Im Jazz gibt es einen Grundsatz. Jede Note ist von Bedeutung. Jede gespielte, aber jede nicht ertönende genauso. Die Abwesenheit eines Klangs, bestärkt den tatsächlich gespielten Ton. Gibt ihm Raum zur Entfaltung und Wirkung.
Dieses schlichte Prinzip ist uns so bekannt und vertraut, dass wir ihm kaum noch Bedeutung schenken. Der an Siege gewöhnte Bayern-Fan, der die Begeisterung für Sport und seine Geschichten verliert. Dem gegenüber der zum Kult gewordene Siegesschrei des Bielefelder Radiokommentators, nach dem ersten Sieg nach langer Zeit, in letzter Sekunde. Oder eines, der an dieser Stelle bereits erwähnten, Ölgemälde in den Sälen zu Versailles. Welches nicht gewürdigt werden kann, auf Grund der Fülle und Überfülle an Reizen, und Schönheiten. Dem gegenüber, das einzelne in Glas gehüllte Ausstellungsstück. Ein berüchtigtes Museum, ein weißer, steriler Raum und dann ein Etwas. Vielleicht eine Suppendose, eine etwas bekifft dreinblickende, rundliche Dame, stattlichen Alters oder ein Dutzend leicht schwul wirkender Burschen, beim großen Feiertagsbesäufnis, einer davon mit Heiligenschein und melancholischem Blick in der Mitte. Egal. Die Bedeutung ihrer Existenz wird dadurch verstärkt, ja vielleicht sogar erst generiert, wenn nichts anderes im Raum, Blickfeld oder Gedanken ist. Im Grunde haben wir alle die Mona Lisa mit erschaffen. Wir haben sie alle nicht gemalt. Mit etwas mehr Koks und etwas mieserer (oder etwas zu guter) Kindheit, sind wir bald alle Künstler.
Doch gute Kunst spielt immer zurück ins Leben und so findet sich das hier plastisch gewordene Modell von Sein und Nicht-Sein auch im Alltag wieder. Das Mädel geht nicht mit dem Jungen nach Hause. Einfach, weil dieser zuvor bereits andere potentielle Paarungspartner verbal in Betracht gezogen hat. Da kann der Herr der Tat noch so gut aussehen oder tanzen, reich, witzig, charmant, gut gekleidet oder zuvorkommend sein. Seine Aktien sinken immer im gleichen Verhältnis, in dem er andere Damen auserwählt. (Das rein alkoholbedingte Resteficken stellt dabei einen Sonderfall dar) Mit jeder mehr gespielten Note, wird jede einzelne für sich genommene, immer unbedeutender. So einfach, so wahr.
Bleiben wir auf der sozialen Ebene. Es soll ja Menschen geben, die „mit allen gut können“. Das ist jedoch physikalisch nicht möglich. Denn dieser Typ von Mensch, kann nie gut mit mir. Er spürt die ungewohnte Ablehnung, die ihm meinerseits, meist völlig unbewusst intendiert, entgegen schlägt. Jemand der alle mag oder ihnen zumindest das Gefühl gibt, alle zu mögen, mag nämlich im Grunde niemanden. Auch wenn sich dieser Gedanke klar vom „freundlich und respektvoll sein“ abgrenzt, was zumindest ideologisch jedem gegenüber möglich sein sollte. Doch, wer alles nett findet, jeden schätzt, allem sein gutes abgewinnt oder über jeden Witz lacht, schwächt damit zusehends seine wirkliche, seine authentische Wertschätzung gegenüber Dingen oder Menschen. Eine Freundschaft, platonisch oder nicht, definiert sich immer über die (illusorische,) abstrakte Idee von Besonderheit. Geschichten, die man nicht jedem erzählt. Dinge, die man nicht mit jedem macht. Gedanken, die man sich sonst nicht macht. Wenn ich etwas auch überall anders finde, brauche ich es dann überhaupt?!
Doch wie entsteht dieses Etwas, dieses nie wirklich fassbare Gefühl von Besonderheit? Gemeinsamkeiten, klar. Die gleiche Lieblingsband, die selbe Lieblingsfernsehserie,olé. Die gleiche Art den Kugelschreiber zu halten, kann helfen. Du hast 10 Finger, ich hab 10 Finger, jaja. Aber was wirklich seinen Dienst tut, sind Abneigungen. Was auf makrogesellschaftlicher Ebene hilft (Der Jude, Emos, Schalker, Dortmunder, Bin Laden oder doch die Ammis), funktioniert auch auf encounter und privater Stufe. Nichts schweißt so zusammen, wie das gemeinsame Feindbild. Der mittlerweile zum deutschen Kulturgut gewordene „Mädelsabend“ zu Heidi Klum, Detlef „D“ Sost (Was für ein Name!) oder Dieter Bohlen, findet seinen Reiz, seine einende Kraft in der (lautstark) geteilten Abneigung gegen Moderatoren („Ist die gemein!“), Kandidaten („Ist die doof!“) und Showkonzepte im Allgemeinen („Geschmacklos, was wir da gucken!“). Ablehnung eint. Mehr als alles andere. Dokusoaps, Reality-Shows, Casting- und Promishows. Sie leben davon, dass man sie hasst. Und die immer stärker werdenen Nachfrage nach diesen Formaten, lässt auf einige unausgeschöpfte Hasspotenzialle schließen. Im Grunde wäre es das schlimmste für Paris Hilton, wenn man sie mögen würde. Deswegen singt sie auch und geht auf den Bauernhof. Weil sie es nicht kann. Und wir zahlen dafür Geld, sie dabei zu begleiten. Weil es uns eint. Und weil Gemeinschaft dadurch entsteht, die wir instinktiv brauchen und wollen.
Doch auf der anderen Seite der Mattscheibe herrscht eine schreckliche Leere. Von political correctness und großflächig ausgebreiteter Unsicherheit in die Ecke getrieben, gilt Ablehnung und Kritik als No-Go. Der Fernseher wird hier zum Hass-Methadon für schwache Individuen. Oder wenigstens wissen die meisten Menschen nicht mehr richtig zu verunglimpfen. Wir kriegen nicht mehr beigebracht zu kritisieren. So müssen wir Feedback an Referenten immer erst mit einem Lob beginnen („Schön, dass du dein Nasenbluten dann doch noch in den Griff bekommen hast.“) . Wir sind immer abwägend, auch uns selbst gegenüber. Deswegen gibt es so viele Menschen mit 500 StudiVZ-Freunden oder mit einem Musikgeschmack namens „Alles“. Deswegen halten sich viele Menschen für politisch, nur weil sie „Nazis raus“ rufen oder Spiegel lesen. Wir haben verlernt zu hassen. Wir beginnen unsere Sätze mit „Es gibt auch Argumente, die besagen...“, oder „Andere hingegen behaupten...“.Hassen, ablehnen, nicht-mögen bedeutet immer, Stellung zu beziehen. Es bedeutet immer Risiko. Oder um im Bild zu bleiben; wenn ich die gesamte Tonleiter spiele, kann mir niemand vorwerfen etwas vergessen zu haben.
Es gibt sie in großer Stückzahl. Die vorsichtigen, liberalen, kleinen, netten Gutmenschen. Und gegenseitig spendet sich diese Gruppe auch viel Zustimmung und Bestätigung. Jeder mag jeden (Niemand mag niemanden).Und wenn ich sage, dass niemand alle mögen kann, weil jeder der mit allen gut kann, nie (ok, meist) mit mir gut kann, dann klingt dass nur auf rhetorischer Ebene melancholisch oder bedauernd. Je mehr es Menschen dieses Schlages gibt, desto größer ist die Begeisterung für die, welche aus diesem Raster fallen. Jede nicht gespielte Note der Ablehnung, des Ehrlichen und Wahren, verstärkt die dann selten doch ausgesprochenen Momente des „Dagegen sein“. Es erhöht, ja generiert vielleicht sogar erst, den einenden Moment des Gemeinsamen, des Besonderen. Ich bin ihnen allen sehr dankbar dafür. So, let's play again, Louis.