19.Mai 2012 - Gedanken zum Verlieren
Das Westend ist still. Ein Trott Rot-Weiß schleicht vor sich hin, den Kopf zum Boden, die Füße gen Zentrum gerichtet. Reden tun nur jene, die sich an ihrem Handy festhalten müssen. Ein paar streichen über ihr Smartphone, in der Hoffnung Wärme durch Elektrizität ersetzen zu können. An der Dönerbude studiert einer einen Aushang, wieder und wieder. Ein anderer sitzt an der Tramhaltestelle und blickt in seine Handinnenflächen. Einer weint. Ein Trauermarsch, Wut fehlt.
Es gibt ein Muster in meinem Leben. Nicht die geteilten Freuden sind es wert, es sind die geteilten Leiden, die man sich gegenseitig abnimmt und in diesem Akt einen Moment der Erhabenheit gewinnt. Einen Eigenwert. Dass ist wohl auch dem Mangel an Alternativen geschuldet, wenn man, sagen wir, von Arminia Bielefeld alles Wesentliche des Leben beigebracht bekommen hat. Doch ganz gleich wie sensibel man für Derartiges ist: Es liegt Schönheit in der Niederlage.
Natürlich ist München keine Stadt, die solchen Emotionen ihre Aufwartung macht. Sie ist das Gegenteil. Münchner sind das, was man, ohne Abstriche, wohlbehütet nennt. Sie leben den Luxus des Geldes und der Unwissenheit. Sie wissen um die Vollkommenheit ihrer Heimat. Ein Wissen, das selbstredend nur aufrecht gehalten werden kann, wenn man seine Stadt nie verlässt. Münchnern geht es gut und sie erlangen ihren Charme und ihre Anziehungskraft daraus, dass man sich gerne in ihrer Beseeltheit sonnt, möge doch etwas davon auf einen selbst abstrahlen. Nur wenn der Münchner sein Glück als Tugend oder eigene Leistung herausstellt und gar behauptet, ohne Abstriche, vom Schmerz der Anderen, der Zugezogenen, der Fremden zu wissen, ist er arrogant und ungenießbar. Philipp Köster hat den feuchten Traum eines Bayern-Fans mal darin gefunden, dass er nichts mehr will, als einmal abzusteigen. Damit er auch mal leiden kann, wie die anderen. Damit man nicht mehr belächelt wird, wenn man von Barcelona '99 erzählt. Ganz gleich wie zum Beispiel Markus Kavka dies vermag, wenn er berichtet; er und seine Mannen wären damals die ganze Nacht heulend und apathisch durch die katalanische Hauptstadt gezogen. Sie hatten vergessen, wo ihr Hotel lag und waren zu kraftlos danach zu fragen.
Tausend voran gegangene Momente des Glücks mildern den Moment des Unglücks nicht. Schmerz ist immer akut – und nie relativ. Dabei hatte der Abend alles. Das Blondchen vor dem Mikro der Theresienwiese hatte so wunderbare Dinge gerufen wie: „Manuel Neuer – der Mann, der alle Tore hält“. Hätte er mal alle Bälle gehalten. Ich hatte Mittags mehrfach getönt Müller wurde das Spiel entscheiden und getippt hatte ich – schwarz auf weiß – 1:0. Morgens las ich den Sportteil komplett, lief mit der Spezi unterm Arm durch die Isarvorstadt, hörte Fleet Foxes dazu und erklärte ein paar zutraulichen Londonern am Sendlinger Tor den Weg zum Hauptbahnhof. „Good Game“, rief ich ihnen nach, sie lächelten.
Dass dann – natürlich! – Drogba die Sache aus ihrer einfachen Schönheit, ihrer schönen Einfachheit riss und sie mit dem Kopf in eine Badewanne voll Tragödie drückte, ist unvermeidlich, wenn man von der Ungerechtigkeit erzählen will.
Auf dem Weg zur U-Bahn ist es immer noch still. Ich lasse The Notwist sprechen: „Fail with consequence / Lose with eloquence and a smile. Das Lächeln bleibt aus. Ich schreibe eine SMS und finde meine Worte bei Matthäus, 5, 45: „damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“
Antwort: „Sport ist wie das Leben. Unfair und beschissen.“
„Am Ende des Tages versuchen wir auch nichts anderes, als die Illusion aufrecht zu halten, dass dem nicht so ist“.
„Ach, weißt du, Sport ist eigentlich viel beschissener als das Leben.“
„Sport ist konzentriertes Leben: Die Höhen sind höher, die Tiefen tiefer.“
„Ich fand deine Sportanalogien schon immer scheiße!“
Dann will ich nochmals antworten, aber mein Sitznachbar schläft auf meiner Schulter ein. Ich will ihn nicht wecken. Auf dem Weg von der Haltestelle nach Hause, erblicke ich einen älteren Herrn auf einer Parkbank. Er guckt wie alle: leer. Aber es ist eine Münchner Leere, meine ich zu erkennen. Kein Blick geht zum Himmel, kein Bedauern über diesen Moment hinaus. Die SZ wird noch in der Nacht die Parallelen zu Barcelona ziehen. Journalistischer Rationalitätszwang. Schmerz ist akut. Er verortet sich nicht historisch. Aber er wirft sich gerne, in, sagen wir Bielefeld, in die Allgemeingültigkeit. Nicht schon wieder, sagt man dann, und fragt nach Flüchen und begangenen Sünden.
Nicht so in München. Da sitzt man da, ist traurig und nichts als traurig. Das Spiel war gut zu dieser Stadt. Sie muss sich nicht von ihm verfolgt fühlen. Und wenn der Münchner mal wieder ungenießbar wird, helfen einem diese Momente, ihn wieder als Menschen wahrzunehmen. Dann fliegt das Neid und die Distanz des Außenstehenden, des Zugezogenen aus der Kurve. Das Rot-Weiß dieser Stadt wird noch ein paar Tage brauchen, auch die EM steht jetzt leider unter keinem guten Stern mehr. Aber sie wird darüber hinweg kommen, wie man so sagt. Vielleicht ist es auch nur mein Muster, meine Neurose, meine Lebenshilfe im Leid Schönheit sehen zu wollen. Aber Gestern war der Tag, an dem zwei Welten zusammen kamen: die des Leids und die der Heimat. Gestern, habe ich Zugezogener - der ich immer bleiben werde, und womit ich mittlerweile auch meinen Frieden habe - tief in die Augen dieser schönen Stadt geblickt. Gestern habe ich mich in München verliebt.