer am Gärtnerplatz getragen hab'?“, fragt Helene vorsichtig aber hörbar geschmeichelt. Ihre Hand fährt flüchtig über meine Schulter.
Möglich“, sage ich.
Was für ein Abend!“, sagt Helene: „Du warst so süß, meine Fresse. Und ich mochte dein Hemd. Du sahst so gut aus. Understatementaufreißer, ich sags dir.“
Mein Blick fällt in den Rückspiegel. Ein Mercedes will vorbei, ich mache Platz. Dem Das-wurde-aber-auch-Zeit-Blick des Fahrers setze ich ein Grinsen und Winken entgegen, das provokant sein soll. Der CLK zieht davon.
Schon komisch“, sagt Helene.
Was?“
Na ja, der Abend.“
Wieso?“
Ach, weiß auch nicht.“

Helene war letzten Sommer noch mit Michael aus ihrer Band zusammen, der diese kurze Zeit später verließ. Nachdem Helene ihn verlassen hatte. Am Gärtnerplatz trug sie eine Fußkette zu ihren Ballarinas und als ich fragte, möglichst verträumt klingend, was ihr Tattoo über ihrem Knöchel bedeute, sagte sie nur: „Liebe“, und hat gelacht. Später hat sie mich aufgeklärt. Das Tattoo sei eine „Urlaubseuphorieschwachsinnigkeit“ sowie ihr chinesisches Sternzeichen. „Im Zeichen der Ratte Geborene sind kreativ“, hat sie dann ihr Smartphone zitiert: „spontan und offen für alles Neue. Ihr Enthusiasmus lässt sie viele Dinge in Gang setzen, doch ihr mangelndes Durchhaltevermögen fördert nicht unbedingt das Beenden des Begonnenen.“ Außerdem erinnere es sie an ihre Jugend. Es wäre eine „Ode an die Fehlbarkeit“. Sie müsse nicht damit leben, sie „dürfe es“. Dann hat sie wieder gelacht und wir unterhielten uns über Musik, ein bisschen über Filme und noch mehr Musik. Sie nannte ein paar betrunkene Teenager neben uns ein „Untervögeltgeschwader“ und immer wieder hat sie mir dabei ihre Hand auf meine Brust gelegt, wie eine Krankenschwester, der man vertraut, weil man bereits länger ihr Patient ist. Und als sie Zigaretten drehte, hat sie mir die erste angeboten, ohne zu wissen, ob ich rauche. Ich griff dankend zu, sie drehte die nächste.

Die Sonne steht immer noch hoch. Helene hat eins meiner T-Shirts von der Rückbank genommen und es sich zwischen Fensterscheibe und Wange gelegt. Ihre Sonnenbrille rutscht zur Schläfe hinauf und ich sehe, wie es unter ihren Lidern hervor zuckt. Ich suche einen geeigneten Song für diesen Anblick, für all das hier. Nach ein paar Klicks nehme ich den Daumen von der Taste. I strain my eyes / To tell the difference between shooting stars and satellites / From the passenger seat as you are driving me home.

Wir sind auf der Höhe von Verdun als Helene unvermittelt beginnt mitzuflüstern: „Do they collide? / I ask and you smile. / With my feet on the dash / The world doesn't matter“ und keiner von uns macht den Fehler, irgendetwas auszusprechen. Ich habe meinen Ellenbogen auf die Seitentür gestützt. Meine Hand ist in meiner Frisur vergraben und ich traue mich nicht, hinüber zu schauen. Aus Angst etwas zu zerstören. Ich wünsche mir ein schwarzes Loch, das uns mitnimmt – und nie wieder ziehen lässt. Ich hoffe auf einen Mammutbaum auf dem Mittelstreifen. Bis in alle Ewigkeit, jetzt! Das einzige was ich noch mehr will – dass Helene sich dasselbe wünscht.

Fast unbemerkt legt sich die Stadt vor unsere Füße. Noch während ich abfahre, fällt mein Blick durchs Lenkrad: 19:16 Uhr. Links folgt uns die Seine in ihrer ganzen warmen Kälte, wie ein Interpol-Song. Dann nach rechts, auf den Boulevard de la Bastille. Auf dem Parkplatz kehrt Helene ins Auto zurück. Sie streckt sich, grinst burschikos in meine Richtung und nimmt ihre Füße vom Armaturenbrett. „Danke“ sagte sie: „Wirklich. Danke dir, Cowboy.“ Was immer sie damit meint.
Gerne“, sage ich und mache den Motor aus: „Und jetzt?“
Jetzt steigen wir aus“, sagt sie. Ihre Stimme hat jene sonore Gequältheit, kurz nach dem Aufwachen. Und noch bevor irgendetwas anderes passieren kann, fällt die Tür zurück in die Karosserie. Ich ziehe hastig meine Schuhe an, stopfe den Ipod ins Handschuhfach und laufe ihr hinterher. Fast vergesse ich abzuschließen.
Auf der Piazza Beaubourg angekommen, falle ich auf den Fuß einer Staue: zwei mir unbekannte Gestalten in der Diagonalen. Einer stößt die Glatze in den Torso des anderen, der davon zu Boden geht. Was ist das? Mit dem Kopf durch die Brust? Sich die homosexuellen Hörner abstoßen? Ich bin müde. Die Fahrt steckt mir in den Gliedern – oder aber die Ankunft. „Warst du schon mal hier?“, fragt Helene, hüpft leicht auf und ab und fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Ich schüttle den Kopf.
Ich auch nicht“, sagt sie und schaut umher. Es vergehen ein paar Minuten, in denen sie beginnt, sichtlich inspiriert von alldem hier, von einem Film zu erzählen. Ich kenne ihn nicht, es geht um einen Alkoholiker und eine Blinde und über Liebe und diese Stadt und Sehnsucht und es gibt Feuerwerk und er sei sehr schön. „Und David Bowie hat den Soundtra ... da!“, unterbricht Helene sich selbst und dreht ihre Schultern zur Mitte des Platzes: „Marco!“, kreischt sie und läuft los.
Er hat sich seinen Helm auf den Arm gespießt, kann ihn aber dank seiner Körpergröße trotzdem noch entschlossen in ihren Nacken legen. Ich blicke auf die zwei Wesen über mir und wieder zurück, sehe wie er sie zielsicher an der Hüfte packt und ihr etwas ins Ohr sabbert. Helene biegt sich an ihm entlang. Meine Schnürsenkel sind immer noch offen. Zurück am Auto nehme ich meine Kopfhörer von der Rückbank und gehe. Den Abend nutzen.

Hoch oben über der Stadt ist mein Blick genauso distanziert von allem wie übersichtlich. Niemand erzählt Witze. Niemand lacht.  

Montag, 7. Oktober 2013

Das ironische Leben im Richtigen

Eine Literdose Faxe! Für jeden! Philip hatte vorgesorgt. Dazu alles was die Freundschaft braucht: Einen VW Lupo, gesammelte Frauengeschichten des abgelaufenen Semesters und Simpsons-Zitate. Unterlegt von einem Kassettendeck, das die Schönheit der Erwartung beschwört. Ein Konzertbesuch.
Heute füllen Royal Republic die großen Hallen, damals, vor ein paar Jahren – und dies findet hier nicht ohne Stolz seine Erwähnung – nicht. 126 Mann sind da, aufgerundet. Das tut den Songs keinen Abbruch und, wie es sich für schwedische Poserbands mit Holzfäller-Bartwuchs gehört, der Darbietung ebenso wenig. I can see your Underwear, from down here, röhrt es. Niveau ist, was man draus macht. Die Geschichte des Rock'n'Roll handelt nicht von Selbstkontrolle. Also auf den Zug aufgesprungen, dessen lebensbejahendes Vorbeirauschen Mädchen mit weißen Stiefeln gerne mit heraufgezogenen Augenbraun quittieren.

Es ist Zeit für schlechte Witze: „Play Summer Of 69!“ ist meine lautstarke Ansage in die Ansage des Gitarristen hinein. Weil ich in der dritten von drei Reihen stehe, kommt die Botschaft an. Ein müdes Lächeln, nächster Song. Das Spiel wiederholen wir zwei noch ein paar mal, bis es schließlich heißt: Ok, this goes out to the annoying guy over there! So you can shut up! Dann akkordunterlegt: I got my first real six-string / Bought it at the five-and-dime / Played it 'till my fingers bled / Was the summer of 69. In einem Wort: Wooooowooooo! Ironie war nie ehrlicher. Und fand die hübsche Brünette mit Piratenohrringen das nicht gerade witzig?! Nein, fand sie nicht. Aber Philip lacht. Und wir beide merken – die guten Abende sind jene, an denen die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum in einem Liter Faxe verwischt.