Freitag, 5. Juni 2009

Neue Feindbilder braucht das Land (II)


Der Referenz-Humorist:
Eigentlich bist du auch ein Stereo(-)typ (s.o.), warst aber aufm Gymnasium. Dort hat man dir begebracht, dass Individualität das Wichtigste ist. Daher tust du so als ob. Abhängig von der Masse bist weiterhin genauso, aber das fällt dir nicht auf, weil du viel zu sehr damit beschäftigt bist, herrlich humoristische Gruppen zu gründen. "Ich glühe nicht vor, ich fackel ab" oder "Niveau ist wohl eine Handcreme", lassen dich stolz umherwandern und ein paar Siebtklässlerinnen stehen sogar drauf. Etwas eigens hast du noch nie geschaffen, auch noch nie daran gedacht. Du bist zufrieden in deiner Welt. Tausende Smileys zeigen das. Zieh bloss nie von zu Hause aus.
Lieblingsgruppe: Ich hasse Gruppen die auf "G" enden - und Mittwochs. :P

Das emanzipierte Weibchen: Du bist die Ausformulierung dessen, was du auch im Winter gerne zur Schau stellst. Du bist das verbale Arschgeweih! Und das Schönste ist, dass du diese Formulierung vielleicht nicht mal verstehst.Du bist blond, ok. Du singst im Auto, check. Du kommst nicht in den Himmel, weil du dich nicht für brav hältst, ahhh. Du stehst auf Pink, nein P!nk, weil die voll für Frauenrechte ist und so. Nicht so wie Britney, eine schlechte Mutter. Musik ist sowieso dein größtes Hobby sagst du (neben „Freunde treffen“). Auf einem Konzert warst du aber noch nie. Zu teuer. In der Disko hingehen, bist du jede freie Minute. Und jede deiner Gruppen erzählt davon. Verlinken tust du dich selbst. Aus Sorge die Jungs könnten, deine sexy verwuschelten Haare von letzter Woche nicht sehen. Genau wie deinen Ausschnitt im Profilfoto. Nicht für die Jungs, für dich! Frauen (wie du!) sind ja eh viel besser als alle Männer zusammen. Davon bist du so überzeugt, dass du überhaupt kein anderes Thema mehr hast.
Lieblingsgruppe: Niveaulos! Die Ex meines Freundes spielt nicht in meiner Liga

Der Aktivist: Angela Merkel ist dir nicht geheuer, Wolfgang Schäuble schon gar nicht! Gegen die da oben bist du. Gegen Gewalt sowieso. In Filmen, in Musiktexten, in der Erziehung. Auch wenn du aus heimlicher Zuneigung jeden Spiegel über die RAF verschlingst. Dein Profilbild zeigt dich vor einer weißen Wand, ausdruckslos, ernste Minie. Die Welt ist hart. Was dich allerdings ins StudiVz treibt, trotz all der Multinationalenkonzerne, welche deine Seite nach Nacktfotos durchsuchen, sind die Nazis. Nazis, überall! Die Rechten sind dein Kompass. Ohne sie wüsstest du nicht wohin. Du schreibst Unmengen von Einträgen in unzähligen Gruppen, zitierst Bertolt Brecht und nutzt das StudiVz als Möglichkeit Demos, Konzerte und Diskussionsrunden zu organisieren. Und zur Wahl gehen sollen auch alle, bitte. Du und dein Stock im Hintern, jeder eine Stimme.
Lieblingsgruppe: Gegen "mitte rechts", "rechts", und "ganz rechts"

Der Schöngeist: Dein Foto ist meist schwarz-weiß. Dein Gesicht ist immer angeschnitten. Wenn du auf diesem zu sehen bist, dann nur zwischen deinen mittellangen Haaren hindurch. Dein Blick steif. Etwa mit so einem Gesicht, wie bei diesem einen Franzosen dem Selbstauslöser entgegen. Du mochtest mal Radiohead, aber nicht mehr seit dem sie Mainstream sind. Auch wenn du dieses Wort nicht benutzt. Jetzt hörst wieder nur Jazz und Klassik. Aber auch das sagst du nicht. Für witzig hälst du dich, wenn du Marie Antoinette zitierst und den Armen Kuchen empfielst. Was du allerdings am liebesten machst, ist Namen aufzuzählen. In der Hoffnung jemand bittet dich – noch unwissend – von ihnen zu berichten. Jim Jarmusch ist dein Held. „Der ist so anders“. Roger Willemsen, ein Bruder im Geiste. Dein Lieblingszitat ist in einer Sprache, die niemand spricht. Nicht mal du. Tote Maler, noch totere Philosophen, bei dir wird alles gewürdigt, was es verdient. Du schreibst gerne lange, vorvorvorformulierte Beiträge in Foren, in denen Leute wie du sitzen (und sonst niemand). Trotzdem antwortet dir niemand. Und vielleicht willst du das ja auch gar nicht. Individualität ist bei dir keine Eigenschaft, es ist eine Neurose. Und das VZ ist deine Couch. Schade, dass du nicht merkst, wie viele es von dir gibt.
Lieblingsgruppe: Renoir, van Gogh, Sisley, Pissarro, Monet, Cézanne, ...

Der Zufall: Eigentlich bist du niemand. Ich meine, ok, du lebst. Atmen, essen, kollabieren – manchmal alles gleichzeitig. Aber so menschlich was zu bieten hast du nicht. Dein ganzes Profil zeugt von einer Austauschbarkeit, die ihres Gleichen sucht. Aus einer unvorstellbar großen Unsicherheit heraus oder weil du nie gelernt hast, dass die Kruste deines Pausenbrotes auch essbar ist, suchst du nach allem was etwas mit dir gemeinsam hat. Geburtstage, Vor- und Zunamen, Sternzeichen, Augenfarbe, Körper- und Körbchengröße. Alles wird geteilt. Dann bist du nicht so einsam. Bei den Simpsons bist zum Glück nicht einsam. Du hast einen Zwillingsbruder, Tod Flanders. Schön und gut, tue was dir durch den Tag hilft, aber nenn den Mist bloß nicht Persönlichkeit.
Lieblingsgruppe: Club der miesen Billard Spieler

Die Größte: „Ich bin zu dumm um alles zu wissen – und zu schlau um dass zu vergessen“, gilt nicht für dich. Du hast es vergessen. Und wissen tust du auch nicht wirklich viel. Nur eines weißt du; Du kannst alles, die anderen nichts. Du würdest ihnen am liebsten allen aufs Profil kotze, wie du schreibst. Schoppenhauer ist dein bester Freund, aber den kennst du gar nicht. Dafür aber die Neue deines Ex. Die ist aber auch scheiße.Eine Gruppe ist dir gewidmet; „Dein Niveau sind auch von oben arrogant aus“. Die kennst du aber nicht, weil du zu sehr damit beschäftigt bist deine Unsicherheit an anderen aus zulassen. Aber American Beauty hast du auch nicht gesehen. Aber bei King Of Queens kannst du „Carry“ immer so gut verstehen. Du machst es dir einfach – und bist genauso.
Lieblingsgruppe: Ich bin keine Zicke-Das ist mein Temperament, du Idiot

Der Notgeile: Formulieren wir es positiv: Du hast von den 68ern am stärksten profitiert. Körpergefühl, -öffnungen, -flüssigkeiten. Immer mehr davon. Du bist eines dieser Mädchen die beim Wort Glied immer „Hihihi-Kichern“ plus Testosteron. Aus Kichern wird Grölen und aus dem gemeinsamen auf Toilette gehen wird das Kekswichsen. Die Sozialisation ist an dir vorbei gegangen. Auf den Vorwurf, dass das niemand hier interessiert, würdest du mit „Das ist ein freies Land“, antworten. Aber das macht ja niemand von deinen Jungs aus der zweiten Mannschaft. Dein Profilbild zeigt dich auf der Toilette und/oder mit Deutschlandflagge. Der Stolz der Nation. Du nennst dich gerne „Cameron Po“ oder manchmal wirklich noch „Sperminator“. Und deine von dir für kreativ befundene Langeweile in Profilform findet niemand witzig oder gar interessant. Außer vielleicht der Personalchef, wo du dich beworben hast.Wir melden uns dann bei ihnen Hr. „Dr Lover“.
Lieblingsgruppe: Ananas macht Sperma süß

Donnerstag, 4. Juni 2009

Neue Feindbilder braucht das Land

Die Welt dreht sich schnell. Zu schnell – jedenfalls für Silbermondhörer. Werte werden in höherer Frequenz verworfen, als Freiwürfe in weißen Vorstadtschulen um Gütersloh und Heidi Klum verbrennt zwischen zwei Mutterschaftsurlauben hektisch noch ein paar Dorfschönheiten. Nicht mal Harald Schmidt ist der Alte. Nur Günther Jauch gibt Sicherheit. Puh!
Aber sonst? Was hilft uns durch den Tag? Der Tatort – und in weniger emanzipierten Haushalten auch die Sportschau – legt die Zeit fürs Abendbrot fest und „Web.de“ die Themen für Selbiges.
Doch selbst Freundschaft ist heute nicht mehr das, was es einmal vortäuschte zu sein. Das Wort der Ungnade heißt „StudiVZ“. Zu unpersönlich, zu oberflächlich, zu selbstverliebt, -darstellend, zu … zu... zu doof. Doch an dieser Stelle wollen wir nicht verbittert sein. Nein, dumme Menschen gab es schon immer. Und dumme, selbstverliebte, oberflächliche Menschen hatten auch schon immer (dumme) Freunde. Das StudiVz ist eine neue Kommunikationsform, keine Züchtung einer neuen Menschengattung. Doch was ist neu an dieser Umgangsform, was macht uns missmutig und genauso -trauisch? - Es sind die neuen Indikatoren. Neue, menschliche Profile gilt es pauschal zu verurteilen. Zur Steigerung des Lebensqualität, zur Linderung des Stresses. Sich neue Richtlinien zu setzen im menschlichen Miteinander. Es gilt die Stempel, die Stigmata zu verteilen. Verteufeln! Alles, was nicht bei drei auf der Pinnwand ist. Sich anzunähern an Spezien, welche es nicht verdient haben, dass man sie nicht gruschelt. Auch wenn man ihnen auch auf diesem Wege eigentlich nicht begegnen will. Aber hier, hinter blog'schem Plexiglas, dürfen wir lustig, schaulustig schauen. Uns ein Bild machen von Ekel, Leid und Horror. Der Zirkus der heutigen Zeit. Oder um es mit der CSU zu sagen: „StudiVz – Näher am Menschen“ (von heute).

Eine Typologie (nein, dich meine ich nicht, ehrlich):

Der Fachidiot: Seine Persönlichkeit ist so vielschichtig wie Holland. Er hat genau ein Thema, dem alles unterstellt wird. 50 Gruppen, 5 Zitate und jede weitere freie Zeile wird genutzt um uns seine Passion für – sagen wir Quentin Tarantino näher zu bringen. Geschlechtsunabhängig nennt er sich „Jackie Brown“, philosophiert im Buschfunk alle 2 Stunden über europäische Namen für Burger und sein Profilfoto zeigt zwar ihn, aber im Kostüm vom vorletzten NERD-Abend mit seinen langhaarigen Freunden in schwarzen T-shirts. Nur bei den Frauen kommt das alles nicht so gut, wie erwartet.
Lieblingsgruppe: Ich will Sex mit Angelina Jolie & Tarantino soll uns dabei filmen

Der Vorsichtige: Sein Profil dürfen nur seine Freunde sehen. Seine Fotos sowieso. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, stellt er erst gar keine ein. Nicht mal ein Profilfoto. Auch wenn seine Hobbies „fotografieren und wandern“ sind. Die gibt er aber auch nicht an. Sein Name hat er cool verkürzt oder mit Wortspielen zur Unkenntlichkeit verholfen. Tim berland zum Beispiel, „Mirko geht KO“ oder auch einfach die Initialen. Gruppen tritt er meist auch nicht bei, das wäre ja selbstdarstellend. Nur eine kurze Selbstbeschreibung gibt er an: „Ich bin einfach ich“. Wahlweise mit Smiley. Das StudiVz nicht zu nutzen, ist ihm noch nie in den Sinn gekommen.
Lieblingsgruppe: Matthias-Claudius-Grundschule Berlin-Rudow Jahrgang 1993 D-Class

Der Stereo(-)typ: Du glühst härter vor als wie alle, fährst besser Auto, als wo andere aus dem Nachbardorf, duscht gerne nackt und deine Freundin ist die Beste. Musikalisch bist du offen für alles, bevorzugst aber „Tanzbares, Soundtracks und Musicals“. Dein Profilbild zeigt dich mit einer Flasche Bier im Anschlag, fotogen wie immer. Wenn ich könnte, würde ich dich in die 80er zurück schicken. Wir hätten beide was davon. Achja, und das „Einzigste“, gibt es nicht.
Lieblingsgruppe: Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz

Die Selbstbewusste: Früher warst du mal bei den Jungs beliebt. Du hast schon Händchen gehalten, da mussten sich andere noch mit ihrer kleinen Schwester auf Gran Canaria ein Zimmer teilen. Doch dann bekamen die anderen Mädchen auch Brüste und es war vorbei. Sowohl Aussehen als auch Humor hast du daher nicht im Übermaß. Und somit bleibt dir nichts anderes übrig als albern zu werden. Und super selbstwusst! Oh ja. Du bist keck, trägst dein Herz auf der Zunge. Du stehst zu allem. Toll. Ob deine Vorliebe zu Boybands und „allem was glitzert“ oder der Tatsache, dass du wohl irgendwie ein Wok bist. Du schämst dich für gar nichts. Deine Fahrstil, deine unzähligen Klamotten (ja gut, Schuhe!) oder deine – unzähligen – Partyfotos mit deinen „Mädels“, welche du alle einzeln kommentierst („Boah, waren wir voll, eh!“). Du besitzt alles, was du zum Leben brauchst. Und alles was du nicht hast wird überwertet, Männer vor allem. Du schämst dich wirklich für gar nichts.
Lieblingsgruppe: ♥...Ich bin nicht kaufsüchtig ich bin ein Mädchen...♥


Der Romantiker: Hätte das StudiVz diese Funktion, du würdest deine Pinnwand bunt anmalen. Außerdem packst du deinen Freunden lustige Bilder mit der Tastatur auf die Pinnwand. Deine Hobbys sind zeichnen, lesen und lauter Dinge, die normale Menschen nie als ihr Hobby abezeichnen würden, wie zB. fühlen, leben, lachen, weinen oder mein Favorit: atmen. Dein Profilfoto zeigt dich andächtig vor einer berühmten Statue oder Gebäude. Mit dem Rücken zur Kamera, klar, anmutig. Gerne auch mit einer Pflanze im Arm oder am Meer. Generell hast du es nicht so mit Prägnanz. Dein Lieblingszitat ist gleich ein ganzer Songtext (von Tomte, vielleicht) und deine Selbstbeschreibung ist ein Gedicht von dir, an die Welt, über dich. Außerdem magst du die Beatles und alle Bands die aus Hamburg kommen und mehr reden als singen. Filme? - nur Europäische, wenig deutsch. Ameliè, natürlich. Deine Gruppen beginnen gerne mit „Einfach mal...“ oder „Kennst du das, wenn...“. Du bist aber nicht so oft im StudiVZ, an der frischen Luft ist es schöner. Und W-Lan lehnst du ab. Krebsgefahr.
Lieblingsgruppe: Rettet das innere Kind

To be continued...

Montag, 1. Juni 2009

Die größte gelbe Karte aller Zeiten


Es regnet. Das Flutlicht ist an und die Stadt ist da. Es geht um viel an diesem Mittwochabend. Mathias Hain springt auf! Er schreit. Er schreit Schiri und Gegenspieler an und keift nach allem was sich bewegt. Ein übles Foulspiel an der Seitenauslinie war diesem Schauspiel vorausgegangen. Das Stadion kocht. Eine Viertelstunde vor Spielende steht das ganze Rund und übt im verbalen Schulterschluß das aus, was man früher einmal „Heimvorteil“ nannte. Der Schiedsrichter verliert ein wenig die Kontrolle. Das dieser Aggression vorausgegangene Foul hat er gepfiffen und mit Gelb getadelt. Doch Hain bekommt er nicht wieder in den Griff. Wie der berühmte wilde Stier hat er hier alles in Bewegung gesetzt. Er sieht nun auch Gelb. Er beruhigt sich. Die wohl berühmteste, vielleicht auch wichtigste gelbe Karte der Vereinsgeschichte.
Warum? - Das besondere an diesem Ereignissen ist, dass Mathias Hain, damaliger Torwart von Arminia Bielefeld, in diesem Moment nur auf der Bank sitzt. Er spielt nicht. Jedenfalls nicht auf dem Platz. Neben jenem ist er weiterhin Teil dieser Mannschaft, Teil dieses Vereins, dieser Stadt. Mit allem was er hat.
Hain setzt sich. Das Stadion steht! Einige Minuten sind vergangen. Der fällige Freistoß wird ausgeführt. Tor! Taumel! Erlösung! 10 Minuten später hat Arminia Bielefeld 1:0 gegen Bayer Leverkusen gewonnen. Wenige Wochen später entgeht der Verein knapp dem Abstieg. Mit weniger als 3 Punkten Vorsprung.
Arminia Bielefeld bleibt also erstklassig. Mathias Hain nicht. Er bekommt keinen neuen Vertrag und wechselt – wie sollte es bei seiner Persönlichkeit anders sein – zum St. Pauli.
Mit Hain verlässt einer der letzten Spieler der Generation den Verein, mit der ich groß wurde. Fußballerisch häufig unterlegen, standen diese Spieler – ob nun namentlich Fatmir Vata, Petr Gabriel, Rüdiger Kauf, Markus Schuler, Artur Wichniarek und besonders Matze Hain – immer für etwas, was der Verein sich in guten Zeiten immer auf die Fahne schreibt: Leidenschaft! Leidenschaft in einer gänzlich authentischen und positiven Form. Denn wenn Matze Hain mit einem einzelnen Wort beschrieben werden müsste, so wäre es die „Authentizität“. Ehrlichkeit, Loyalität, Ehrgeiz, Rückgrat, Persönlichkeit, Würde, schlicht; einer von den Guten. Einer, den man zum Trauzeugen haben will. Einer, der wie kein anderer verkörpert, was es heißt groß zu sein. Einer, der immer zeigte, dass man verlieren und gewinnen kann. Dies aber immer wie ein Mann zu tun hat. Einer, den man Vorbild nennt, obwohl man eigentlich aus dem Alter raus ist, in dem man noch solche hat.

Ein Jahr später steigt Arminia Bielefeld verdientermaßen ab. Ein Jahr zuvor noch das Glück des Tüchtigen gehabt, war es schließlich an der Zeit.
In den folgenden Tagen und Wochen herrscht Chaos in Stadt und Zeitung. Jeder beschuldigt jeden. Und jeder - so traurig es ist - hat wohl Recht. Jeder wirft mit Dreck. Jeder hat Dreck am Stecken. „Lynchjournalismus“, „Regime“ oder auch VORSTAND RAUS!!! (mit gefühlten 20 Ausrufezeichen) sind die Ausdrücke der Wahl. Es fehlt an Würde, Größe, Rückgrat und, genau, Authentizität.
Vor ein paar Wochen war diese noch vorhanden. Unzählige Spiele wurden verloren. Wichtige Spiele. Gute und schlechte Spiele. Man versagte, man hatte Pech. Doch man tat dies wie ein Mann. Man respektierte sich. Stand auf nach Niederlagen und Rückschlägen, applaudierte sich. Die Mannschaft den Massen, die Massen der Mannschaft. Nicht dem Ergebnis, aber der gezeigten Leistung. Und es stellt eine hohe kollektive Fähigkeit dar, dass hier eine Unterscheidung gemacht wird. In Köln oder auf Schalke fällt so etwas deutlich schwerer.
Man hoffte, litt und ertrug. Bis zur 85. Minute des letzten Spiels. Hannover machte in diesem Moment das 2:1 und es war besiegelt. Dann entlud sich alles, was noch zuvor für den Erfolg des Kollektives zurück gehalten wurde. Jetzt half es auch nicht mehr, dass es fünf verdammt gute Jahre gewesen waren. Diese Fünf Jahre sollten in fünf Minuten zu Ende sein. Das war sicher. Fünf gute Jahre mit Siegen in Hamburg, Frankfurt, Bremen, Wolfsburg, Hannover, Bochum, Freiburg, Leverkusen, Nürnberg oder gegen Bayern, Stuttgart Dortmund, Berlin Schalke oder Köln. Mit Nationalspielern in den eigenen Reihen, mit großen Pokalabenden. Es half nicht, dass es fünf Jahre waren, die eine solche Fülle an Erinnerungen geschaffen hatten, dass mich während dieser Aufzeichnungen eine permanente Gänsehaut einholt. Schmerz ist immer akut.
Doch immer wenn es möglich war, war diese Stadt da. Bis zur 85 Minute. Lokalzeitung, Stadion, Ultras, OB. Immer dafür, nie dagegen. Mit Würde, mit Ehrgeiz und mit der Beurteilung des Erfolgs am Kollektiv. Vielleicht ist dies nun zu Ende. Vielleicht wird man sich in ein paar Jahren nicht mehr daran erinnern, wie sehr diese Stadt in dieser Zeit an Selbstbewusstsein und an Identität gewonnen hat. Aber sie tat es! Es gab einen Punkt, an dem dieser Verein nicht mehr die kleine Version eines anderen Clubs war. Er war nicht mehr der kleine Spaßverein mit Möchtegern-Sommerfußball oder Fast-Weltklub. Immer im scheiternden Versuch gefangen, sich mit anderen, etablierten Kräften zu messen. Irgendwann wurde er etwas Eigenem. Sich selbst genügend, sich selbst erkennend als Club mit dem zweitkleinsten Etat und der kleinsten Lobby der Liga. Etwas, mit dem die Menschen hier etwas anfangen konnten. „Niemand erobert den Teutoburger Wald“, hieß es da aus den Kehlen, von den Rängen herab, ohne Ironie. Man war Stolz auf das erreichte und die Neugeborenen wurden endlich wieder hier und nicht in Dortmund angemeldet. Man hatte es sich erarbeitet und nicht erschlichen. Man hatte die guten Zeiten genossen und die schlechten angenommen.Es waren gute Jahre.
Ehrlich und loyal.

Etwas, was diese Stadt – so möchte ich es mir einbilden – von Mathias Hain gelernt hat.



Ein kleiner Eindruck:
http://www.youtube.com/watch?v=kcp0gklLcyg&feature=related