Dienstag, 21. September 2010

Sarrazin ist immer als Letzter gewählt worden

Eine Gegenpolemik mit Anspruch auf Diskurs.


Thilo Sarrazin hat gewonnen. Dieser Satz steht hier am Anfang und wird am Ende stehen. Die Erklärung für meine Behauptung möchte ich dazwischen legen.


Dafür ist es nötig zu verstehen, was der Begriff Agenda-Setting bedeutet. Letztendlich sammelt der Ausdruck alle Prozesse und Entwicklungen in sich, die an der Mitbestimmung und der Festlegung der behandelten Themen in einer Öffentlichkeit beteiligt sind. Agenda-Setting ist die Tagesordnung und somit auch der Kampf um jene. Denn das etablieren eines Themas, eines "Diskurses" wie es so oft genannt wird, ist ein politisches Instrument. Eines, das für sich steht, Macht besitzt. Es gibt gerade in der Medienwissenschaft, die natürgemäß ihrem eigenen Forschungsobjekt eine potente Stellung zuweist, einige Ansätze, die Agenda-Setting als wirkungsvollstes, wenn nicht gar einzig wirkungsvolles, politisches Instrument betrachten.


Es ist nur zu erahnen, aber meiner Vermutung nach, liegt ein wesentlicher Grund dafür in der immer kürzer werdenden Taktung und Dauer von politischen Kommunikationsmomenten. Auf deutsch: vor ca. 30 Jahren sprach ein Politiker zu einem Thema in der Tagesschau im Schnitt 30 Sekunden. Heute sind es etwa 8 Sekunden. Natürlich wird in 8 Sekunden deutlich weniger erzählt, als in fast 4mal so langer Zeit. Der Politiker, ob er nun will oder nicht, bewegt sich dabei also in einem Prozess, der ihm nicht die Zeit gibt, die er benötigt, um das zu tun, was er theoretisch immer tun will; argumentieren. Stattdessen wird nicht erwähnt, bzw. nicht in den Beitrag geschnitten, warum etwas richtig oder falsch ist, sondern nur noch erklärt, dass es so sei. Um dieser Problematik vorzubeugen, behilft sich der mediale Akteur eines Kniffs: er benutzt Schlagworte. Ausdrücke, die für sich stehen. Nicht Themen-bezogene Vokabeln, die dem Publikum intuitiv mitteilen, was richtig und was falsch ist. Regierungsmitglieder nennen„Zukunft“, „Aufschwung“, „Stabilität“, „Sicherheit“ oder „Freiheit (in den USA kommt noch „Gott“ dazu), die Opposition kontert mit „Frechheit“, „Verfassungswidrig“ „Klientelpolitik“ oder auch einfach „Krise“. Natürlich sind das keine heiligen Grale, die ich hier aufliste, aber diese Tendenzen im politischen Diskus sind unverkennbar.


Ein Diskurs, der einen Protokoll-artigen Zustand erreicht hat. Auf jedes Schlagwort, fällt der fällige Gegenbegriff. Auf jedes „Terrorgefahr“ folgt ein „Bürgerrechte“. Führt man diese Logik weiter, wird der entscheidende Punkt meiner Argumentation deutlich: der heutige politische Diskurs ist kein Prozess im klassisches Sinne, also mit einem Anfang und einem unbekannten, offenen Ende, sondern eine Wiederholung. Der heutige politische Diskurs, also die mediale Darstellung von konträren Positionen und Ideen ist durchgespielt, abgesprochen, wiedererkennbar. Es ist vorher bekannt, wer welches Gesetz befürworten oder ablehnen wird, wer zufrieden und wer beschämt ist. Es ist das immer gleiche Theaterstück. Der gleiche Text in wechselnder Besetzung.


Das dabei nicht selten von einer Inszenierungs-Politik die Rede ist, ist je nach Quelle dieser Bezeichnung entweder treffend oder ungewollt komisch. In Talkshows werden die Darsteller deshalb auch gleich in immer wiederkehrender Reihenfolge platziert: von Links nach Rechts, von Israel nach Palästina, von Lafontaine nach Westerwelle.


Aus dieser Paraphrasierung von Abläufen folgen im wesentlichen zwei Dinge. Eine unglaublich stark ausgeprägte Politikverdrossenheit, die ein Ausdruck von Langeweile und Gleichgültigkeit ist und eine Stagnation in einem Punkt, den viele für den grundsätzlichsten, wichtigsten Baustein einer demokratischen Gesellschaft begreifen: Meinungsbildung. Meinungsbildung. Wenn die Argumente bereits vorher bekannt sind und man selbst weiß, wann welches vorgetragen wird, entstehen beim Zuschauer keine neuen, progressiven Ansätze, sondern es werden bereits vorhandene Einstellungen und Eindrücke bestätigt. Jeder nickt, wenn sein Politiker im Bild ist, niemand wird überzeugt, umgestimmt oder wenigstens ins Grübeln gebracht. Deswegen müssen Westerwelle und Künast ja auch zu allem ihren Senf dazu geben. Quantität vor Qualität.


Aus diesem Grund ist Agenda-Setting so ein unglaubliches Machtinstrument. Wer bestimmt worüber „diskutiert“ wird, bestimmt die Meinung. Da die ausgestellten Themen nur eine Art Erinnerungsfunktion beim Wähler erfüllen. Der heutige politische Kampf stellt sich nicht mehr die Frage „Wer hat die besseren Argumente?“ sondern nur „Welches Thema wird für wichtig erachtet?“ Weswegen die Bildzeitung weiterhin der wichtigste Faktor in unserer politischen Kultur ist. Schließlich beantwortet sie diese Frage täglich, und zwar ohne jede Zweifel oder Abstriche. "Und die Dummheit siegt, weil ja der Klügere nachgibt", riefen Fettes Brot mal dazu.


Das kombinieren von Themen aber, wie es in einer argumentativ anspruchsvollen Diskussion nötig wäre, passt nicht in 8 Sekunden oder eine rot-weiße Überschrift.


Nach meiner Beobachtung ist die Mehrheit der Menschen in Deutschland genauso Atomkraft-kritisch wie genervt von hohen Strompreisen, mag weder Terrorgefahr noch am Telefon abgehört werden, isst gerne Fleisch und ist trotzdem gegen Massenhaltung.


Doch um diese Elemente zusammen zuführen, was die Aufgabe von guter Politik wäre, fehlen die genannten Kapazitäten. Genauso auch beim Thema Integration, oder was als solches Thema verstanden wird. Es ist die Erinnerungsfunktion des Agenda-Setting, die viele Deutsche denken lässt (und in anderen europäischen Ländern sind es wohl noch viel mehr), was sie schon immer dachten oder besser: fühlten. Die Ausländer bemühen sich nicht genug, lernen kein Deutsch, wollen nur unser Geld, sind schuld. "Schuld" ist dabei ein super Schlagwort. Und jetzt kommt so ein Hansel mit 1 ½ Augen und verschwindend geringen rhetorischen Fähigkeiten daher und behauptet, dass liege an ihren genetischen Voraussetzung.


Führt man diese Drecks-Denke weiter, dürften in Zukunft nur noch Integrierte in deutschen Fußballmannschaften stehen, da die WM gezeigt hat, dass nur ihre Gene zu gutem Fußball fähig sind. Ganz gleich ob türkische (Özil), tunesische (Khedira), spanische (Gomez), polnische (Klose, Podolski, Wilhelmi) ghanaische (Boateng) oder serbische Gene (Marin). Das deutsche Gen, das des Ariers – und Sarrazins Logik lässt diese Vokabel wirklich zu – steht demnach in Deutschland nur noch im Tor. Bei Adler erinnert aber auch nun wirklich nicht wenig (Haarfarbe, Kreuz, Name) an die HJ.


Doch wo war die Integrations-„Debatte“ zur WM? - Alibihaft wurde sie geführt, in Feuilletons überregionaler Qualitätspresse wurde sie angerissen. Nicht mal der Spiegel hatte wirklich Interesse an ihr. Weil eine positive Darstellung dieses Themas nicht ins Protokoll passt und das überfordert; sowohl Redakteure als auch Leser. Denn am Beispiel Nationalelf wird etwas ganz banales deutlich: der einzig entscheidende Erfolgsfaktor heißt immer Bildung. Immer. Egal ob man Physiker, Fußballer oder Selbstbewusstsein ausbilden möchte. Je mehr ich in Bildung investiere, desto besser die Ergebnisse. Deutschland erntet heute die Früchte dafür, dass es – zum Beispiel im Gegensatz zu Italien oder England, wo die Strukturen weit aus weniger gut ausgeprägt sind – nach der desolaten EM 2004 sein Ausbildungssystem umgestellt und ausgebildet hat. Als Müller England abschoss, schloss sich damit ein Kreis, der mit einem 0:0 gegen Lettland begonnen hat.


Und natürlich liegt auch der Schlüssel zum Thema Integration in der Bildung. Nur die Frage, die man sich dabei stellen muss ist, ob und wie man das finanzieren will. Solange man darauf aber keine Lust hat, gibt man das gesparte Geld lieber für scheiß pseudo-intellektuelle Bücher aus, die man zwar nicht liest, die sich aber gut im Regal machen. Man ist ja politisch interessiert. Und jetzt weiß man auch, dass man schon immer intuitiv richtig fühlte, wenn das Thema Integration ganz oben auf der Agenda stand. Der Diskurs dazu stimmt nicht um. Es ist gar kein Diskurs. Den will Sarrazin auch nicht. Er will nur auf die Agenda. Das ist ihm geglückt. Thilo Sarrazin hat gewonnen.