Sonntag, 16. Mai 2010

A Praise Chorus

Dies war mal das erste Kapitel meines Romans, den ich nie fertig stellen werde. Das Werk hat den Arbeitstitel "Treppenmensch". Dieses Kapitel, benannt nach einem großartigen Jimmy Eat World-Song, funktioniert aber auch gut, als in sich geschlossene Kurzgeschichte.

Beziehungen sind ja so einiges. Sie sind bestimmt von Trauer, Schmerz, Wut, Angst, Hass, Ignoranz, Zweifel, Frustration, Erniedrigung, schlechten Kompromissen, Nervtötung, Zwang, Eifersucht, Stress, Tränen, gebrochenem Stolz und Hilflosigkeit. Und das ist meist nur der Sex oder zumindest der Grund dafür.
Das einzige was man als gewillter Kuschelpädagoge dazu noch lächelnd erwähnen kann ist, dass es wohl nie langweilig wird, und wenn doch, so wird aus dem Schoß dieser Gleichgültigkeit schon irgendetwas Verletzendes, Frustrierendes, Trauriges oder Erniedrigendes heraus springen. Was wieder zu Sex führt. Wahlweise zu Versöhnungs-, „Ich-will-dich-nicht-verlieren-“, „Thank-God-we're-alive-“ oder „Besser-als-miteinander-Reden“-Sex, was in seinem Affekt zu ungewollten Schwangerschaften führt und darauf zu kurzfristig begonnenen Ausbildungen im Schreinerbetrieb des Schwiegervaters. Manchmal jedenfalls.

„…darum und weil ich sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten alle ganz doll lieb habe, wünsche ich ihnen, uns einen schönen und unvergesslichen Abend“.
Die Frau die dies und noch mehr seltsames Zeug zuvor gesagt hat, ist die Schülersprecherin eines sehr, sehr gutbürgerlichen Gymnasiums im Zentrum Bielefelds. Sie trägt ein sehr extravagantes und zugleich klassisches Kleid, mit akzeptablem Ausschnitt, in einem Weinrotfarbton. Sie strahlt und man strahlt ihr zu.
Ich sitze in einer der unzähligen Ecken dies komisch konstruierten Saales und probiere mich mit meiner Mutter zu unterhalten. Die ist angetrunken und süß dabei. Ich bin müde.
„Was wäre mit der da?“, fragt sie in einer Lautstärke, die ich gerade so verstehen kann und zeigt dabei auf Julia, die eben noch auf der Toilette, Dirk's Zunge in ihrem Mund und Dirk's Hand in ihrem Schritt hatte.
„Lesbe.“, antworte ich.
„Das ist aber schade. Also für dich.“, räuspert sich meine Mutter.
Ich nicke und sie steht auf und geht auf die Toilette.
Ich hole mir ein Pils von der Theke und wandere damit, möglichst lässig aussehend, durch den Saal. Nina, Janine und Caroline wollen mich zum Tanzen auffordern, aber ich lehne möglichst diplomatisch ab („... nicht tanzbar.“) und stelle mich zu Tim und John. Eigentlich heißt John Johann, aber irgendwie hat sich sein Spitzname so sehr verselbstständigt, dass selbst Lehrer ihn so nennen. Wenn es dann mal vorkommt, dass ein Unwissender seinen Namen von der Klassenliste her kennt und ihn abliest, weiß zunächst niemand wer gemeint ist. Auch John selbst braucht dann immer ein bisschen um zu reagieren.
Tim erzählt von seinen letzten Interneterlebnissen und berichtet wie viel er verloren hat, als er bei Manchester gegen Newcastle (+ Handicap) auf Unentschieden gesetzt hat.
Tim ist einer dieser Nerds, die immer zufrieden scheinen, selbst wenn ihnen irgendetwas bescheuertes oder gar trauriges passiert ist. Sie reden dann zwar laut und deutlich davon, dass alles nervt oder scheiße ist aber letztendlich wird man das Gefühl nicht los, dass alles in Ordnung ist oder mehr noch; dass alles bestens ist. Besonders dann, wenn einen auffällt, dass Tim nervt - vor lauter Witzen, Sprüchen und Anekdoten. Anzumerken wäre dabei noch, dass Tim noch nie eine Freundin, ja noch nicht mal eine Abendgeschichte hatte.
Häufig kommt da die Frage auf, ob er so positiv und albern wirkt, weil er sich noch nie im Geruch einer ganz bestimmten Frau verloren hat oder ob dies der Grund ist dafür, dass er noch nie jemanden für sich ernsthaft begeistern konnte. Ich meine, Frauen wollen ja immer zum Lachen gebracht werden, sagen sie in den Zeitschriften und schlechten Fernsehsendungen. Was sie aber nie sagen ist, dass dies immer erst dann geschehen soll, wenn es ihnen schlecht geht. Dafür muss man selbst sorgen indem man wenigstens so tut als wäre die erzieherische Arbeit seiner Eltern zur Austreibung des Patriarchats fehlgeschlagen oder ganz viel Geduld haben und dann im richtigen Moment anrufen. Timing ist entscheident. Da hat es Hollywood immer einfach. Der böse Noch-Freund baut immer kurz davor scheiße, wenn Er und Sie sich auf einer Parkbankk trefen. Wenn es regnet, natürlich. Wurden diese Filme, 10 Stunden lang gehen, hätten überhaupt kein Realtätsproblem. Aber Realitsten wurde früher eh zu oft der Lutscher geklaut.
Also, wie dass mit Tim aussieht kann ich wirklich nicht sagen. John ist da anders. Was Frauen angeht, ist durchsichtiger und offener. Er ist nun seit über 3 Jahren mit Patricia aus unserer Parallelklasse zusammen und nachdem selbst ein 10monatiger Mexiko-Aufenthalt von John, sie nicht auseinander bringen konnte, ist nicht mehr viel mit Jugendliebe. Die beiden meinen es ernst.
John einer dieser Sorte Mensch, die man oft nicht bemerkt. Erst wenn man dazu gedrängt wird, sich mit ihnen zu unterhalten merkt man wie viel Potenzial und Qualität in diesem Jungen steckt.
Menschen wie ihn nenne ich gerne „Treppenmenschen“. Das Gegenstück dazu wäre der „Fahrstuhlmensch“. Typ A brauche lange, um in der Aufmerksamkeit und Wertschätzung Anderer nach oben zu gelangen. Typ B ist sofort da. Zack! Er muss nichts tun, außer anwesend zu sein und man hört ihm sofort zu und gibt ihm Recht. Und daher hat man immer große Erwartungen an den Fahrstuhltyp und wird häufig enttäuscht. Und Zack! Ist der Fahrstuhl wieder unten. Aus diesem Grund gewöhnen sich, glaub ich, viele Menschen dieser Kategorie an die kurze Dauer von menschlichen Beziehungen und ähnlich wertvollen Dingen. Für sie ist es leichter Freunde, Partner, Geschmäcker und Ideen zu ändern, zu finden und dabei nicht das Gefühl zu haben sich und ihre Vergangenheit zu verleugnen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: nur weil jemand mit 17 Jahren beginnt, sich für seine „Limp Bizkit“-Platten zu schämen, ist er noch lange kein Fahrstuhlmensch, aber ihr versteht schon… .

Tim ist fertig mit erzählen. Er fragt, ob noch jemand ein Bier will und verzieht sich nachdem John kurz nickend seinen Finger gehoben hat.
„Tolle Rede, mh?!“, frage ich süffisant.
„Was willst du denn? Die Blondinen fühlen sich geborgen und die Anderen lässt sie in Ruhe.“, entgegnet John.
„Naja, aber warum muss es den immer jemand aus dieser Fraktion sein. Warum kann ich mich nicht auch mal vertreten fühlen. So wenige sind wir doch auch nicht, oder?“
John seufzt auf: „Erstens: hättest du dann nichts mehr zu meckern. Du willst dich doch gar nicht „vertreten fühlen“ (John zeichnet die Gänsefüßchen mit Mittel – und Zeigefinger), hier am Ceci. Da wo Tradition und Disziplin groß geschrieben werden willst du doch deine Feinde in der Überzahl, du „Rebell aus Langeweile“ (erneut). Zweitens: schau dich doch mal um. Ich weiß nicht genau, was du mit "wir" (herrje!) meinst aber, ich glaube so viele können es nicht sein.“
Ich schaue in einer denkenden Pose in die Runde: „Läuft.“
John nickt grinsend.
Ich nicke zurück und wir beide fangen an zu lachen.
Tim kommt mit Johns Bier wieder. Wir stoßen an und reden über Fußball und kommen über Roman Abramowitsch, auf die derzeitige wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland und von dort auf den letzten Film von Roman Polanski und von dort auf die derzeite gesetzes Lage im Jugendstrafrecht. Spaß. Spaß in einer seiner reinsten Formen.

Nach etwa einer halben Stunde, hole ich mir ein weiteres Pils und verabschiede meine Mutter, die sich jetzt ein Taxi nehmen will. Ich gehe mit ihr nach draußen. Nachdem das Taxi weg ist, stehe ich noch ein wenig draußen und genieße die frische Luft dieses tagsüber heißen Tages Mitte Mai.
Etwas klopft mir auf die Schulter. Maria.
„Na?“ fragt sie leise.
„Na.“, probiere ich ihr in die Augen zu sehen. Es gelingt.
„Warum hier draußen?“
„Hab meine Mutter verabschiedet. Sie war müde.“
„Mh. Wo ist dein Vater?“
„Magendarm. Liegt im Bett.“, säusele ich.
„Das ist ja doof. Grüß ihn mal von mir, ja?“
„Mach ich“, antworte ich und lächle. Maria lächelt nicht. Sie schaut in die Wolken, pustet einmal tief durch und dreht sich um: „Okay, ich geh wieder.“, sagt sie während sie bereits den Blick zur Halle gerichtet hat.
„Hey!“ rufe ich ihr zaghaft hinterher: „ Du siehst gut aus.“ Maria dreht sich um.
„Danke.“, sagt sie mit gesenktem Blick und geht rein.

Ich gehe wieder rein und stoße dort mit meinem Deutschlehrer und Tim an. Tim ist gut angetrunken. Ich ein bisschen weniger.
Nach „Ihr wart ein wirklich schöner Kurs. Kein guter, aber ein Hübscher.“, meines typisch ironisch, dahin labernden Deutschlehrers und paar weiteren Witzen, gehe ich zur Tanzfläche. Dort tanzen mittlerweile auch Janine und Nina. Caroline, die natürlich von allen nur „Caro“ oder „Line“ gerufen wird, hat sich Dirk geschnappt und ist mit ihm ein paar Runden um den Block. Ich überlege kurz, ob ich mich später in die Eingangshalle setzen soll und darauf warte bis die Beiden wiederkommen. Ich finde dieses leichte Lächeln, welches zwei kurz „Verschwundene“ immer im Gesicht haben, wenn sie zurück kommen auf eine Party oder wie heute: den Ball, einfach beeindruckend. Diese Fünf Minuten Glück. So unverbraucht, einfach und leicht.
Aber ich finde etwas anderes, wo es noch mehr Spaß macht zu zuschauen. John und Patricia tanzen. Es wirkt, als wenn es in diesem Moment nur die Beiden gibt. Und das, obwohl gerade Nelly läuft. Es ist ihnen egal. Sie sind nicht euphorisch und turteln auch nicht rum. Im Gegenteil, kein Angemache, keine komischen aus dem letzten Videoclip abgeguckten Bewegungen, so wie sie zur selben Zeit die meisten anderen Mädchen tun. Einfach schlicht und ruhig.
Ihre Beziehung ist an einem Punkt, in dem es nicht mehr wichtig ist, sich zu unterhalten oder zu umschwärmen. Es ist eine ganz positive Form von Routine, die ich so schön finde, dass ich etwas denke, was ganz selten denke. Das gleiche wie bei der Hochzeit meines Schwiegeronkels, letztes Jahr. Als ich dem Brautpaar beim Eröffnungstanz zusah. Ich dachte nur:
Das will ich auch! Klein, sehnsüchtig, schmalzig, wahr.
Während ich dabei verträumt an meinem Pils nippe, male ich mir aus, dass ich heute Abend eine meiner Ryan Adams Platten auflege und mich dabei selbst in den Schlaf wiegen werde.
Klein, sehnsüchtig, schmalzig, wahr.
Am Ende des Abends stehe ich mit John, Patricia, Tim und einigen weiteren Abiturienten an der Bushaltestelle und warte darauf, dass uns die N3 in die Stadt bringt.
Zwilling Nr.1, der nur so oder einfach „Nr.1“ genannt wird, weil er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem weiterem Jungen aus unserer Stufe hat, raucht einen Joint und lässt ihn nach kurzer Zeit rum reichen.. Im Wirklichkeit heißt er Mark. Nr. 2 heißt Stefan. Außerdem stehen noch Tina und Sonja mit an der Bushaltestelle.
„Goldenes M?“ fragt Kilian.
„Ich nicht.“
„Ich auch nicht“
„Nö“ und
„Zu Müde“, sind die Antworten die Kilian hört. Er fährt sich kratzend über die Stirn und danach durch seine blonden, langen und lockigen Haaren. Er sieht aus wie der Sänger von Nickelback, nur ein kleines bisschen weniger peinlich.
Die N3 kommt und bringt uns zum Jahnplatz, von wo aus sich unsere Wege in die verschiedensten Richtungen trennen.
Ich sage John, Patricia, Tim und Nr.1 auf Wiedersehen und nehme die N6. Zu Hause habe ich zu meiner eigenen Überraschung immer noch nicht Ryan Adams vergessen und bereits beim Zähneputzen fährt mir „Political Scientist“ durch die Ohren. Es gibt Musik, die geht immer und daher nie. Und es gibt Ryan Adams. Oder um es mit Tees Uhlmann zu sagen: "Es gibt nichts schöneres als betrunken, traurige Lieder zu hören". Timing ist alles.
Beim Ausziehen meiner Krawatte fällt mir auf, wie komisch und somit auch ungewollt eindrucksvoll dieser Abend war.
Wie viel wurde im Vorfeld über diesen ach so großen Abend geredet. Wie lange Patricia gebraucht hat ein Kleid zu finden, was John erzählt hat. Wie teuer so eine Eintrittskarte war und wie viel Sorgen man sich gemacht hat, beim Standardtanz zu versagen, bzw. scheiße auszusehen. Mancher Mathe-LKler jedenfalls.
Und am Ende steht man mit den gleichen 7 Personen, wie die letzten 7 Jahren an der Bushaltestelle, nachdem man den ganzen Abend über die Musik genervt war und überlegt ob man noch zu McDonalds will. In solchen Momenten wird immer wieder deutlich, auf was es im Leben ankommt. Nämlich zu wissen, was man will. Was willst du? Und nicht zu glauben, man will unbedingt diesen dämlichen Abschlussball nur weil irgendjemand sagt: „So was kommt nie wieder.“
Ja und?! Ich will keine großen, kitschigen (und in unserem Fall: verlogenen) Reden oder großes Essen in noch größeren Sälen. Jemanden finden, der mich versteht. Das ist es. Ganz einfach. Egal, welche Konsequenzen das mit sich zieht.
Ich liege noch lange wach, das Licht längst aus und lausche Ryan noch eine ganze Weile. Plötzlich zuckt es durch meine Gedanken, ich stehe senkrecht im Bett. Ich fahre den PC hoch und öffne die Worddatei mit dem „Beziehungen sind ja so einiges-Text“, den ich letztens erst dahin gerotzt habe. Ich schreibe eine zweite Version:

Beziehungen sind ja so einiges. Sie sind bestimmt von Trauer, Schmerz, Wut, Angst, Hass, Ignoranz, Zweifel, Frustration, Erniedrigung, schlechten Kompromissen, Nervtötung, Zwang und Hilflosigkeit. Und das ist meist nur der Sex oder zumindest der Grund dafür. Aber wenn es passt, hat man bei all dem immer das Gefühl: Es lohnt sich.

Als ich den PC wieder herunterfahre, wird in der Bäckerei gegenüber gerade das „Geöffnet-Schild“ umgedreht. Ich laufe auf die andere Straßenseite und kaufe mir ein Käsebrötchen. Ich bin nicht mehr müde.