Donnerstag, 24. Dezember 2015

Milch und Honig

Eine Weihnachtsgeschichte

Diesen Augenaufschlag hat sie nicht von mir, denkt Petra Kleinmeister als sie ihre Tochter beobachtet. Gerade erst hat Linda sich ihrer olivgrünen Jacke mit dem dichten Kunst-Pelz-Kragen entledigt und einen Alibiblick über die Karte geworfen. Jetzt trägt sie dem Kellner einen Latte Macciato auf und ihr Blick durchstößt seinen, wie ein Pürierstab das Gemüse. Vielleicht zittrig nach außen, aber genau wissend, wo es hin gehen muss. Linda ist zu einem Mädchen geworden – Petra Kleinmeister scheut sich, ihre Tochter bereits eine Frau zu nennen –, die in einer Welt lebt, in der es unzählige Möglichkeiten gibt, aber keine Phasen. Ziele, aber keine Überzeugungen. Linda lebt in einer Welt voller Richtigkeiten. In ihrem Abiturzeugnis wird sie bald eine klare Eins vor dem Komma haben, weil sie, wie sie selbst mal in ihrer ganzen Eloquenz gesagt hat „Fleiß nicht als etwas Niederes empfindet“. Und von da an wird sie ihren Lebenslauf, wie bisher schon, ohne Lücken und mit ansteigender Tendenz fortführen. Es ist ein Leichtes für Petra Kleinmeister der Bekanntschaft im Supermarkt mit Stolz von ihrer Tochter zu erzählen. Ein Stolz, den sie nicht erfinden muss, den sie empfindet, der aber seine Konsistenz verändert, sobald sie wieder allein vor der Tiefkühltruhe steht. Zunächst, ein klar umrissener Körper, ein Gegenstand, den man dem Smalltalkpartner in Daten oder im Bestehen vom ewigen Markus entgegen gestreckt hat. Wie der Angelausflug einzig über die Größe des Fangs beschrieben wird. Doch wieder allein, verwandelt sich Petra Kleinmeisters Stolz – und auch ihre Erleichterung! – darüber wie sich Linda entwickelt hat, in eine Dunstwolke, die ihr durch die Reihen folgt. Die Liebe zu meiner Tochter erfüllt mich, denkt Petra Kleinmeister, aber was da in mir umher schlägt wie Milch in der Kanne ist vieles, aber weder warm noch mit Honig. Manchmal erschreckt Petra Kleinmeister bei dieser Frage an sich selbst: Diese Liebe zu Linda, die unbestreitbar und so groß ist, wie die Liebe einer Mutter zu ihrer immer gewollten – wenn auch nicht geplanten – Tochter nur sein kann, macht diese Liebe ihr Leben eigentlich besser?
Als sie vor 6 Jahren das erste Mal hier waren, die Plastiktüten voll mit Last-Minute-Kram, war auch die Deko schon die gleiche. Der Kartenständer trug vergleichbare Flyer und das Licht dimmte vor sich hin. Das Fest der Liebe, stand auf einer der Karten und Petra Kleinmeister weiß noch lebhaft, wie sich damals fragte, wo diese Liebe sich dabei auf den Gastgeber oder den Gast bezog. Die Wangen rot von Kälte und Hast hatten Sie sich auf ihre Heißgetränke und Kuchenstücke gestürzt, die silbernen Tannenbaum-Karikaturen auf jedem Tisch bemerkt und sie in etwas zu großer Geste gemeinsam verspottet. Das Adrenalin einer vollendeten Besorgung. Die kurze, reine Freiheit zwischen zwei To-Do-Listen des Lebens, und das Privileg dieses mit dem eigenen, gesunden Nachwuchs zu teilen. Meine Tochter ist ein ungemein waches Mädchen, dachte Petra Kleinmeister damals und als sie heute an das Bild denkt, welches sie damals zeichnete, erschreckt sie. Auch damals war Linda schon das, was sie bei aller Härte des kalten Beobachters heute ist: eine Ja-Sagerin. Ein kluges, hübsches, herrje: blondes Mädchen, mit dem Instinkt gesegnet, in jeder Lebenslage das Richtige zu sagen oder zu tun. Kraftvoll zu nicken, wenn der Chef es so will, zu lachen, wenn es zielführend ist und zu intervenieren, wenn es galt, ein geistreiches, charakterstarkes, ja sogar feministisches Bild abzugeben – ganz gleich, wie sehr sie wirklich hinter all dem stand, was sie tat und von sich gab.
Vor 6 Jahren – dass war gleichzeitig, das erste Jahr ohne Konrad gewesen, der im Sommer ausgezogen war und das erste mit dem ewigen Markus, den Linda wenige Wochen zuvor erstmalig an geschleppt hatte. Petra Kleinmeister hatte diesen braven Jungen mit schiefen Haarschnitt und Hochwasserjeans damals nicht für voll genommen, als er da ihrem Familientisch saß und im Auflauf wühlte. Wer hätte denn ahnen können, dass dieser Junge mit guten Physiknoten, jedoch ohne größeres Interesse an Sport oder Action (seine Worte!), heute schon länger mit ihrer Tochter in einer Beziehung ist, als sie jemals mit irgendeinem Mann? Selbst für Franz, den Petra Kleinmeister in ihrer Lebensgeschichte vor sich selbst, den Einen nannte, … that got away, gilt dies. Auch Michael, Lindas Vater, hatte Petra Kleinmeister 2 Jahre nach der Entbindung vor die Tür gesetzt. Eine Formulierung, die sie mittlerweile gelten ließ, so wie sich Lindas Vater nicht nur im ehelichen einer 14 Jahre Jüngeren in ein Klischee verwandelt hatte. Mit dieser Entscheidung ist Petra Kleinmeister im Reinen, sofern dies möglich ist. Selbst wenn die paar Elternsprechtagstermine und Lindas betont lebendig vorgetragene Urlaubsanekdoten ein allenfalls gebrechliches Urteil zulassen, dass selbst zur Abgrenzung nur bedingt taugen.
Und doch: Auch nach 6 Jahren nennt der ewige Markus, der mittlerweile, ganz gradlinig, das Physikstudium aufgenommen hat, sie immer noch Frau Kleinmeister und ihr gefällt dies immerzu. Einen gewissen Machtvorsprung hat Petra Kleinmeister in jedem Umgang mit dem anderen Geschlecht gern auf ihrer Seite. Schon in der Pubertät im fromm-gestrengen Elternhaus, deren Hindernisparcours, den ihre Eltern Erziehung nannten, Petra Kleinmeister nur so an die Uni gespült hatte. Schon lange vor Linda war Petra Kleinmeister nicht mehr heimgefahren. Hatte an den Feiertagen als einzige das Studentenheim nicht verlassen. Lieber im Bett gesessen, mit Lacan und Lebkuchen, stolz dem Vater in der eigenen Abwesenheit alles zu kommunizieren, was es zu sagen gab. Befeuert von der Beobachtung, dass jedes Gefühl von Einsamkeit ausblieb. Selbst als die Glocken schlugen. Selbst als vor ihrem Fenster die Musterfamilien vorbei zogen. Selbst im Schnee. Ihrem Vater hat Petra Kleinmeister immer nur so viel zugetragen, wie dieser fähig war zu verstehen. Petra Kleinmeister hatte nie ein Problem damit, den Männern in ihrem Leben zu vertrauen. Sie empfand sie einfach nur nicht als klug genug, sie mehr einzubinden als nötig.
Linda bekommt ihren Latte Macciato und bedankte sich mit einem Nicken über die Schulter. Sie dreht den Henkel auf rechts und nimmt den Keks von der Untertasse und legte ihn wortlos auf die ihrer Mutter. Eine Vertrautheit, die Petra Kleinmeister wärmt wie ein etwas zu heiß aufgebrühter Tee. Man muss ihn etwas in Ruhe lassen, um sich an ihm nicht die Zunge zu verbrennen.
Das ging ja in diesem Jahr super reibungslos?!“
Findest du?“ klingt Lindas Antwort etwas rauer als von Petra Kleinmeister erwartet.
Was soll ich sagen? Ja. Wir kennen uns einfach mittlerweile...“
Oder wir haben aufgehört, uns was Neues auszudenken.“
Petra Kleinmeister wundert, dass Lindas Worte in ihren Ohren so gar nicht feindselig klingen. Im Gegenteil, Linda schickt ihnen ein friedliches Lächeln hinterher. Was gibt es an ihrer Tochter schon auszusetzen, was ist schon falsch an guten Noten, Klarheit und der Fähigkeit, die solide Seite an Männern zu würdigen, vielleicht sogar eine Schwäche für diese zu entwickeln? Ist dieser Mensch nicht alles, was sie diesem Menschen immer gewünscht hatte? Sicher nicht diese phantastische Mischung aus Juliette Binoche und Susan Sontag, die sie sich damals ausgemalt hatte, als sie durch den Schnee stieg und sich selbst mit dem Blick nach vorne und in fremde Wohnzimmer wärmte. Doch, hat ihre Tochter nicht genau den Weg gefunden, ihre guten Eigenschaften zu übernehmen, ohne sich dabei auch ihre Lebenslügen aufbinden zu lassen? Oder vielleicht präziser: Sich ihre eigenen zu suchen.
Was bekommt denn Markus dieses Jahr?“
Einen Rasierer. Der soll seine Macho-Experimente gleich mal wieder lassen.“ Linda dreht ihre Zunge heraus und Petra Kleinmeister sieht sich selbst, kurz vor dem Kinderwunsch. Sieht sich, die Männer als Knete zu betrachten, nicht als Eisen. Als Rohmaterial, dass nur ein bisschen Druck braucht, um sie in die richtige Form zu bringen. Dann aber enttäuscht (und wütend!), wenn doch die Feuererhitzung von Nöten ist.
Petra Kleinmeister lächelt mit. Ihre Tochter war immer eine gute Tochter. Sie hat nie Geburtstage vergessen und regelmäßig den Abwasch erledigt. In einem ihrer wenigen Streits hat sie mal gebrüllt „Ich könnte auch cracksüchtig sein“. Linda weiß genau, was ihre Trümpfe sind, aber warum sollte man ihr daraus einen Strick drehen. Sie verbringt die Weihnachten im Wechsel bei ihr und Michael. Die Jahre bei ihr sind ein Liebesdienst. Ein Dienst. Dieses Jahr eben ein fettes Jahr bei Michael, dessen Volkswagen-Charme bei ihrer gemeinsamen Tochter eine weitaus längere Halbwertszeit zu besitzen scheint, als bei Petra Kleinmeister. Aber die lässt ihr jährliches Last-Minute-Happening mit ihrer Tochter nicht ziehen, selbst wenn der Zauber von damals einer Routine von Nostalgie gewichen ist.
Hier!“, sagt Linda und schiebt einen schlicht verpackten Quader über den Tisch. Petra Kleinmeister hat sich noch nie theatralisch viel Zeit beim Geschenke auspacken gelassen.
Eine Uhr?“, muss Petra Kleinmeister es aussprechen, um es zu glauben. Eine teure, die genauso aussieht, dass man es mitbekommt, aber erst wenn man genau hinschaut. „Was soll ich sagen?“
Wie kannst du das...“
Nein!“, hebt Linda den Zeigefinger. „Nein! Aus! Ist von Oma, Opa und mir... sag einfach, ob sie dir gefällt.“
Das tut sie“. Petra Kleinmeister betrachtet ihre neue Uhr, die es irgendwie an ihr Handgelenk geschafft hat und im Angesicht der eigelben Rotorblätter mit graumelierter Umrandung wird es ihr ganz klar. Dieses Geschenk, dieses Übermaß an Sinn, Schönheit und Großzügigkeit symbolisiert alles was ihre Tochter zu diesem wunderbaren Wesen macht, das sie ist. Eine 1-Schülerin, eine nachsichtige, sensible 18-jährige mit Geschmack und Humor. Sie, ihre Mutter, hat ihr ganzes Leben versucht, jeden Sturz, jede Sorge von ihrer Tochter zu nehmen und jetzt wirft sie ihrer Tochter vor, noch keine Narben in Gesicht und Seele zu haben. Das ist nicht nur unfair, es ist selbstgerecht. Nur, was sich Petra Kleinmeister eigentlich wünscht, ob nun in Geschenkpapier oder nicht, sind billige Insider mit Anzüglichkeiten, Konzertkarten, eine gemeinsame Erinnerung, eine sensible Beobachtung, ein Kommentar, ein gutes Buch, verdammt! Irgendetwas, dass etwas über sie als Frau erzählt oder erzählen wird. Etwas, dass zwischen ihr und ihrer Tochter stehen kann, wie eine Slackline, die zwischen zwei kräftigen Bäumen gespannt ist. Immer für ein Abenteuer als auch einen Absturz zu haben. Petra Kleinmeister wird klar, sie hat die beste Tochter der Welt – und alles was sie sich wünscht, ist eine Freundin.

Zuhause macht sich Petra Kleinmeister Musik an und öffnet den Wein. Vielleicht bekommst du heute Nachwuchs, grüßt sie im hinübergehen den Teppichfleck vom letzten Mal. Auch in diesem Jahr lernt Petra Kleinmeister an Weihnachten allein zu sein. Sie lernt es jedes Jahr aufs Neue. Die Uhr sagt, dass es noch zu früh ist zum Schlafen. Petra Kleinmeister geht nie früh ins Bett, ist ein Nachtmensch, immer in Sorge, etwas zu verpassen. Sie öffnet die Balkontür und tritt heraus. Das Nichts der Weihnachtsnacht, die Leere des Idylls der Anderen. Das Ausbleiben von allem befruchtet die Erinnerung. Im Gartenstuhl, unter der Wolldecke aus dem Fuerteventura-Urlaub, führt sie in diesen zurück. Last-Minute, mieses Hotel, mehr war damals für sie beide nicht drin. Wie die vierjährige Linda nackt am Strand tobte, den Babypo tief im Sand vergraben und Petra Kleinmeister, ihr Buch seit Stunden auf dem Buch, sich am liebsten auch die Klamotten vom Leib gerissen hätte und ihre Sandburg daneben gebaut hätte. Heute wäre das mit ihrer Tochter nicht möglich, denkt Petra Kleinmeister: „Alte Keuschheitstrulla“ und ein Grinsen begleitet das öffnen der zweiten Flasche.
Ich muss meine Erwartungen ändern, denkt Petra Kleinmeister, als sie sich schließlich ausmalt, wie ihre Tochter und ihr Vater gemeinsam mit der viel zu jungen Mutter des Hauses und dem ewigen Markus an einem Tisch sitzen, essen und anregende, wenn auch erwartbare Gespräche führen. Ich brauche Umgang, sagt sich Petra Kleinmeister, ich kann Linda das nicht aufladen. Wer weiß, wie lang das schon so geht. Dann bin ich halt Mutter. Ein Job, den ich scheinbar sehr gut kann, denkt Petra Kleinmeister und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister. Dass sich ihre Träume eines selbstbestimmten Lebens nicht erfüllen würden, dass war immer ihre größte Angst gewesen. Nun aber hatten sich diese Kräfte verschoben. Petra Kleinmeisters Leben war schmerzhaft selbstbestimmt. Es war bestimmt von einer Arbeit, die sie abspulte, der Isolation fehlender Hobbys und Freundeskreisen und einer Tochter, die ihre Hilfe nicht brauchte. Und Petra Kleinmeister hatte Angst, dass niemand, sie selbst eingeschlossen, würdigen würde, wie gut sie mittlerweile damit zurecht kam. Wer wusste schon, ob ihr so unterschiedliche Umgang mit dieser Sache namens Leben, sie vielleicht mehr als nur irritierte, vielleicht sogar neidisch mache auf ihre Tochter. Ganz tief hinten im Kopf, wo selbst die eigens gewählte Alleinständigkeit manchmal Risse bekommt. Weihnachten, das Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister und es klingelt.
Du hast doch 'nen Schlüssel“, sagt sie, als sie ihre Tochter im Treppenhaus sieht und merkt gleich, dass sie etwas anderes, etwas überraschtes hätte sagen sollen. Doch Linda scheint das nicht zu stören.
So isses aber dramatischer.“ Linda huscht hinein.
Hast du getrunken?“
Es ist Weihnachten. Was denkst du wohl?“
Das meine ich nicht.“, sagte Petra Kleinmeister und deutete auf den Autoschlüssel in Lindas Hand.
Nochmal: Es ist Weihnachten. Die Straßen sind vollkommen leer.“
Alles ok?“, fragt Petra Kleinmeister und obwohl sie ihren Ton als viel zu mütterlich empfindet, geht sie Lindas Gesicht und Haltung nach Heulspuren ab. Aber da sind keine, keine Verstimmung, nur die gleichgültige, erwartungsvolle Betrunkenheit einer 18-jährigen 1-Schülerin.
Schlafen alle. Langweiler! Alle!“, sagt Linda und geht mit klarer Mission ins Bad. Petra Kleinmeister verkneift sich jeden Witz oder Frage zum ewigen Markus und stolziert stattdessen ins Wohnzimmer. Sie dreht die Musik etwas lauter. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister. Freundschaft wird unterschätzt, denkt Petra Kleinmeister.
Hast du Lust auf Whiskey? Mit Honig. Ich hab Lust auf Whiskey.“ ruft Petra Kleinmeister durch die Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zurück in die Küche.

Whiskey? Das trinken doch nur Männer“, ruft Linda aus dem Bad heraus und selbst wenn Petra Kleinmeister, den Kopf im mittleren Fach vergraben, die Ironie nicht mal hört, sagt sie nur: „Ich hab dich nicht dazu erzogen, zu fragen was Männer und was Frauen tun, Missy“. Und als die Eiswürfel ins Glas rasseln, bemerkt Petra Kleinmeister, dass es durchaus möglich ist neckisch und mütterlich gleichzeitig zu sein. Vielleicht sogar über die Feiertage hinaus.