Montag, 4. Oktober 2010

C'est la vie, la bourgeoisie

„Ich mag Frauen, die langweilige Bücher lesen“, behauptete er und wollte seine Worte sogleich zurück. Wie eine betrunkene SMS waren sie ihm heraus gerutscht. Nur mit dem Unterschied, dass er in diesem Moment nicht unter Alkoholeinfluss stand. Im Gegenteil; es war die Coolness, das aufgesetzt Lässige, was ihn anzog. Im Starbucks muss man nicht „man selbst“ sein. Man kann sich ehrlich und aufrichtig seiner affektierten, eitlen und aufgesetzten Seite hingeben. Ist man doch sonst zur nervigen Selbstfindung gezwungen. Ein wahrlich befreiendes Gefühl. Ein Gefühl, welches jeden überteuerten Kaffeepreis wert ist. Mehr noch: was jenes Gefühl überhaupt erst ermöglicht. Selbst wenn er eigentlich immer nur Kakao mit Sahne bestellte.


Doch das alles nütze ihm in diesem Moment nichts. Seine an das hübsche Mädchen gerichteten Worte standen nun im nach olivgrünen Sofas und braunen Sesseln riechenden Raum. Das Mädel guckte freundlich verstört. So wie man in dieser Stadt nun mal häufig guckt, wenn auch häufig ohne Anlass. Aber ihr Blick offenbarte eher ein akustisches Problem und keine Verständnislosigkeit über seinen jämmerlichen Versuch ein Gespräch mit einem Kompliment oder etwas derartigen zu beginnen. Alles war noch einmal gut gegangen.


„Ich mag Frauen, die langweilige Bücher lesen“, wiederholte er und wollte erneut seine Worte sogleich zurück haben. Was war mit ihm los?

Der Vorteil an betrunkenen SMS ist der, dass man sich erst am nächsten Morgen mit ihnen rumschlagen muss. Wenn der Körper eh nichts von einem will, außer etwas Ruhe, amerikanischer Filme und jeder Menge Wasser. Wenn der Tag eh verloren ist. „Deutsche Filme kann man nicht betrunken gucken. Könnte man deutsche Filme betrunken gucken, wären sie erfolgreicher“, dachte er bei sich, ehe ihn ihr Blick zurück in die Wirklichkeit zog.

Ihr Blick war voller Unverständnis. Sie nahm das Reclamheft in beide Hände und presste es schützend an sich. Sie trug keinen Ausschnitt. Zu Zeiten des Oktoberfestes hatte das durchaus seinen Reiz, war aber nicht der Grund für sein Handeln.

„Nein!“, entgegnete sie.

„Nein?“

„Einfach Nein.“

„Nein zu was?“

„Nein zur Langeweile.“, grinste sie und knallte das Buch auf den Tisch, als ob sie vergessen hätte im Starbucks zu sitzen. Niemand schaute auf. „Effi ist nicht langweilig. Effi ist toll.“Effi ist eine Heldin!“

Er guckte herausfordert: „Für wen? Für dich?“

„Ja“, sagte sie so vorlaut und selbstverständlich wie eine fünfjährige, die Paula heißt und keine Angst vor dem Nachbarshund hat. Er hatte sich verliebt.

„Und Crampas?“, fragte er ohne wirklich zu wissen, was die Frage eigentlich sollte. Irgendwie wollte er wohl zu Verständnis geben, dass er jenes Buch gelesen hatte. Was ihm bei näherer Betrachtung noch dämlicher vor kam, als sein anfänglicher Versuch diese Konversation einzuleiten. Schließlich garantierte die Frage nach einer Roman- oder Dramenfigur noch lange nicht die Kenntnis des Stoffes, in dem diese aufzufinden war. Folglich ergänzte er seine Frage: „Wie weit hatte er sie denn nun – in der Kutsche?“. Ein Ansatz von Eloquenz war ihm da geglückt und er gewann sich ein Lächeln ab.

„Die haben es wild getrieben – in der Kutsche, die zwei. Jetzt weiß ich aber auch, warum du das Buch nicht spannend findest. Die fehlt da was.“ Er hatte sich verliebt.

„Wo fehlt mir was?“, fragte er sich und gab die Frage weiter.

„Du hast da nichts, wo etwas sein muss, um das zu verstehen.“

Er guckte verstört. So wie man in dieser Stadt nun mal häufig guckt.

„Es geht nicht ums Verstehen.", fuhr sie fort: "Es geht ums Fühlen. Du bist ein Mann. Du bist ein Augentier. Du tanzt nicht!“

„Wer tanzt denn bitte in dieser Stadt? In dieser Stadt wird nicht getanzt, hier wird performt.“

Von dieser Bemerkung musste sie lachen. Sie verstand. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, hörte aber nicht auf zu kichern. Wenige Menschen schauten kurz auf. Frauen müssen nicht witzig sein, sie müssen nur an den richtigen Stellen lachen. Die Besten können aber beides, malte er sich aus und hatte sich erneut verliebt.


Liebe ist in den Grundzügen ihrer Existenz unvollständig. Nur dann kann sie romantisch sein. Romantik ist das Gegenteil von Perfektion. Deshalb steht die Romantik auch dem Tod so nah. Die Vergangenheit, die Erinnerung überdauert immer die Gegenwart. Romeo und Julia müssen sterben, sonst merken sie bald, dass sie sich nichts zu sagen haben, vergessen gegenseitig ihre Geburtstage und schlafen mit ihren Geschwistern – weil es sonst langweilig werden würde. Die Familien bekriegen sich ja nicht mehr.


Er verabschiedete sich. Von dem Converse-Ordner, dem MacBook, dem United-Nations-Kugelschreiber, der Bench-Jacke, ihrem selbstgestrickten Schal, ihren mittellangen, braunen Haaren und ihrer zierlichen Lehramtsbrille. Sie hinderte ihn nicht zu gehen. Ein Tatbestand, den sie Abends im Bett noch bereute.

Er trat auf den Odeonsplatz hinaus, ging an dem Café vorbei, wo sie sich beim Reden nicht angucken. Stattdessen sitzen sie parallel nebeneinander, beäugen das Gewusel des Platzes und hoffen so selbst Beachtung zu erfahren. Ein jämmerliches Bild ist das.

Von dort stieg er zusammen mit einer grauen H&M-Masse in die U-Bahn und dachte nicht an zu Hause. Am Stiglemeierplatz stieg er die Rolltreppe links hinauf, während ihm die Menschen rechts aufgereiht Platz machten. „Das vielleicht eindeutigste Zeichen für eine Weltstadt, ist das Rolltreppen Verhalten ihrer Bewohner“, dachte er etwas stolz. Er ging ins Theater, sah einen russischen Autor zu , wie er dort zur Schmierenkomödie herunter gestutzt wurde und anschließend schwärmte ein Regiestudent davon, wie gut doch der Raum genutzt worden war. Was er äußerlich nickend entgegen nahm, während er innerlich nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte.

Schließlich ging er nach Hause. Am nächsten Morgen gelangte er von dort in die Uni und blieb für ein paar Jahre, lass jede Menge dicke Bücher und sah unzählige, schlechte Inszenierungen davon, traf das hübsche Mädchen nie mehr wieder, trank jede Menge überteuerten Kakao mit Sahne und schrieb betrunkene SMS. Er verliebte sich unzählige Male.