Dienstag, 23. Dezember 2014

Heimspiel

Eine Weihnachtsgeschichte

Pastor Pranke juckte es. Auf gleich zweierlei Arten. Zunächst war da das offensichtliche. Sein Stand auf der Kanzel war gerade, beide Handinnenflächen gleichmäßig um das Mikro gelegt, der Rumpf stabil. Eine Haltung, die seinen Worten eine beabsichtigte Ernsthaftigkeit wie Würde verlieh, nicht aber dazu vermacht war, sich beiläufig und fröhlich-egal am Steißbein entlang zu fahren. Das zweite Jucken kam von Außen. Das Balg der Steinhöfers hatte Hunger oder war verschüchtert oder müde oder was auch immer. Pastor Pranke hatte keine Ahnung von Kindern, kein Interesse. Deswegen war er hier gelandet. Ganz anders als viele seiner Kollegen. Jene, die das Worte Liebe viel zu oft nutzten und schon im Priester-Seminar sich nicht zu schade waren, beruhigende Begriffshülsen wie Herde, Schaf und Weinberge aufzuschütten. Etwas, wie Pastor Pranke nicht ohne stolz feststellte, nie in den Sinn kam. Er stand gerne hier oben, die Schultern allem überlegen, und redete von Gott.
Die Gemeinde hasste ihn, das war ein offenes Geheimnis. Seinen Kollegen, Pastor Göhlert, jubelten sie zu. Göhlert war jung und motiviert und schwul und biederte sich an. Das ganze Klischee. Er nahm selbst am Krippenspiel teil, schwang einen Besen dabei, grunzte aufmerksamkeitshaschend am Strohberg vorbei und johlte verständnisvoll wann immer einer der angehenden zu-Firmenden-Pubertäts-Vollpfosten zu faul oder zu dumm oder beides war, um sich 3 Zeilen Text zu merken. Als er in der Gemeinde ankam, sah man sein leeres Ohrloch und ein paar blonde Strähnen, war ebenfalls noch nicht ganz herausgewachsen. Seine Predigten waren ein einziges Staccato an Glücksformeln und Sinnphrasen. Alles Sinn bei ihm machte Sinn und immerzu schlossen sich in seinen Ansprachen Türen und gingen wieder auf. Tür auf, Tür zu, Tür auf. Am Ende waren sie immer offen. Göhlert war, wie Pranke fand, nicht ganz dicht.
Als das Spiel zu Ende war und das Klatschen des Saales genauso höflich verstummt war wie es angefangen hatte, rang sich Pastor Pranke ein „Danke für die Darbietung“ ab. Die Lokalpresse hatte ihn, wie die Jahre zuvor auch, kürzlich gefragt, ob er es nicht schade finden würde, dass die Kirche nur an Weihnachten so voll sei. Sicherlich, hatte er im geübten Ton geantwortet, sei es schade, dass „viele den Weg zu uns nur an den Feiertagen finden“, aber er freue sich über jeden Menschen, zu jedem Anlass. In solchen Momenten musste Pranke immer an Philipp Lahm denken. Der sagte auch immer das gleiche und richtige. Ein adretter, tüchtiger Mann, der nichts dafür konnte, jede Woche nach dem gleichen Ereignis, die gleichen Fragen gestellt zu bekommen. Und sie dann jede Woche aufs neue aber nicht neu zu beantworten. Pranke mochte diesen eigens entworfenen Vergleich von ihm. Weihnachten war sein Heimspiel. Göhlert hatte ihn mal mit ins Stadion geschleppt. Sie waren viel zu früh da gewesen und die ersten auf ihren Plätzen. Das Flutlicht war von unendlicher, fast erdrückender Klarheit gewesen und ein paar Spieler waren in Trainingsanzügen und mit dicken Kopfhörern über den Platz geschlichen. Jeder für sich. Wie sie scheinbar an nichts anderes dachten, als daran den einen vor den anderen Fuß zu setzen. So warteten sie, die Müdigkeit von Zoo-Löwen in den Gliedern, auf die Massen, die ihnen etwas zurufen und dumme Fragen stellen würden. Da musste Pranke automatisch an seine Kirche denken. Wie sie morgens um 6:30 Uhr roch, als er sie aufschloss, ein paar Kerzen anzündete, ein stummes Gebet vollzog und sich in einem verstohlenen Moment etwas zu viel Weihwasser ins Gesicht und auch hinter die Ohren träufelte. Wenn er nicht Pastor geworden wäre, dann wohl Architekt, dachte Pranke gerne und hoffte Göhlert würde noch etwas länger am Würstchenstand brauchen.
Doch heute geht es nicht nur um Geschenke“, sagte Pranke ohne Haltung oder Stimmlage zu verändern. Ohne Ironie, ohne irgendeinen Versuch seine eigenen Worte selbstgefällig zu entkräften. Er lugte über seiner Lesebrille hervor, um seine Zuhörer doppelt ins Visier zu nehmen. Er suchte den Anblick von Frau Schauert. Sie wollte immer, dass er sie Hedwig nannte, was er aus Anstand auch tat. Aber Frau Schauert war ihm lieber. Sie hatte ihn vor diesem und anderen Sätzen in seiner Ansprache gewarnt. Vor fast allen, aber vor diesem mit dem meisten Nachdruck. Frau Schauert war verwitwet, hatte eine Tochter irgendwo im Ausland und zusammen saßen sie ein paar Mal die Woche in Prankes Büro, aßen ihre trockenen Kekse und lasen still nebeneinander die Zeitung. Sonntags fragte er sie, ob er die kurze oder die lange Stelle aus dem Evangelium lesen sollte. Frau Schauert wollte immer die kurze und er tat ihr den Gefallen. Aber die Geschenke-Sache war ihm zu wichtig. „Ihr werdet gleich alle nach Hause gehen und euch über eure neue Playstation freuen oder euer neues Fahrrad, aber haltet kurz inne“, sagte Pranke, keinen Gedanken daran verschwendend wie viel Angriffsfläche er damit wieder bot und sein Blick ging die Reihen ab. Der Älteste der Mahrhoffs blickte ihn an, dann wieder auf seine Hüfte wo sein Handy lag, dann wieder zu ihm und zurück. Als würde er autofahrend SMS-schreiben und Pastor Pranke war die Leitplanke. Den Steinhöfers war ihr Balg peinlich. Zurecht, natürlich! Aber sie waren nicht souverän genug einfach den kurzen wie schmerzlosen, für alle beteiligten sinnvollen Gang durchs Mittelschiff nach draußen zu gehen. Stattdessen saßen sie drei da, Papa, immer noch in seinem verhassten Feiertags-Mantel steckend, tat so als würde er zuhören und Mama, für sich immer einredete religiös zu sein, wiegte das Schreiteil in den nicht kommenden Schlaf, mit Bewegungen die weniger ein Wiegen als mehr ein aggressives Zucken waren. Daneben die Blaukopfs – verdammte Hippies. Göhlerts Gruppies. Immer kurz vorm Weinen und immer am Nicken, wenn ein Satz des Kollegen die Welt in Zuckerfarben malte und wieder mal nach Habt-euch-alle-lieb-Opiaten gierte. Die Frau trug ausschließlich pastell und er war impotent. Weswegen sie in bester Postkartenmanier beschlossen hatten, sich davon nicht unterkriegen zu lassen. In den nächsten Jahren, wenn ihnen Jesus nicht mehr reicht, dann wird es wohl ein Nordafrikaner werden, oder die Scheidung.
Frau Schauert fixierte Pranke. Ein minimales Lächeln vor der trockenen Gesichtshaut. Jetzt ertrag es, bade es aus, schien sie ihm zu zurufen. Nichts lieber als das, dachte er und sog das hörbare Augenrollen des Mobs in sich auf. Langweilt euch! Mir mir. Schindet euch, überwindet etwas, einmal. All das dachte Pranke und kam zum Ende. Er sagte Fröhlichkeit, wo Göhlert wahrscheinlich Glück gesagt hätte und schritt ohne auf eine Reaktion zu warten von der Kanzel herab. Auf den unteren Stufen konnte er die klammheimliche Erleichterung hören, wie das Geräusch einer müden Schulklasse, die aufschreckt, wenn der Lehrer den Fernseher hereinrollt.

Göhltert sprang auf, sein vom blinden Genuss aufgeblähter Bauch vor ihm, und dankte den Zu-Firmenden, übergab ihnen kleine Geschenke und junggebliebene Grußkarten mit handschriftlich verfassten Sinnbotschaften auf dem Rücken. Eine der Alsbachs flüsterte hörbar „Das ist ja so lieb“ durch den Raum und wechselte ihren 50-Euro-Schein für die Kollekte in einen Hunderter. Dann forderte Göhltert die Gemeinde zum Aufstehen auf, ließ das Licht dimmen und der Organist stimmte „Oh, du Fröhliche“ an. Nach kurzer Zeit verschwanden auch die LED-Lichter im Raum und man sang. Pranke hatte die Arme auf dem Rücken und flüsterte den Text. Gleich würde er allen die Hand schütteln, während sie durch ihn durchsahen. Und wenn alle dann endlich bei ihren Mp3-Playern und freundlichen Worten waren, würde er mit einer Flasche Wein und einem Käsebrötchen in seinem Büro sitzen, vielleicht Bach dazu hören oder ein Buch lesen. Er würde auf Schnee warten und auf Frau Schauert, und irgendwann würde er, die Hände immer noch auf dem Rücken, durch seine verlassene Kirche schlurfen. Er würde eine Kerze anzünden und denken, dass er sich Gott immer näher fühlte als Jesus (ganz gleich wie sehr man ihm im Pristerseminar diesen Gedanken um die Ohren hauen würde). Er würde die Gebetsbücher ordnen und denken: Ihr seit mein Kreuz, ich bin eures. Und am Ende legen wir es ab und es geht uns besser. Pranke bemerkte sein eigens, seliges Lächeln im Gesicht, was er sich sofort verbot. Das Lied kam zum Ende und für einen fast nur zu erahnenden Moment gab sogar das Steinhöfer-Balg Ruhe.   

Donnerstag, 11. Dezember 2014

This is the end (my good old friend)

Final thoughts on Breaking Bad 

[Spoiler Alert] 

Ok, it needed to much free time, a pubertal need of belonging and a few friends with a trustworthy taste to get me into this show. Season 1 was, in one word, annoying. Gangster-stereotypes and idiots screaming nonsense at each other everywhere. But alright, somewhere in the middle of season 2 I got into it. The show was on the rails and I followed it. I assume I'm a feuilleton-snooty-nosed-minority here, but I hated Walter pretty soon. At the latest, when he killed Jane. (He killed her! No discussion, please.) I wanted him to suffer and I began to like Breaking Bad. The show began for me with the promise of everybody dying. Because I wanted everybody to die. For different reasons: Walter desvered it! So, if he is still your hero, just look at his bodycount... as simple as that. Flynn was the most annoying character on TV ever! I know, you don't kill disabled people, but you should. He had one (one!) good moment in the 5 seasons: When he yells "Don't treat me like a baby" and sounds like a baby. That was funny. Unintended, but funny. And Jesse, well, it would've been a happy-end for him. His suffering would've been over. Near completion Jesse is called a rabid dog - and that's what he is. A lost soul. A helpless case. A clean shoot to the head would've been his climax. 
This show was, of course, about everybody dying and therefore about America. The subtle leads to american culture, the empthiness - of the landscapes, the values (family, just to state the obvious) and this law-of-nature-esque force of making money. Not spending it. Just earning it. Arised out of a big, universal feeling of injusticem, where the show has its key to global success. Welcome to 21th-century-capitalism. No healthcare, no party. No luxury, no life-quality. Money as a mountain, a figure, an abandoned sign. Therefore I fucking loved Gus! The immigrant  as the over-embodiment of the American Nightmare. And the former public servant Mike as his loyal servant. They are everything Walter becomes, but they are authentic about it. So, for me, the show ends with Gus' death. One villein replaces another one. The dream lives on. All reasonable women stay unheard. All the money stays in the closet. The perfect storm everybody called for. And than... they create a coordination-system that is called: Neo-Nazis. Not a new one, the first one! You can kill woman, children and whatever ... but if you realize it 30 minutes before showdown and kill some tattooed sociopaths, they will love you. And the music under the (weak) final shot sings you a song 
(for the record: baby blue - blue meth, pretty crafty stuff, I would say...):

"Guess I got what I deserved 
Kept you waiting there too long, my love. 
All that time without a word. 
Didn't know you'd think that I'd forget or I'd regret
The special love I had for you, my baby blue. 
All the days became so long
Did you really think, I'd do you wrong?"

And that poor Jesse has to keep on living with this hell he calls his life. And Flynn is still sooo sad. And Hank is buried. And all the woman were right and are still finished! Or dead, like Andrea and Jane. But we remain with a feeling of relief. The Nazis (and the witch!) are dead. We killed them (with MacGyver-skills, they never fail...). So we can't be that bad. We're just trapped in this society that gives us a hard time.
To kill all the people, destroy all the (family-)values and not replacing them, not giving us a target but ourselfs, that would've been an heroic deed, that would've made Breaking Bad a classic. Instant and timeless. But maybe, the show mirrors that weakness as well, is self-aware of its. Maybe, we are all not strong enough to undergo the purification of hitting rock-bottom. Maybe, that is why we can't resist Walter. Maybe we are in this place, this 21th-century-everyone-for-themselves-mess, because we only blame Fox-News and not ourselves. Because we identify with someone that only cares for himself but finds ways to give it different names. To call his revenge justice. To find (creative!) solutions for his damaged ego. We care for ourselves, and maybe that's why we care for people that only care for themselves. And we do everything not to admit its that simple (at least us males). Or to finish it with same last words of the show:

"Just one thing before I go. 
Take good care, baby, let me know, let it grow. 
The special love you have for me, my Dixie, dear."


Mittwoch, 25. Juni 2014

Yolo für Gymnasiasten

Ironie, die
  1. feiner, verdeckter Spott, mit dem jemand etwas dadurch zu treffen sucht, dass er es unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht
  2. paradoxe Konstellation, die einem als Spiel einer höheren Macht erscheint

Da sitzen sie und warten. Im Halbkreis. Manche haben Decken dabei, andere Getränke. Vor ihnen liegt eine Batterie Steckdosen, in denen sie ihre Handys aufladen. Das mobile Internet braucht Strom, jede Menge Energie und wer überall gleichzeitig sein möchte, ebenso. Neben der Gruppe wedelt ein Dönerstand sein Fett in die Nacht, in den runter gerockten Staub eines Juni-Tages.
Ein Mädchen mit einem Abi-2009-Shirt verlässt die Runde. Sie schultert ihren Campingstuhl und wandert über den Zeltplatz. Ihr Nicken zum Abschied wirkt vertraut. Ein paar Grills glühen aus, ein paar letzte Flunkyballgruppen brauchen immer noch einen, nun ja, spielerischen Rahmen zum Saufen und aus den mobilen Boxen dröhnt es alles paar Zelte. Scooter ist zu hören, 90ies-Trash ist zu hören, und Helene Fischer ist zu hören. Es sind diese zwei Bilder, die eine Brücke schlagen und unter der ich meine, das Zerrbild meiner, einer Generation zu sehen: das Smartphone und die Ironie.

Klar, ein Hurricane-Publikum ist nicht alle. Wer Rockmusik, Dosenbier und Zelten mag, sowie schlechtes Essen, Hygienenotstand und Schlafmangel akzeptieren kann, ist hier. Es fehlt hingegen der Aperol-Spritz, die BWLer, die Nur-House-Hörer, die Immernoch-Baggyhosen, die Abstinenzler, die Fanmeilen-Fanatiker und die wohl nie zu unterschätzende, schweigende Mehrheit an Lebens-uninteressierten. Und doch: Bei Passenger fliegen Kuscheltiere und zu Moonbootica wütet das Edelvodka-Volk. Bei Bonaparte zappelt sich der Hipster kurz aber erfolgreich aus der selbstauferlegten Coolness, während Lily Allen oder Jennifer Rostock schreckliche Bilder einer Emanzipation entwerfen, die zeigen möchte, dass die Lauteste immer Recht hat. Thees Uhlmann und Tocotronic sprechen komplizierte Satzbauten ins Mikro, während ihre Instrumente versuchen, es nach Musik klingen zu lassen. Und The Subways oder Fünf Sterne Deluxe sind verstörenderweise nach all den Jahren immer noch dabei mit ihrem schrecklichen Durchschnittsdingelingeling. Es ist viel vertreten an diesem Wochenende und alles findet seinen Abnehmer.
Sicher, es ist alles neurotisch links, was bei Egotronic oder – besonders schauerlich – Feine Sahne Fischfilet seinen Höhepunkt findet, indem jede Ansage predigt, dass Nazis auf die Fresse gehört. Jaja, dochdoch, ehrlich! Das ist alles so ausgewogen, intellektuell und vorhersehbar wie ein nordkoreanischer Parteitag. Und dennoch, ein 75.000-Seelen-Musikfestival taugt zum Querschnitt. Und es findet seine stärksten Bilder in der Schnittmenge, also: Weiter im Text.

Das kleine, kurze Glück, es wird gesucht und gefunden. Die sichere Pointe, der Post, das Selfie – dafür setzt man sich um die Steckdose wie ums Lagerfeuer. Damit auch morgen wieder der Saft da ist, das sagenhaft schlechte Macklemore-Konzert mitzuschneiden oder der Hood zu erzählen, wo man ist. Bei Lykke Li zum Beispiel, die den Fehler macht I Follow Rivers nicht als letztes zu spielen und nach getaner Chartsarbeit strömen die Massen heraus. Das kleine Glück? Es muss erwartbar sein. Und wenn man es hatte, kann man gehen. Ich meine zu wissen, jene Deserteure sind die gleichen Massen, die Tags zuvor bei Casper waren. Es müssen sehr viele gewesen sein. Denn bei Arcade Fire war viel Platz um mich herum.
Dazu möchte ich etwas anmerken: Ich bin kein sonderlicher großer Fan der kanadischen Band. Ich mag sie, aber ihr Sound versetzt mich nicht in Jubelstürme. Mein Verhältnis zu dieser Band ist mehr ein schätzendes Lächeln, ein genussvolles Nicken. Feuilletonschnösel-Gruß. Und trotzdem: Im stillen Stolz auf das eigene Schaffen, mit Pathos, mit einem herzlichen Hang zum Theatralischen, das handwerklich so besondere Stühlerücken an den Instrumenten und Positionen, wie es glitzert und blinkt, wie die Songs ineinander gewebt sind, wie Klang und Licht verschmilzen. Eine Sinnesorgie. Überwältigend und doch ganz nah, bei mir, in mir. Intelligenz und Gefühl sind kein Widerspruch! 




Und dabei alles – außer künstlich. Es fehlt jede Ironie, jede Geste der Relativierung. Es wirkt fast befremdlich im Poser-Dickicht dieses Festivals. Während die Mehrheit bei Casper die schnelle Medizin für die Krankheit Selbstfindung inhaliert.
Auch zu Casper ein schnelles Wort: Ich bin kein Casper-Hasser. Emo ist nicht mal ein Schimpfwort für mich. (Herrje, ich trage immer noch den alten Jimmy-Eat-World-Pullover aus der 10.). Casper hat den gleichen Lieblingsverein wie ich und seine T-Shirts zu weit und seine Mützen zu groß. Aber ansonsten, ja mei. Ein bissl viel Wenn-du-umfällst-steh-wieder-auf, ein bissl Yolo für Gymnasiasten und das genauso protzig wie potent produziert. Gibt schlimmeres.
Doch, die Dosis macht das Gift. Und diese ist nicht die Musik, sondern die Anhängerschaft, ähnlich dem Alles-was-wir-machen-ist-nur-dann-was-wert-wenn-wir-es-in-40-Jahren-erzählen-Engelmann-Video vor ein paar Web2.0.-Monaten. Klar ist ne Fertigpizza ok, aber wenn es da aufhört mit dem Genuss und den Erfahrungen, haben wir ein Problem. Das macht diesen Umgang mit allen, auf was ich hier hinaus will so schwierig: Nichts ist für sich genommen schlimm. Aber das Ausbleiben eines Anderen, die Permanenz mit welcher all diese kurzen Wahrheiten von Deutschland-wird-Weltmeister, Poste-jeden-Satz-als-wäre-es-der-Letzte bis zu Du-musst-nur-an-dich-glauben sich im Dauershuffle wiederholen ist, in einem Wort: beängstigend. Dr. Oetker wird hier zum Fünfsterne-Koch erklärt.
Natürlich ist Kreativität besser als die Maklerausbildung, natürlich sind echte Freunde besser als falsche, natürlich gehört Nazis auf die Fresse. Aber wenn an dieser Stelle das Denken und Fühlen endet, hat es gar nicht erst begonnen.
Die große Geste, die Slogans haben ihre eigenen Inhalte, für sie einmal standen, abgelöst. Und mit ihnen hat eine weitere Kommunikationsstrategie die Macht übernommen: die Ironie.

Exkurs, Ironie: Ein Subgenre des Humors. Ein bisweilen tolles Mittel. Es macht Spaß, sorgt für Stimmung. Mein Gott, der Humor und sein guter Kollege die Satire haben schon so oft die Welt besser gemacht. Im kleinen, im großen, in allem. Stephan Colbert vs George Bush, anyone?


Oder auch: Tina Fey allein hat Sarah Palin gestürzt, verdammt.



Der große Denker Christopher Hitchenens, Nitzsche hab ihn selig, hat mal erklärt, warum Frauen nicht lustig sind. (Übrigens teile ich diese Wahrnehmung, bin mir aber dennoch bewusst, dass ich diesen direkt unter einem Tina-Fey-Clip schreibe. Macht euch nur lustig.) Weil sie es nicht müssen. Weil sie schön sind. Und weil es im Sex nun mal um Aussehen geht. Der Mann aber, das wohl unterdrückte Wesen, muss Humor entwickeln, um sich hervor zutun. Allgemein gesprochen: Humor ist Persönlichkeit, Ironie ist ein Mittel gegen Unterdrückung. 

Doch: Die Ironie auf dem Hurricane ist eine andere. Sie ist keine Satire. Sie hat keinen Gegner und keinen Bezug. Helene Fischer ist kein Ausdruck von Unterdrückung. Sie ist Teil des Systems Leere. Diese Ironie, die bisweilen auch nur so tut, als wäre sie ironisch, steht weder für noch gegen etwas. Das Atemlos-Gegröle ist kein Ausdruck einer antiautoritären Haltung gegenüber eines postmodernen und Post-Napster-Vakuums an Geschmack und emotionaler Teilhabe in der Musikbranche. Sie dröhnt auf dem Hurricane aus jedem zweiten Pavillon. Sie ist der sichere Gag, die ach so spontane Zusammenführung im gemeinsamen Feindbild. Vergleichbar mit der reflexhaften Häme, wenn Italien, England oder Spanien zu früh aus Brasilien abreisen (Schadenfreude ist ein deutsches Wort), so einigt man sich darauf, Helene Fischer des Schlagers zu überführen und dies schlagerhaft zu inszenieren. Aber irgendwie ist der Beat doch ganz gut und das Liebestattoo-Zitat geht seltsam gut über die Lippen. Es ist die schnelle Emotion, die schnelle Wahrheit, die uns zusammenbringt. So vorhersehbar und zwanghaft wie ein Autokorso.
Und nochmal: Natürlich ist Ironie ok. Und billige Witze mach ich in jedem mir möglichen Moment. Jedoch ist die Ironie ein Dauerzustand geworden, der es verhindert, dass anderes entsteht. Wir sind eine Generation, die auf Bad-Taste-Partys rennt aber nie Good-Taste-Partys veranstaltet. Wir rennen eben zu Casper und nicht zu Arcade Fire. Wir hören immer noch die Ärzte, weil die Songs gegen Angeber machen – und gegen Nazis.

Aber, welche schöne Schlusspointe, da war Hoffnung auf dem Hurricane: Kraftklub. Eine Band, die sich in der Metaebene suhlt, aber auch genau dies zu thematisieren weiß. Wir sind zu jung für Rock'n'Roll, ist ihr zentraler, erster Satz. Massentauglicher Stadionrock, aber noch nicht ganz Bürgertum, noch nicht komplett Pop. Osten, nicht Westen. Chemnitz, nicht Bielefeld. Mit Gespür für Losertum, Zitat und Direktheit. Keine Angst vor der fetten Album-Promo und trotzdem ohne Scheu vor ernst gemeinten, autonomen Zeichen. Sturmmasken, Pyro und Lieder über Aufstandskultur und, eben!, ihr Scheitern. Im Zentrum der Kunst stehen keine Lösungen, sondern das Erkennen von Problemen. Und der Weg dorthin, darf auch gerne ironisch sein. Nur bitte, bitte, egal auf welche Art, mit viel viel kritischer Distanz und für wie witzig ihr das haltet: Keine Helene Fischer mehr!   

Donnerstag, 15. Mai 2014

Und Sammy Kuffour weinte

Oder: Ein Lehrer und ein Analytiker kommen in eine Bar

Zwischen dem dritten und fünften Bier, also da wo die Weisheit in die Welt fällt, bemerkte Ben, dass es zwar die Frauen waren, die er verfolgte, sobald sie durch die Tür traten. Doch dass es die Herren waren, von denen er etwas mit auf den Weg bekam. Ben bemerkte, dass jemandem gefallen zu wollen und sich mit jemandem auseinanderzusetzen, unüberbrückbare Gegensätze darstellten. Ben stand auf und ging auf die Toilette. Jemand hatte ihm einmal erzählt, dass Händewaschen ohne Seife unhygienischer sei als der komplette Verzicht auf eine Reinigung. Ben mache seine Hose zu und schob gleichzeitig die Tür, seinen Ellenbogen und sich selbst in einer fließenden Bewegung zurück in die Hitze. Karl versuchte sich an ein paar Ausführungen über Freud. Sie sprachen zuletzt viel über ihre Mütter, was wohl sowohl biografische Gründe hatte, als auch aus reinem Kalkül geschah. Der Todestrieb, sagte Karl, wird vollkommen missverstanden. Wir wollen nicht sterben. Wir suchen etwas, wofür es sich zu sterben lohnt. Karl war schon immer der eloquentere von ihnen beiden gewesen. Auch wenn Ben in der Lage war, in den richtigen Momenten zu nicken oder die Arme zu verschränken. Was es ihm mit den Frauen leichter machte. Manchmal gelang Ben sogar ein unauffälliger Griff an die Schläfe, der es schaffte, seine Aufgesetztheit zu verbergen. Karl hingegen, der weiter ausholte, war für einen Mann seines Alters mit seiner van-Houten-Brille und seinen am Saum fein säuberlich umgeschlagenen Jeans, überraschend wenig daran interessiert, Frauen mit seinem Selbstbild in Verbindung zu bringen. Es gab Tage, da gab er den Romantiker, trank etwas genüsslicher und redete vom Nachhausekommen. Von dem Moment unter der Sofa-Decke, wenn der Film aus ist und ein Strich über das Kinn des anderen jede Anfrage auf eine Interpretation des Gesehenen obsolet werden lässt. Und es gab Tage, da befahl sich Karl die Großstadt und markierte seinen Kiez anhand von Eroberung und Postmodernität. Wir müssen uns den FC Bayern-Fan als unglücklichen Menschen vorstellen, sagte Karl. Ben trank. Er darf nicht verlieren, er trägt die Peinigung des Triumphs in sich, sagte Karl. Eine Rothaarige zog vorbei und griff - ob absichtlich oder nicht war nur zu erahnen - im Vorbeigehen Ben an die Hüfte. Fitnessstudio, dachte Ben. Karl war wach. Die Schönheit kommt im Angesicht es Todes zur Welt, sie kämpft, sie krepiert, Karl vergaß die Hitze um sie herum. Sie ist sich ihrer Vergänglichkeit und daher sich ihrer selbst bewusst. Ben fühlte seine Hüfte und meinte tatsächlich, sie wäre noch warm. Und Barcelona '99, fragte er. Schönheit, trieb sich Karl in die Lakonie. Liebe, Sammy Kuffour weint, fleht, kniet, weint. Der Herr hat ihn verlassen. Das ist Liebe. Wir wollen nicht sterben. Wir wollen nur eine Grund für unsere Opfer. Wir wollen Opfer! Die Rothaarige lag in der Ecke, eine Zunge in ihrem Hals. Ben wollte rauchen. Du willst dem Tod nah sein, in der Kälte, in der Kehle, sagte Karl und versuchte seine Pathos mit einer Grimasse der Läuterung zu entlarven. Ja, sagte Ben und gefiel sich erneut in der Rolle des Analytikers, der sich immer darauf berufen konnte, immer nur Dinge zurück zu werfen, nie aber aggressiv zu wirken. Der Analytiker war die präziseste Rolle für Ben, um an Sex zu kommen. Sie schwächte seine Gegenüber, ohne dass es ihn zum Arschloch machte. Sein Vater hatte ihm mal geraten, Frauen immer mehr Fragen zu stellen als Antworten zu geben. Aber um Väter geht es hier ja nicht. Draußen winkte ihnen ein Taxifahrer zu. Sie winkten zurück. Sie begannen über Ex-Freudinnen zu reden, auch um das Protokoll abzuschließen. Es geht, sagte Ben. Fick sie, sagte Karl, im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Freud machte ihn fast immer zu Großstädter. Ciao, zischte es in ihrem Rücken. Die Rothaarige zog zwinkernd ein Wasserballerkreuz hinter sich her. Ihr Abschied war einstudiert, und eben deswegen nicht zu ignorieren. Ich glaube, die Frage ist eine andere, sagte Ben. Camus, sagte Ben. Ist es lebenswert Bayern-Fan zu sein oder nicht, das ist die ultimative und letztlich die einzige Frage. Karl aschte. Du musst das in dir klären, nicht in den Anderen. Mach ich doch, sagte Karl. Und, fragte Ben. Nein, sagte Karl, ich bin kein Bayern-Fan, weil. Nein, sagte Ben. Du bist keiner. Das ist deine Antwort. Der Rest ist Intellektualität, das bist nicht du. Du bist die Brust deiner Mutter und die Schokolade deiner Oma. Das letzte Wort brachte sie nach Schlesien. Dort war es kalt. Na Jungs, sagte die Rothaarige während sie sich ein paar Spermakrümel aus dem Haar drückte. Na, sagte Ben. Na, sagte Karl. Und welches Verhältnis hast du zu seiner Mutter, fragte Ben und sie drehten sich um und schritten zurück in die Hitze.  

Freitag, 11. April 2014

Die Familienfanatiker

Es war einmal, da traf sich die Welt in „Seinfelds“ Küche und redete über, ja worüber? Alles, also nichts. Egal, aber schön! Ein halbes Jahrzehnt später setzte sich das Publikum in tief gepolstertes Interieur und trank Kaffee. Bei „Friends“ sollten sich am Ende noch alle irgendwie kriegen. Nun ist aus dieser latenten Hinführung, der sich „Seinfeld“ noch konsequent verweigerte und die „Friends“ behutsam abtrug, ein ganzer Dauer-dramaturgischer Strang geknüpft worden, der nun seine titelgebende Entwirrung erreicht hat: „How I Met Your Mother“ hat sein Ende.
Mittlerweile im neunten Jahr sitzt die Gruppe bei Bier und Whiskey. Es ist Abend in New York und die Stimmung seit jeher aufgeladen. Ein paar Staffeln zu lang, ein paar dramatische Schleifen zu viel, aber gut. Sämtliche Möglichkeiten, warum es mit Mann und Frau anfängt oder aufhört, wollten durchexerziert werden. Das Latente ist aus der Welt, der Kaffee kalt, es gilt „Die Eine“ zu finden. Und das ganze Pathos, das in dieser Mission steckt, es erfasst mittlerweile – zum Leidwesen von Kurzweil und Qualität – alle Charaktere. Familienangehörige mussten sterben, Umwege wurden gegangen. Selbst die Karrieristin Robin und Womenizer Barney haben sich finden – müssen. Weil Glück bei „How I Met Your Mother“ dann eben doch nur den einen Weg kennt, den amerikanischen: die Heirat. Wer die Mutter ist – inzwischen nichts weiter als Chronisten-Pflicht. Da war anfangs viel Potenzial, kluge Beobachtungen, die in ihrer Genauigkeit ein Fundament fanden, das in der anschließenden Überspitzung seine telegenen Helden erschuf: Lily und Marschall, das, ja gut, perfekte Paar; die wert-maskuline und doch voll-neurotisch weibliche Robin; der hoffnungslos romantische und dabei wunderbar trotzige Ted, selbstbewusste Prototypen des 21. Jahrhunderts. Und natürlich Barney. Von Autoren und dem schwulen Neil Patrick Harris zur globalen Popfigur gemacht. Und damit, zwischen Oscar-Tanznummern und Bravo-Covern, ganz nebenbei, ganz unaufgeregt, Kämpfer der gleichgeschlechtlichen Liebe. Vorzeige-Metrosexueller, der Frauen nach Themenabenden und Bingokarten aufreißt, zum Leben erweckt von einem, der mit Lebenspartner und ihren gemeinsamen Leihmutter-Zwilligen in jedem Klatschheft lauert. Und niemanden stört es.

Barney dabei zu belassen, ihn Hefner-haft, ohne die große Wandlung, glücklich unliiert altern zu lassen, dafür fehlte der Serie der Mut. Wo geläutert wird, da fallen Authentizitäten. Doch diese Ernsthaftigkeit, die irgendwo ab der vierten Staffel heranwuchs, untergrub auf groteske Weise die Identität der Serie. War diese doch anfangs frei von Zwängen, noch nicht umschlungen von dieser Vorstellung, ja Ideologie, nur Kind und Treueschwur würden dem Leben einen Sinn geben. Und unseres hat dabei nicht mal einen Titel, der verrät wie es ausgeht.  

Sonntag, 26. Januar 2014

Geh doch nach Hause!

My home was my castle. Wir haben die Burg der eigenen vier Wände aufgegeben und diesen einstigen Schutzraum den Versprechungen der Arbeitswelt geopfert. Perfektionismus wurde zur Tugend, Leistungsdenken ein Dauerzustand. Warum man sich Burn-Out und verwandte Krankheiten eigentlich zu Hause holt. – Ein Essay.

Der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Denn Ernesto ist zu Gast und gibt die volle Punktzahl.
Das Perfekte Dinner macht seinem Namen alle Ehre. Kandidat Ernesto trägt eine beige-weiß-karierte Mütze. Dazu ein Sommerhemd, in deren Ausschnitt ein zierliches Goldkettchen verschwindet. Davor das Nummernschild. Dem Kandidat mundete die Bewirtung. 10 Punkte.
Ein Format, harmlos gewiss, und in keinster Weise der Untergang des alteuropäischen Abendlandes. Jedoch Ausdruck eines Phänomens, einer Entwicklung, die über das Symbol und über die kurzfristige Mode bedeutsam ist. Das Private, nicht zu verwechseln oder gleichzusetzen mit dem Begriff der Privatsphäre, unterwirft sich zunehmend den Regeln der Arbeitswelt, den Leistungsprinzipien der Konkurrenz, dem Denken des Kapitalismus. Kochen um jeden x-beliebigen Preis. Der Gewinner hat gewonnen. Und wer gewinnt, hat gewonnen. Geselligkeit als Ergebnissport, Punktesystem inklusive.
Auch für die Teilzeitprominenz gibt es die Variante am Sonntagabend. Man ist nicht zum Kochen in der Sendung, sondern um sich seinen Berühmtheitsstatus zurück zu holen. Wessen Castingband kein neues Album mehr aufnehmen darf, wessen Sportkarriere keine Fortsetzung im Trainerlehrgang findet, wer nichts mehr zu verlieren hat, der kocht.
Auf Vox schauen wir also der Halbberühmtheit beim kulinarischen Anbiedern zu und fühlen uns ihr überlegen. Unter der Woche kochen wir auf gleichem Sender selbst.

Wir haben nicht verlernt zu kochen. Wir brauchen einfach jemanden, der uns sagt, dass alles gut ist. Jamie Oliver, Wohlfühl-Schnibbler vom Dienst, zeigt mit Charme und ewiger Jugend, dass man sich auch für die einfachen Dinge nicht zu schämen braucht. Sein medizinisches Pendant heißt Dr. Eckardt von Hirschhausen. Bei großen Lebensfragen bietet Richard David Precht Orientierung. In Mars-und-Venus-Dingen hilft Mario Barth. Und wer gerade denkt, der einzige zu sein, der nicht weiß wohin mit sich, dem tätschelt die Julia Engelmann der Saison die Stirn. Wo Antworten sind, wurden Fragen gestellt. Wo Fragen sind, herrscht Ratlosigkeit. Von der Küche über den Medizinschrank bis ins Wohn- und Schlafzimmer: Es scheint derzeit viel banalen Klärungsbedarf zu gehen.

Einender Eskapismus im Wohnzimmer

Das eigene Heim verliert zunehmend seinen Schutzraum-Status und bekommt eine gesellschaftlich fortschrittliche Rolle zugewiesen. Nicht erst durch Google-Street-View. Ein Rundgang durch seine einzelnen Räumlichkeiten macht Sinn. Beginnen wir im Wohnzimmer, in dessen Mitte der Fernseher thront, Spielekonsolen zu seinen Füßen. Für diese, ehemals ein reiner Hort des Hedonismus, werden nun Programme entwickelt, die Fitness-Übungen zum Abnehmen oder zur Bewegungssteigerung bereithalten. Die Wii kann sogar Yoga. Gameboy-Spiele definieren ihren Reiz in der IQ-Steigerung. Ein Begriff wie Gehirnjogging kann nur in einer Zeit materiell ausgereizter Ressourcen entstehen. Wir haben unser Heim zu einem physischen wie psychischen Fitnessstudio umgebaut. Die Playstation ist ein Hometrainer geworden.

Ist die Konsole ausgeschaltet, findet der Fernseher seine Funktion als Flucht- und Fixpunkt. Aber auch als Erzieher dient die Gerätschaft. Das Model und der Freak zeigt Erfolgschancen bei Frauen auf, indem es seine opportunistischen Kandidaten irgendwo runter springen lässt, während ihm die Laufstegpomeranze rät, häufiger zu duschen. Die Castingshows lehren derweil, wie wir zu singen haben und vor allem, wie wir nicht zu singen haben. Außerdem erzählt man uns, wenn man etwas genauer hinsieht, dass zu viel Persönlichkeit auch nichts bringt. Was zählt, ist nur ein Satz: „Ich werde alles geben“. Ob als versuchtes Model, Sänger oder Gastgeber: „Ich werde alles geben“, wie auswendig gelernt. Nein, es ist auswendig gelernt. Wenn Sportkommentatoren lobende Worte für jemanden finden, heißt es meist: „Er hat alles richtig gemacht“.
Unsere Sprache hat sich verändert. Wir haben Begriffe wie Life-Coach oder Performance-Angst einfach und unkommentiert in unseren Wortschatz gelassen. Im Fernsehen haben wir sie zum ersten Mal gehört.
Nur Doku-Soaps spenden ambivalenten Trost. Bei allem Versagen, so peinlich wie die Familie am RTL-Nachmittag ist man dann doch nicht. Das Privatfernsehen ist geprägt von Eskapismus und Unsicherheit. Eine Sendung wie Das Supertalent beruht einzig auf dem Prinzip der Präventiv-Wertung. Schon in der obligatorischen Ankündigung eines Kandidaten erfährt der Zuschauer, ob er gleich zu jubeln, zu staunen oder zu buhen hat. Das voran gestellte Video erzählt dafür, ob der folgende Vortänzer einen tragischen Familienfall zu pflegen hat, sich trotz seiner ärmlichen Verhältnisse Lebensfreude und Optimismus bewahrt hat oder leidenschaftlicher Sammler gebrauchter Unterwäsche ist. Die Prophezeiung hat sich selbst erfüllt, bevor auch nur ein Schritt getanzt oder ein Ton gesungen ist. Das Glückmoment der Gruppenzugehörigkeit im gemeinsamen Fühlen und Handeln, wie plump und manipulativ dieses auch entstehen mag, ist elementar für den Erfolg solcher Sendungen. Eine unsichere Gesellschaft zeichnet sich durch äußere Homogenität aus, nach der sie strebt und die ihre eigene Ausbreitung vorantreibt. Selbst die Quoten-Schwarze und die Quoten-Blonde, die Dieter Bohlen flankieren, versichern sich in Körpersprache und Mimik regelmäßig beim Mann in ihrer Mitte. Ob sie das Dargebotene nun gut oder schlecht zu finden haben, ob er den Daumen hebt oder senkt. Dabei steht dies immer schon vorher fest.
Der Fernseher ist eine letzte Flucht vor der Welt geworden. Er nimmt einem das Denken und sogar das Fühlen ab, und betreibt gleichzeitig kulturästhetische Erziehung. Eine letzte passive Insel der Nicht-Überforderung in Zeiten der mentalen Überschwemmung und der Aktivitätspflicht. Das Medium, welches mal das Fenster zur Welt sein wollte, ist die letzte Ablenkung vor ihr.

Diplom-Küchentischpsychologen

Neben dem Fernseher liegt ein Stapel Illustrierte. Meist ist es gleich ein ganzer Haufen, gerne auch auf dem Klo platziert. Auch wenn jedes Heft identisch gestaltet ist, scheint der Markt eingängiger Frauenzeitschriften nie gedeckt. Fast jedes Exemplar bietet Tipps für die unterschiedlichsten Lebenslagen. Viele davon betreffen den öffentlichen Raum, das Schminken, die Mode, das Verhalten gegenüber dem Chef, den Kollegen. Doch auch die engste Umwelt besitzt Optimierungsmöglichkeiten. Wie man mit Freundinnen umzugehen hat, mit Geschwistern und, naturgemäß häufig: dem Partner. Das Leben ist zu einer ewigen Fortbildung geworden. Freundinnen machen Persönlichkeitstests, Beziehungen beginnen gleich in der publizistischen Paartherapie. Alles kann verbessert werden: Die Körpersprache beim ersten Date. Die Art, mit der man sich vor dem Sex auszieht. Die richtige Wortwahl bei der zweisamen Generalkritik. Man analysiert sich in die Depression. Gibt man bei Amazon die Worte „Ratgeber“ und „Liebe“ ein, erhält man gut 6600 Treffer. Bei „Ratgeber“ und „Geld“ ist es weniger als die Hälfte. Wer so viel zu verbessern hat, so unperfekt ist, kann gar nicht geliebt werden. Die eigene Unsicherheit wird auf die Zöglinge übertragen. Absolute Spitzenreiter bleiben demnach die Erziehungsratgeber, mit fast 30.000 Vorschlägen. Selbst die eigene Emotion steht auf dem Prüfstand. Und lieben tut man – so viel haben wir von Bridget Jones noch behalten – leidenschaftlich, kompromisslos, ewig. Ohne jeden Zweifel. Und wenn eine Kleinigkeit am Partner nicht stimmt– so viel haben wir von Carrie Bradshaw noch behalten – hat man Reißaus zu nehmen. Auf der Flucht vor sich selbst. Wenn wir nicht lieben oder nicht geliebt werden, gibt es dafür nur einen Grund: die eigene Fehlerhaftigkeit. Um es mit Heidi Klum zu sagen: Man hat nicht alles gegeben.
Das Grundniveau an psychologischem Halbwissen und Selbstreflektion ist so hoch wie nie. Wir wissen, dass wir eigentlich nur Angst vor Nähe haben oder dass wir eigentlich nur Menschen suchen, die wie unsere Eltern riechen. Die Ausschlachtung der Ratio hat uns alle zu großartigen Küchentischpsychologen ausgebildet. Nur führt eine wissende Ratio nicht zu einer höheren, emotionalen Reife. Reflektion ist lediglich das ewige Lamentieren über sich selbst, das immer nur neue Bereiche der emotionalen Schwäche benennt, aber nicht bekämpft.

Die Treppe hinauf gelangt man ins Schlafzimmer. Im Bett hat man selbstredend genauso zu funktionieren. Selbst im Intimsten hat das Prinzip der Leistungserbringung Einzug erhalten. Der ehemalige Schutzraum Sexualität bricht auf, wird durch Phänomene wie YouPorn gleich geschaltet, die wie das Fernsehen ästhetische Erziehung betreiben. Der richtige Sex: Es gibt ihn. Er ist unbehaart, ausdauernd, abwechslungsreich, spontan und sowieso. Der Aufstieg des Pornos aus dunklen Kellern in die beiläufige Häuslichkeit des Internets hat ihm den verruchten Charakter, die spannende Aura der Andersartigkeit genommen. Früher waren der Porno und seine Darsteller etwas aus einer anderen Welt. Heute drehen wir alle unseren eigenen. Zu sehen in der Kategorie Amateur. Der Sexfilm gilt nicht mehr als exotisches Etwas, das man sich verklemmt bis verstört, innerlich distanziert bis heimlich-fasziniert ansieht. Er ist zum Standard geworden, den wir täglich versuchen zu erreichen. Und wenn man etwas erreichen kann, kann man dabei scheitern. Wenn wir glücklich sein können, sind wir es nicht. Auch schon vor dem Sex, also im Bad gibt es einheitliche Auswüchse. Früher war es für die Frau unmöglich, den Kampf gegen die eigene, freiheitsheuchelnde Behaarung anzutreten. Heute dagegen muss jede Dame – und der Fairness halber sei gesagt, dass auch Männer zunehmend häufiger solchen Pflegeauflagen unterliegen – sich von sämtlichen Auswüchsen unterhalb der Schultern entledigen. So oder so: es bleibt ein Hygiene- und Schönheits-Diktat. Die Frage der Intimrasur ist keine Frage. Man hat keine Wahl.

Ich teile mich mit, also bin ich

Beim Thema Sex ist man heutzutage wie konditioniert am Computer. Der Laptop wird ja auch – so zeigt es uns beispielsweise die (kinderfreundliche) Werbung – direkt mit ins Bett genommen. Dass aus der dauerhaften Möglichkeit der Internetnutzung und Erreichbarkeit über W-Lan und Smartphones unmittelbar der Zwang der Erreichbarkeit wird, verrät die Telekom-Werbung nicht. Natürlich kann Oma jederzeit Mails checken. Aber der Chef kann auch jederzeit solche senden – und verlangen, dass diese umgehend gelesen werden.
Das Internet im Allgemeinen und Facebook im Speziellen sind natürlich zu nennen, wenn es um die Vermischung einstmals getrennter Welten geht. Wenn Intimes und Öffentliches eine undurchsichtige Mischform bilden. Der Like-Button ist vielleicht das deutlichste Bild für die Unterordnung intimer Dinge unter einem Prinzip der Leistung. Etwas gut finden lassen, heißt immer auch, es der eventuellen Missbilligung anderer zu unterwerfen. Doch trägt man in Netzwerken sein Privates nicht nur in den öffentlichen Raum und gibt ihn damit zur Bewertung frei. Das Internet ist zu einem Echtzeitmedium geworden. Die Bewertung findet simultan zum Erlebten statt. Das Foto aus der ersten Reihe, das Video der neuen Single wird noch auf dem Konzert hochgeladen und damit auch noch während selbigem bewertbar. Gerne wird auch die gerade zubereitete Mahlzeit fotografiert und gepostet. Wo wir wieder beim perfekten Diner wären. Etwas zur Bewertung freigeben heißt, sich abzusichern. Mache ich auch alles richtig, ist die Frage, die hinter der Pasta im Profil steht. Ist alles gut bei mir? Jetzt? Während die Angst vor dem Alleinsein alles umschließt. Und Mobilfunkanbieter zeigen währenddessen Hipster, die während des Bungee-Sprungs ihren Freunden erzählen, wo sie gerade sind. Ein Glücksversprechen: Ohne die Teilhabe anderer ist das Eigene, das Innere nichts wert. Es existiert gar nicht. Ich teile mich mit, also bin ich. Es gibt nichts Privates mehr, weil sich das Private neuerdings erst durch seine Präsenz im öffentlichen Raum definiert.

Nachdem man also zwischen Lokalsportteil und Aufwach-Zigarette seine Mails gecheckt hat, fährt man zur Arbeit. Im Radio redet ein Wirtschaftsweiser. Aber man hört nicht hin. In Gedanken legt man sich bereits seine Worte zurecht. Die letzte Nachricht hat das Thema des ersten Meetings preisgegeben. Was schrieb Gordon Gekko uns noch gleich ins Notizbuch: „Lunch is for pussys!“

Der Rhythmus, bei dem man mit muss

Das Wesen des Kapitalismus ist der Fortschritt. Das Wesen des Fortschritts ist die Verbesserung, gerne auch Optimierung genannt. Und da ist der Optimismus gleich mit drin, also die Werbung.
Werbung ist auf eine Aussage zu reduzieren: Es ist möglich, glücklich zu sein. Womit, wodurch oder wie erklärt jeder Reklamekontakt für sich. Wenn wir glücklich sein können, bekommen wir damit aber eigentlich gesagt, dass wir es im Moment nicht sind. Optimierung, Perfektion ist ein Loop, eine Endlosschleife, ein Hamsterrad.
Genauso wie die Werbung ihr Bestehen aus dem dauerhaften Vorhandensein eines Verbesserungspotenzials konstruiert, ist im Kapitalismus der Fortschritt ein immer währendes Moment. Der Weg, der Anstieg ist das Ziel. Rentenalter werden herauf gesetzt. Schüler früher eingeschult und vor allem: früher durchs Abitur geprügelt. Den protokollartigen Auslandsaufenthalt zwängt man sich trotzdem noch irgendwie in den Lebenslauf. Englischunterricht gibt es ab der ersten Klasse, Geografieaufgaben werden bereits im Kindergarten gestellt. Auch Noten fürs Betragen schaffen es immer wieder aufs Zeugnis. Druck allerorten. Wer es nicht aufs Gymnasium schafft, verliert. Der Lebensweg entscheidet sich am Ende der Grundschule. Da ist sie wieder, die Undurchlässigkeit, die Bewahrung der Homogenität, nach der unsichere Gesellschaften immerzu streben.
Auch wenn in der Workload-Überforderung das unzureichende Klischee der bösen, fiesen Arbeitswelt steckt. Mit dem Wegbrechen einer ideologischen Alternative, und wenn sie noch so sozialistisch-fragwürdig war, ist auch die Frage nach der Veränderung gewichen. Nützt ja doch nichts, wird auf eingebrachte Zweifel entgegnet und weiter gemacht. Der Körper kennt darauf immer nur die Antwort des unkontrollierten Ausbruchs, des Hilfeschreis. Ausgebrannt ist man dann, verenglischt: Burn-Out. Doch der seelische Zwilling der Depression kämpft weiter um den Titel des Leidens mit dem schlechtesten gesellschaftlichen Stand. Ein Bein kann sich jeder brechen. Krebs bekommen, ist Schicksal. Aber traurig sind nur die Schwachen. Dies sei nur eine Mode, ist da der häufig gebrachte Einwand. Alle wären sie jetzt erschöpft, das geht vorbei. Doch offen geht weiterhin niemand damit um. Mag die Anzahl der Krankschreibungen auch seltsam rapide gestiegen sein – was vielleicht sogar nur der Tatsache geschuldet ist, dass diese Krankheit endlich einen Namen hat –, zugeben tun die wenigsten, deswegen in Behandlung zu sein. Allein die bloße Existenz der Frage, ob es sich bei diesem Leiden nicht einfach um eine fragwürdige und faule Generalentschuldigung der Arbeitenden handelt, zeigt die Rechtfertigungsnot, in der sich Erschöpfte und Ausgelaugte sehen. Da wählt man lieber die Taktik der körperlichen Verdrängung. Symptome wie Müdigkeit und Nervosität werden unterdrückt und bekämpft. Ritalin ist bei Schülern und Studenten der neue Traubenzucker. Der Energiedrink Red Bull verkaufte sich im Jahr 2010 4,2 Milliarden Mal. Für dieses Jahr wird der Rekordabsatz von 4,6 Milliarden erwartet. Dreimal so viel wie noch 2005.
Mit der zunehmenden Angst im Perfektionierungsdauerlauf auf der Strecke zu bleiben, also im Wettrennen gegen eine fiktive Masse, die scheinbar immer besser, länger und gewissenhafter arbeitet als man selbst, entscheiden sich immer mehr Angestellte für die Arbeit und gegen die Freizeit. Womit diese Entscheider zur eigentlichen, weiterhin unfassbaren, fiktiven Masse werden, an der sich andere wiederum orientieren. Es ist eine nur schwer zu durchbrechende Abwärtsspirale. Doch die Entscheidung für oder gegen die Freizeit ist letztlich eine genauso autonome wie jede andere. Konkurrenzdruck ist immer eine Größe, der man sich genauso entziehen kann, wie man sich freiwillig auf sie einlässt.
Doch die Schwierigkeit ist nicht zu leugnen: Karriere gegen Spaß. Der berufliche Erfolg ist neuerdings nur noch zum Nachteil des Privatlebens zu erreichen, nicht mehr im Einklang mit ihm.

Vom Privaten zum Politischen

Die Aufgabe Freizeit und Arbeit in Einklang zu bringen, ist nicht neu. Die Wirtschaftswunderer grenzten das Private vom Beruflichen ab, in dem sie es mit dem Geschlecht verbanden. Ohne Frauen war der Arbeitsmarkt nur noch halb so voll, weshalb jedes nostalgische, glorifizierende Sehnen nach jenen Tagen immer auch etwas arg Verdrängendes hat. Und dennoch: „Samstags gehört Vati mir“ war zwar Verstärkung patriarchalischer Strukturen, aber genauso die quantitative Zusicherung von Freizeit. Das Waschen des Autos, zugegebenermaßen ein miefiges Hobby, war immer noch ein Hobby.
In der 68er-Bewegung dann entwickelte man die Idee einer von der Arbeitsobrigkeit befreiten Lebenssituation, in dem man das Private, die Selbstverwirklichung nicht zum wichtigsten, sondern zur alternativlosen Allheiligkeit erklärte. Die einstmalige Grenze, die man mit dem Schließen der Haustür zog, verwischte. 1970 wurde in der Frankfurter Eppsteiner Straße 47 das erste Mal ein Haus besetzt. Das Private wurde politisch. Die Häuserwand zur Kampfzone. Die Zeit war voller Dogmen. Eine sich schminkende Frau war Antifeministin. Das Ideal der freien Sexualität war letztlich das Diktat der sexuellen Freigiebigkeit. Frei hieß groteskerweise nur, was dem Ideal entsprach – oftmals schlicht die plumpe Umschichtung des Vorangegangenen. Frei wäre gewesen, sie hätten gerufen: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört zwar zum Establishment, aber hey, jedem das Seine, ihr Spießer. Klingt fast genauso catchy. Womit wir nochmals zur Werbungssprache zurückkehren.
Bis in die 60er Jahre fristete das Wort Mehr in der deutschen Werbesprache eine untergeordnete Rolle. Inhaltliche Begriffe wie Frisch oder Schmeckt waren ihm einige Nennungen voraus. Erst in den 70ern wurde Mehr häufiger genutzt, stieg aus unteren Top 20-Platzierung bis auf Platz drei. Dort steht der Begriff bis heute. Im Geschäftsjahr 2010/2011 wurden nur die Wörter Wir und Leben öfter in Werbeslogans verwendet.
Das Mehr ist gleichermaßen Dogma wie Zugpferd einer vereinheitlichenden Entwicklung geworden, die bis heute anhält. Der konservative Backroll heutiger Mittdreißiger, die Sehnsucht nach Stabilität, die Konzentration auf das kleine, private Glück, fernab großspuriger Ideale, die über die Kernfamilie hinaus gehen, ist nicht wie oft behauptet, eine Rückbesinnung auf Nachkriegswerte. Es ist eine erneute Steigerung, ein erneutes Mehr. Waren die monogamen 50er auf den materiellen Aufstieg fokussiert, koste es was es wolle, probten die Hippies den Ausstieg, der letztlich nur ein Einstieg in eine neue Welt voller Wertvorgaben war.
Ganz im Wesen des Kapitalismus, der sich nach dem Ausreizen eines Wirkungsfeldes einem neuen zuwendet, ist die Logik der Leistungserbringung nun vom rein beruflichen ins private Leben übergegangen. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, in dem man nicht funktionieren muss.
Demnach sind die Burn-Out-Fälle, die Ritalin-Junkies, die überforderten Grundschüler und ihre Eltern nicht einfach die Resultate eines Kapitalismus, der sich unersättlich im Ausloten seiner Grenzen zeigt, und dem man sich klagend ergibt. Letztlich sind sie das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Verteidigung des Schutz- und Rückzugraums Privat. Überarbeitung als qualitatives Problem.
Wir lassen uns das Rauchen verbieten, unsere Butter ist cholesterinfrei, wir leben in dem Bewusstsein, dass Sex mehr Kalorien verbrennt als Joggen. Der Fortschritt, er hört nie auf. Wir öffnen ihm die Tür. Wir ließen das Drehteam hinein, uns beim Kochen zu begleiten. Wir geben uns im Internet und sonst wo zur Bewertung frei. Wir lesen die Zeitschriften und Ratgeber, die wir lesen. Wir gucken die Sendungen, die wir gucken.
Für sein Privatleben – soweit liegt es dann doch noch in der Natur der Sache – ist am Ende eines langen Arbeitstages immer noch jeder selbst verantwortlich. Worin aber ein Hoffnung spendender Lösungsansatz steckt.
Beim nächsten Konzert die Kamera auslassen. Freunde zum Essen einladen, ohne Sorge um den Hauptgang. Solange genügend Wein im Haus ist, ist die Würze des Hauptgangs nicht entscheidend. Mal wieder den Tetris–Highscore knacken und nicht durch den Vorderlappen joggen. YouPorn als das annehmen, was es ist: gute Comedy. Dass die Karriere ihren Platz herrischer einfordert als früher, ist unumstritten. Umso wichtiger ist es für jeden Einzelnen, sich seine stress- und leistungsfrei-Zone zu erhalten.
Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wir sind, liebe Werbung, ganz und gar nicht glücklich. Aber wir könnten es wieder werden.