Donnerstag, 9. April 2015

Bielefeld, 08.04.2015, 21:41 Uhr

Als Manuel Junglas' an den zweiten Pfosten gehobener Ball sich entschließt vom Aluminium hinter die Linie zu springen und dem Netz in die Arme zu fallen, tut sich vor mir das Meer auf. Ein Block sucht nach Halt – vergebens. Ich habe Joke an meiner Schulter. Sie schreit mich an, ich schreie sie an. Augen auf, Mund auf. Wir springen, die Hände aneinander – wie Schulmädchen. Der Boden vibriert, die Zeit fällt auseinander. 5 Sekunden, vielleicht 10. Das Bewusstsein schleicht zurück: Wir führen. Gegen Gladbach. Im Pokalviertelfinale. Und das ist, verdammte Axt, erst der Anfang.

Ein paar Minuten später, ein Aussetzer, der Ausgleich fällt per Elfmeter und der Abnutzungskampf, der dieser Pokalfight ist, geht in die nächste Runde. Das Rund braucht ein paar Minuten, die Halbzeit tut allen gut. Nach dem Wechsel das gleiche Bild wie zuvor. Eines, das eigentlich eine Haptik ist. Es ist ein physikalische Größe. Vielleicht in Dezibel zu messen, aber nicht nur. Das Kratzen in der Kehle, das mit jeder Minute größer wird. Ein kleines, großes, volles Stadion probt das Wir. Wieder und wieder: Wir. Hörbar, sichtbar, erahnbar. Hendrik Buchheister twittert: „Unfassbar, was hier los ist, wenn's Einwurf für Arminia gibt. Wie die Leute erst abgehen müssen, wenn ein Tor fällt.“ Dann trifft Junglas und die explosivste Mischung, die ein Fußballplatz überziehen kann, in Mitten einer Stadt, die immer schon glaubte, den kürzeren Strohhalm zu ziehen, wird plastisch: Das Gefühl von Chancenlosigkeit trifft auf das Gefühl von Selbstbewusstsein. Versager, Pechvögel, Dornenkönige – heute nicht! Eine Groteske, die nur der Fußball, nur der Pokal entwickelt.
Nach dem Wechsel hat der DSC den Ball noch weniger als zu Beginn. Das Spiel wird langsamer, das Publikum stabiler. Das dunkle Zittern des Anfangs ist einer Brandung gewichen. Tumulte wurden geeint, eine Front in 360 Grad. Auf einmal ist alles einfach. Alles ist ein Sieg. Klos hält einen Ball gegen 2 – Sieg. Schütz treibt den Ball – Sieg. Brinkmann knallt. Der Ball muss nicht rein - alles ist ein Sieg. Einmal ist Kramer durch und stolpert, einmal haucht Traores Ball um den Pfosten. Du bist kein Robben, rufe ich: Aber wir sind Bielefeld. Alles ist ein Sieg, alles macht Sinn. Heute nicht, rufe ich, wie so oft. Heute nicht! Den Tod verschieben. Die Niederlage ihrer Isolation überführen, die Natur bändigen – Heute nicht, rufe ich. Heute nicht!
Dann ist Abpfiff. Dann ist Verlängerung. Dann köpft Klos den Ball 30 Zentimeter daneben und ein rothaarige Dame auf der Haupttribüne sieht so aus wie ich mich fühle und fühlt so wie ich aussehe (Minute: 11:24). 

Elfmeterschießen. 1200 Kilometer für 120 Minuten und 12 Elfmeter. Lorenz hat es auf dem Fuß. Sein Fehlschuss hängt die Dornenkrone über die Alm. Es steckt nur noch ein Strohhalm im Glas. Darmstadt. Kruse trifft. Darmstadt, oh Gott. Endstation Todessehnsucht. Burmeister wankt heran, trifft, küsst wach. Schowlow hält! Schwarz vor Augen! Zerrbild der Bewegung! Ein Etwas, zu groß für Worte! Ich küsse jedes Gesicht, dass mir in die Arme fällt. Ich werfe Joke in die Luft. Wohin? Wohin? Wohin? Hände um den Kopf, er zerplatz sonst. Bier regnet. Die Dinge quellen über. Ich weine. Ich schreie. Ich weiß nicht wo meine Hände sind. Ich weine. Ich nehme Joke in den Arm. Meine Augen auf ihre Schulter gepresst. Halt finden. Atmung wiederfinden. 30 Sekunden, die keine Zeit sind. 30 Sekunden, außerhalb von allem erdlichen. Das Bewusstsein tanzt zurück. Ich muss Kinder zeugen, damit ich ihnen hier von erzählen kann. Wo sind wir? Bielefeld, Bielefeld, hallt es durch die Nacht. Und in Alicante geben Freunde der gesamten Bar 3 Runden aus. 
Irgendwann - wahrscheinlich später - ziehen wir über den Siegfriedsplatz. Zenon twittert: "Bielefeld ist weiter. Luhmann hätte wohl gesagt: „Hohe Kontingenz von Ereignissen bedeutet, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.“ Die Reflektion malt das Wort Stolz auf die Haut. Heimat, als eine Ansammlung von Humor und Minderwertigkeit – hervorgebracht im seltenen Moment des Sieges. Die SZ an nächsten Morgen beginnt mit: "Sorry, liebe Gladbacher, aber das musste sein. Arminia Bielefeld musste sensationell als Drittligist ins DFB-Pokalhalbfinale einziehen. Kein anderer Klub hat das Glück so sehr verdient." Der WDR wird schreiben: Bielefeld hat die Tristesse hinter sich gelassen.

Zuhause wartet der Whiskey und die Sky-Mediathek. Rewatch. Joke ist still. Ich bin still. Der Kommentator hat's verstanden, die Luft schmeckt salzig, alles ist im Gleichgewicht. Ich weine noch ein wenig, dann hält Klos den Ball gegen 2, Mast legt zurück und Junglas hebt den Ball an den zweiten Pfosten. Und das ist heute, morgen, ab jetzt für immer, immer erst der Anfang.