Donnerstag, 16. Dezember 2010

Kein Tomatensaft!

Über Billigfliegen und den Wert des Weges – Ein Vergleich


Zeit ist eine opportunistische Hure. Besonders Morgens. Und ganz besonders früh Morgens. Es ist noch keine 6 Uhr, da kommen einem auf der Einstiegstreppe Menschen entgegen gefallen, die auf dem Weg zur Arbeit scheinen. Spontane Bewunderung: es ist so früh, so dunkel, so kalt.

Im Zug ist es wärmer. Stadtauswärts ist das Abteil nun leer und es gleitet sich in den Tag. Ein Eistee, eine Brezel, eine Zeitung und der Blick auf die verschneite, vormünchnerische Peripherie, hinter der sich erste Sonnenbögen abzeichnen, helfen. Die Richtung heißt Memmingen, Allgäu Airport. Das Ziel heißt Andalusien. Ich bin auf dem Weg.


Zug


Irgendwo hinter Geltendorf tritt der Schaffner durch die Schiebetür. Es stellt sich – zu meiner Überraschung heraus, dass mein gelöstes Tagesticket erst ab 9Uhr gilt. Demnach fahre ich schwarz und darf nochmals 40€ löhnen, den doppelten Fahrpreis also. Wenig später füllt sich der Zug mit Schülern auf dem Weg zum Frontalunterricht. Manche vergleichen Hausaufgaben, andere nutzen mein Gegenübersitzen als Ausrede, sich zu sechst in eine Sitzecke zu quetschen. Mit den Mädchen in der Mitte, selbstredend. Zwei Unterstufler in ihrem Rücken interessieren sich indes nicht für solche Formen des Paarungsverhaltens. Der eine ist in ein Mathebuch vertieft, der andere hat sich das 11. Physik-Kapitel vorgenommen. Beide tragen Brillen. Im Grunde ist die Welt in diesem Abteil in Ordnung.

Im Flugzeug gibt es keine Platznummern. Jeder sitzt, wo er kann. Ein kleines bisschen Fressen und Gefressen werden. Die Stewardessen sind alle weder blond, noch sonderlich schlank. Sie sprechen kein gutes Englisch. Was noch mehr ins Gewicht fällt, da alle 15 Minuten neue Ansagen durch die knarzenden Lautsprecher trompetet werden. Die Karte mit den obligatorischen Anweisungen für den Ernstfall ist auf den Rücken des Vordersitzes geschweißt. Man hat sie immer im Blick. Essen gibt es nur gegen Bares. Der Cheeseburger kostet 7€. Tomatensaft ist gar nicht erst im Angebot. Aber man kann Lose kaufen. Für bedürftige Kinder, heißt es. Nach der Landung ertönt ein Jingle. Eine männliche Stimme verkündet – nun in besserem Englisch vom Band – dass man pünktlich gelandet sei. Ryanair sei mit über 90% die pünktlichste Fluggesellschaft Europas.

Wenn man mit solch einem Billigflieger reist, wird einem ziemlich schnell bewusst, um was es dabei geht: den reinen Transport. In einer Ryanair-Maschine zu sitzen, bedeutet, alles was das Unterwegssein zum Selbstzweck machen könnte, zu vernachlässigen. Stattdessen unterstellt man sich dem Credo der Effektivität, des Nutzes, der Ökonomie, der Zeitersparnis. Man zahlt dabei weniger mit Geld, als mehr mit der Gefühl, das man andererorts gerne „Reisen“ nennt. Der Weg ist nicht das Ziel.


Auto


Bis Malaga sind es ungefähr 2500 Kilometer. Wenn man entlang der Atlantikküste fährt und erst bei San Sebastian die Grenze überquert, ein paar mehr. Dafür spart man sich eine nicht unbeachtliche Summe Mautgebühren um Lyon, sowie zwischen Barcelona und Valencia. Doch ums Sparen geht es auf diesem Weg nicht. Dann hatte man auch fliegen können.

Das französische Tempolimit verleitet zu einer entspannten Fahrt. Es summt sich staufrei dahin. Die Musik aus unzähligen Mix-Tapes wabert durch den Wagen. Alles Songs werden ausgespielt. Keine Hektik. Kein neurotischer Glücksoptimierungsversuch des ewigen Weiter-Drückens auf der CD. Das Stade De France und ganz Paris lässt man links liegen und steuert Bordeaux entgegen – eine wunderbare Stadt. Wie da die Stadtmauern sich vor dem Fluss Garonne auftürmen, man über die Pont de Pierre fast unmerklich in die inneren Kreis der Universitätsstadt geleitet wird, um anschließend vor dem Grand Theatre zu stehen. Schönheit! Dort wo die futuristische Straßen-Bahn den klassischen, prunkvollen Vorplatz kontrapunktiert ohne aufzufallen. Wo Gassen im Schatten und Parkhäuser unter Parks liegen – und nicht daneben.

Durch die kleine Plexiglass-Scheibe im Flieger ist davon nicht viel zu sehen. Punkte und Striche sollen Städte sein und das Meer – ein großer, blauer Fleck. Das Gefühl von Raum und Entfernung geht verloren.

Ein Flug nach Malaga ist eine horizontale Fahrstuhlfahrt. 3 Stunden lang – ohne Musik. Man merkt zwar, dass man sich bewegt, aber weder wohin, noch wie schnell. In einen radikal-funktionalen Raum gezwängt. Dadurch das Billigfliegen bereits seinem Namen nach für jeden jederzeit erschwinglich ist, und somit die einstige Illusion einer Unerreichbarkeit widerlegt wird, verliert sie dadurch ihre Faszination. Wenn es möglich ist, jederzeit, überall sein zu können, ist es keine Besonderheit mehr. Für den Flug bis an die Grenze Europas ist das Hinkommen kein eigenständiger Wert. Nur ein Weg unter vielen. Nur Punkte und Striche. Die seltsamen Frisuren der Angestellten an den Péage-Stellen bleiben genauso verborgen, wie die Städte und Dörfer auf der Strecke. Das befriedigende Gefühl der Ankunft, weicht einem erschöpften Empfinden der Ödnis. Die Erfahrung in Madrid – ohne Navi – Auto zu fahren wird nicht gemacht. Das Abenteuer in Spanien zu Tanken wird nicht durchgestanden. Der Weg ist nicht das Ziel.

Auf festem Boden. Kurz vor Bilbao tut sich das Meer auf, wie es aus 8000 Metern Höhe vor lauter Blau nicht zu erkennen ist. Der Hafen zuckt über den Rand des Armaturenbretts. Die Sonne scheint. Dann knickt die Autobahn Richtung Festland ab. Wenige Stunden später wird die iberische Halbinsel von Madrid wie mit dem Lineal gespalten. Ästhetisch teilt die spanische Hauptstadt das Land in zwei völlig verschiedene Hälften. Zunächst noch grünlich-fruchtbar, entwickelt das steinige Flachland auf dem Weg in Richtung Meerenge von Gibraltar eine rustikale Schönheit, wie man sie sonst vielleicht nur auf Sardinien findet. Letzte Grasbüschel sprenkeln eine rot glühende Felswüste, während der Horizont nicht weiß, welchen Blauton er dazu anziehen soll. Das ganze Land liegt in der Hitze, einen letzten, elementar-lebendigen Schritt vor der Dürre. Die Serpentinen schlängeln sich immer steilere Abhänge empor, die Fahrspuren werden gleichzeitig immer dünner und die Zäune immer kleiner. Die Straßenschilder beginnen arabisch zu sprechen.


Flugzeug


Auf dem Flughafen von Malaga sind die Schilder auf Deutsch und Englisch. Große Flughäfen sehen auf der ganzen Welt gleich aus: steril. Lange, langsame Laufbänder führen die rundum verglasten Korridore entlang. Ehe man die Halle mit nie enden wollenden Gepäckbändern erreicht. Die taxi-Schlage ist nicht minder kurz.

Eine 20minütige Busfahrt später steht man am Strand. 25Grad sind es. In München liegt derweil Schnee. Ein Einheimischer wird einen Abend später bei Bier und Tapas erzählen, dass er gerne in Deutschland arbeiten würde, aber ihn das Wetter abschreckt. Danach unterhält man sich über die Dinge, über die sich Deutsche und Spanier unterhalten – Fußball und Weltkriege. Die Zeit verfliegt.

Zeit, die man auf dem Flug hierher gespart hat. Doch Sparen ist ein irreführender Begriff. Er suggeriert die Möglichkeit eines Erfolgs, eines Gewinns. Aber wieviel Zeit spart man wirklich, wenn die wegfallenden Auto-Stunden voller Musik und Moment, durch eine kürze und auch billigere Anreise ersetzt werden, die aber keine eigenen Qualitäten bieten? Als ob das Leben im engen Flieger für drei Stunden aussetzen und auf dem Rollfeld wieder anlaufen würde. Die Zugfahrten vom und zum Landflughafen, das ewige Warten zwischen Check-In und Boarding und die Fahrt vom Flughafen in die Stadt, sind dabei nicht mal mit eingerechnet.


Es gibt einen großen Unterschied zwischen Allein sein und Einsamkeit. Im Auto ist man allein, mit sich und seinen Mix-Tapes. Im Flieger sitzt man „Im Niemandsland derer, die Leben eintauschen für Zeit“. So wie es bei der Hamburger Indie-Band Kettcar heißt. Doch Musik und Billigflieger sind auch auf dem Rückweg keine gute Kombination. Die permanenten Durchsagen und die gröllenden Mitreisenden machen das unmöglich. Zudem muss der Ipod während der Start- und Landephase eh ausgeschaltet werden.

Ich sitze neben einer Dame mit Flugangst. Sie klammert sich an ein Promiblättchen, ihr Mann versucht zu schlafen. Vor mir sitzt eine fünfköpfige Gruppe Junggesellen aus Lateinamerika. Einer trägt einen Loony Tuns-Pullover. Ein anderer hat sich seine Kamera an dünnen Lederbändern quer über den Wohlstandsbauch gezogen. Noch einer hat ein Kartenspiel in der Hand, welches er den gesamten Flug über mischt. Alle denen noch Haare wachsen, haben sich diese mit viel Gel in den Nacken gelegt. Ich versuche zu lesen – es misslingt. Schlafen fällt schwer, so wie in diesen engen Sitzen einem die Knie ans Kinn getackert sind.

Nach drei Stunden landet die Maschine im verschneiten Memmingen. Jingle. „Eine weitere pünktliche Landung mit Ryanair, der pünktlichsten Fluggesellschaft Europas.“ Aber wer will schon pünktlich sein.