Meine
Hüfte vibriert. Aber heute bin ich raus.
„Nein.
Nur zwei. Es gibt genau zwei Arten, auf die ein Witz gelingen kann.
Wenn er überhaupt gelingt“, sagt Helene und kratzt sich an der
nackten Wade, die sie mitsamt ihren Füßen aufs Armaturenbrett
gelegt hat: „Beim ersten Mal und beim hundertsten Mal.“ Ihr Rock
ist etwas in den Sitz gekrochen und der Blick auf ihr Muttermal
freigegeben. Es scheint sie nicht zu stören. Manchmal möchte ich
sie darauf ansprechen, wie sie mit ihrem Körper umgeht oder
erzählen, dass er mir fast Angst macht. Aber wir sind nicht so weit,
so intim. Ich kann meiner Assoziation eines überfürsorglichen Opas
oder Onkels nicht nachgehen. Ich kann sie nicht fragen.
„Und
beim hundertundersten Mal?“, frage ich und bin froh, dass ich dabei
den Blinker setzen muss. Es verleiht meiner Frage eine gewisse
Lässigkeit.
„Wer
erzählt schon Witze 101 Mal?“, fragt Helene, und weil wir beide
dazu nur nicken und gespielt nachdenklich in die Ferne schweifen,
schaffen wir einen fast witzigen Moment.
Helene
dreht über die Wählscheibe meines Ipods, welcher ans Radio
angeschlossen ist. Das dazugehörige Rattern knistert durch die Boxen
und füllt den Wagen mit einer Art digitalen Meditation. Die
Mittagssonne spiegelt sich im Display des Players. „Ah,
Studentenpogo“, sagt sie und eine Gitarre beginnt zu hüpfen. We're
the people / the happy with the broken hearts / the ones who draw a
picture and proclaim that it's art. Ich
lasse das Fenster noch etwas weiter herunter. Die Kurbel ist mir das
Liebste in meinem Auto. Wie ein Überbleibsel aus meiner Kindheit;
ich neben meiner Mutter, die mich zum Einkaufen mitnimmt. Ich darf
Kekse aussuchen und auf dem Rückweg fragt sie mich, warum ich diesen
oder jenen Popstar so mag. Zum Kurbeln habe ich beide Hände
gebraucht, das Machen war noch schwer, das Denken einfach.
„Hast
du dein kleines Schwarzes dabei?“, frage ich und deute auf das vor
uns liegende Straßenschild, das uns den Weg nach Baden-Baden weisen
will.
„Jaaa“,
sagt Helene und es liegt ein Triumph in ihrer Stimme, den ich weder
entschlüsseln noch erklären kann. Das wird mir zu heiß. Plötzlich
ist alles nicht mehr aufregend sondern gefährlich und ich lasse mein
eigens installiertes Thema schnell wieder versanden. Casinos sind ja
doch nur was für Pauschaltouristen und Telekomaktionäre, durchzuckt
es mich. Das Navi spricht von noch etwa 500 Kilometern.
„Du
meinst das Kleid, dass ich letzten Sommer am Gärtnerplatz getragen
hab'?“, fragt Helene vorsichtig aber hörbar geschmeichelt. Ihre
Hand fährt flüchtig über meine Schulter.
„Möglich“,
sage ich.
„Was
für ein Abend!“, sagt Helene: „Du warst so süß, meine Fresse.
Und ich mochte dein Hemd. Du sahst so gut aus.
Understatementaufreißer, ich sags dir.“
Mein
Blick fällt in den Rückspiegel. Ein Mercedes will vorbei, ich mache
Platz. Dem Das-wurde-aber-auch-Zeit-Blick des Fahrers setze ich ein
Grinsen und Winken entgegen, das provokant sein soll. Der CLK zieht
davon.
„Schon
komisch“, sagt Helene.
„Was?“
„Na
ja, der Abend.“
„Wieso?“
„Ach,
weiß auch nicht.“
Helene
war letzten Sommer noch mit Michael aus ihrer Band zusammen, der
diese kurze Zeit später verließ. Nachdem Helene ihn verlassen
hatte. Am Gärtnerplatz trug sie eine Fußkette zu ihren Ballarinas
und als ich fragte, möglichst verträumt klingend, was ihr Tattoo
über ihrem Knöchel bedeute, sagte sie nur: „Liebe“, und hat
gelacht. Später hat sie mich aufgeklärt. Das Tattoo sei eine
„Urlaubseuphorieschwachsinnigkeit“ sowie ihr chinesisches
Sternzeichen. „Im
Zeichen der Ratte Geborene sind kreativ“, hat sie dann ihr
Smartphone zitiert: „spontan und offen für alles Neue. Ihr
Enthusiasmus lässt sie viele Dinge in Gang setzen, doch ihr
mangelndes Durchhaltevermögen fördert nicht unbedingt das Beenden
des Begonnenen.“ Außerdem erinnere es sie an ihre Jugend. Es wäre
eine „Ode an die Fehlbarkeit“. Sie müsse nicht damit leben, sie
„dürfe es“. Dann hat sie wieder gelacht und wir unterhielten uns
über Musik, ein bisschen über Filme und noch mehr Musik. Sie nannte
ein paar betrunkene Teenager neben uns ein „Untervögeltgeschwader“
und immer wieder hat sie mir dabei ihre Hand auf meine Brust gelegt,
wie eine Krankenschwester, der man vertraut, weil man bereits länger
ihr Patient ist. Und als sie Zigaretten drehte, hat sie mir die erste
angeboten, ohne zu wissen, ob ich rauche. Ich griff dankend zu, sie
drehte die nächste.
Die
Sonne steht immer noch hoch. Helene hat eins meiner T-Shirts von der
Rückbank genommen und es sich zwischen Fensterscheibe und Wange
gelegt. Ihre Sonnenbrille rutscht zur Schläfe hinauf und ich sehe,
wie es unter ihren Lidern hervor zuckt. Ich suche einen geeigneten
Song für diesen Anblick, für all das hier. Nach ein paar Klicks
nehme ich den Daumen von der Taste.
I strain my eyes / To
tell the difference between shooting stars and satellites
/ From
the passenger seat as you are driving me home.
Wir
sind auf der Höhe von Verdun als Helene unvermittelt beginnt
mitzuflüstern: „Do
they collide? / I ask and you smile.
/ With
my feet on the dash
/ The
world doesn't matter“ und
keiner von uns macht den Fehler, irgendetwas auszusprechen. Ich habe
meinen Ellenbogen auf die Seitentür gestützt. Meine Hand ist in
meiner Frisur vergraben und ich traue mich nicht, hinüber zu
schauen. Aus Angst etwas zu zerstören. Ich wünsche mir ein
schwarzes Loch, das uns mitnimmt – und nie wieder ziehen lässt.
Ich hoffe auf einen Mammutbaum auf dem Mittelstreifen. Bis in alle
Ewigkeit, jetzt! Das einzige was ich noch mehr will – dass Helene
sich dasselbe wünscht.
Fast
unbemerkt legt sich die Stadt vor unsere Füße. Noch während ich
abfahre, fällt mein Blick durchs Lenkrad: 19:16 Uhr. Links folgt uns
die Seine in ihrer ganzen warmen Kälte, wie ein Interpol-Song. Dann
nach rechts, auf den Boulevard de la Bastille. Auf dem Parkplatz
kehrt Helene ins Auto zurück. Sie streckt sich, grinst burschikos in
meine Richtung und nimmt ihre Füße vom Armaturenbrett. „Danke“
sagte sie: „Wirklich. Danke dir, Cowboy.“ Was immer sie damit
meint.
„Gerne“,
sage ich und mache den Motor aus: „Und jetzt?“
„Jetzt
steigen wir aus“, sagt sie. Ihre Stimme hat jene sonore
Gequältheit, kurz nach dem Aufwachen. Und noch bevor irgendetwas
anderes passieren kann, fällt die Tür zurück in die Karosserie.
Ich ziehe hastig meine Schuhe an, stopfe den Ipod ins Handschuhfach
und laufe ihr hinterher. Fast vergesse ich abzuschließen.
Auf
der Piazza Beaubourg angekommen, falle ich auf den Fuß einer Staue:
zwei mir unbekannte Gestalten in der Diagonalen. Einer stößt die
Glatze in den Torso des anderen, der davon zu Boden geht. Was ist
das? Mit dem Kopf durch die Brust? Sich die homosexuellen Hörner
abstoßen? Ich bin müde. Die Fahrt steckt mir in den Gliedern –
oder aber die Ankunft. „Warst du schon mal hier?“, fragt Helene,
hüpft leicht auf und ab und fährt sich mit der Zunge über die
Zähne. Ich schüttle den Kopf.
„Ich
auch nicht“, sagt sie und schaut umher. Es vergehen ein paar
Minuten, in denen sie beginnt, sichtlich inspiriert von alldem hier,
von einem Film zu erzählen. Ich kenne ihn nicht, es geht um einen
Alkoholiker und eine Blinde und über Liebe und diese Stadt und
Sehnsucht und es gibt Feuerwerk und er sei sehr schön. „Und David
Bowie hat den Soundtra ... da!“, unterbricht Helene sich selbst und
dreht ihre Schultern zur Mitte des Platzes: „Marco!“, kreischt
sie und läuft los.
Er
hat sich seinen Helm auf den Arm gespießt, kann ihn aber dank seiner
Körpergröße trotzdem noch entschlossen in ihren Nacken legen. Ich
blicke auf die zwei Wesen über mir und wieder zurück, sehe wie er
sie zielsicher an der Hüfte packt und ihr etwas ins Ohr sabbert.
Helene biegt sich an ihm entlang. Meine Schnürsenkel sind immer noch
offen. Zurück am Auto nehme ich meine Kopfhörer von der Rückbank
und gehe. Den Abend nutzen.
Hoch
oben über der Stadt ist mein Blick genauso distanziert von allem wie
übersichtlich. Niemand erzählt Witze. Niemand lacht.