My
home was my castle. Wir haben die Burg der eigenen vier
Wände aufgegeben und diesen einstigen Schutzraum den Versprechungen
der Arbeitswelt geopfert. Perfektionismus wurde zur Tugend,
Leistungsdenken ein Dauerzustand. Warum man sich Burn-Out und
verwandte Krankheiten eigentlich zu Hause holt. – Ein Essay.
Der
Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Denn Ernesto ist zu Gast
und gibt die volle Punktzahl.
Das
Perfekte Dinner macht seinem Namen alle Ehre. Kandidat Ernesto trägt
eine beige-weiß-karierte Mütze. Dazu ein Sommerhemd, in deren
Ausschnitt ein zierliches Goldkettchen verschwindet. Davor das
Nummernschild. Dem Kandidat mundete die Bewirtung. 10 Punkte.
Ein
Format, harmlos gewiss, und in keinster Weise der Untergang des
alteuropäischen Abendlandes. Jedoch Ausdruck eines Phänomens, einer
Entwicklung, die über das Symbol und über die kurzfristige Mode
bedeutsam ist. Das Private, nicht zu verwechseln oder gleichzusetzen
mit dem Begriff der Privatsphäre, unterwirft sich zunehmend den
Regeln der Arbeitswelt, den Leistungsprinzipien der Konkurrenz, dem
Denken des Kapitalismus. Kochen um jeden x-beliebigen Preis. Der
Gewinner hat gewonnen. Und wer gewinnt, hat gewonnen. Geselligkeit
als Ergebnissport, Punktesystem inklusive.
Auch
für die Teilzeitprominenz gibt es die Variante am Sonntagabend. Man
ist nicht zum Kochen in der Sendung, sondern um sich seinen
Berühmtheitsstatus zurück zu holen. Wessen Castingband kein neues
Album mehr aufnehmen darf, wessen Sportkarriere keine Fortsetzung im
Trainerlehrgang findet, wer nichts mehr zu verlieren hat, der kocht.
Auf
Vox schauen wir also der Halbberühmtheit beim kulinarischen
Anbiedern zu und fühlen uns ihr überlegen. Unter der Woche kochen
wir auf gleichem Sender selbst.
Wir
haben nicht verlernt zu kochen. Wir brauchen einfach jemanden, der
uns sagt, dass alles gut ist. Jamie Oliver, Wohlfühl-Schnibbler vom
Dienst, zeigt mit Charme und ewiger Jugend, dass man sich auch für
die einfachen Dinge nicht zu schämen braucht. Sein medizinisches
Pendant heißt Dr. Eckardt von Hirschhausen. Bei großen Lebensfragen
bietet Richard David Precht Orientierung. In Mars-und-Venus-Dingen
hilft Mario Barth. Und wer gerade denkt, der einzige zu sein, der nicht weiß wohin mit sich, dem tätschelt die Julia Engelmann der Saison die Stirn. Wo Antworten sind, wurden Fragen gestellt. Wo
Fragen sind, herrscht Ratlosigkeit. Von der Küche über den
Medizinschrank bis ins Wohn- und Schlafzimmer: Es scheint derzeit
viel banalen Klärungsbedarf zu gehen.
Einender
Eskapismus im Wohnzimmer
Das
eigene Heim verliert zunehmend seinen Schutzraum-Status und bekommt
eine gesellschaftlich fortschrittliche Rolle zugewiesen. Nicht erst
durch Google-Street-View. Ein Rundgang durch seine einzelnen
Räumlichkeiten macht Sinn. Beginnen wir im Wohnzimmer, in dessen
Mitte der Fernseher thront, Spielekonsolen zu seinen Füßen. Für
diese, ehemals ein reiner Hort des Hedonismus, werden nun Programme
entwickelt, die Fitness-Übungen zum Abnehmen oder zur
Bewegungssteigerung bereithalten. Die Wii kann sogar Yoga.
Gameboy-Spiele definieren ihren Reiz in der IQ-Steigerung. Ein
Begriff wie Gehirnjogging kann nur in einer Zeit materiell
ausgereizter Ressourcen entstehen. Wir haben unser Heim zu einem
physischen wie psychischen Fitnessstudio umgebaut. Die Playstation
ist ein Hometrainer geworden.
Ist
die Konsole ausgeschaltet, findet der Fernseher seine Funktion als
Flucht- und Fixpunkt. Aber auch als Erzieher dient die Gerätschaft.
Das Model und der Freak zeigt Erfolgschancen bei Frauen auf, indem es
seine opportunistischen Kandidaten irgendwo runter springen lässt,
während ihm die Laufstegpomeranze rät, häufiger zu duschen. Die
Castingshows lehren derweil, wie wir zu singen haben und vor allem,
wie wir nicht zu singen haben. Außerdem erzählt man uns, wenn man
etwas genauer hinsieht, dass zu viel Persönlichkeit auch nichts
bringt. Was zählt, ist nur ein Satz: „Ich werde alles geben“. Ob
als versuchtes Model, Sänger oder Gastgeber: „Ich werde alles
geben“, wie auswendig gelernt. Nein, es ist auswendig gelernt. Wenn
Sportkommentatoren lobende Worte für jemanden finden, heißt es
meist: „Er hat alles richtig gemacht“.
Unsere
Sprache hat sich verändert. Wir haben Begriffe wie Life-Coach oder
Performance-Angst einfach und unkommentiert in unseren Wortschatz
gelassen. Im Fernsehen haben wir sie zum ersten Mal gehört.
Nur
Doku-Soaps spenden ambivalenten Trost. Bei allem Versagen, so
peinlich wie die Familie am RTL-Nachmittag ist man dann doch nicht.
Das Privatfernsehen ist geprägt von Eskapismus und Unsicherheit.
Eine Sendung wie Das Supertalent beruht einzig auf dem Prinzip der
Präventiv-Wertung. Schon in der obligatorischen Ankündigung eines
Kandidaten erfährt der Zuschauer, ob er gleich zu jubeln, zu staunen
oder zu buhen hat. Das voran gestellte Video erzählt dafür, ob der
folgende Vortänzer einen tragischen Familienfall zu pflegen hat,
sich trotz seiner ärmlichen Verhältnisse Lebensfreude und
Optimismus bewahrt hat oder leidenschaftlicher Sammler gebrauchter
Unterwäsche ist. Die Prophezeiung hat sich selbst erfüllt, bevor
auch nur ein Schritt getanzt oder ein Ton gesungen ist. Das
Glückmoment der Gruppenzugehörigkeit im gemeinsamen Fühlen und
Handeln, wie plump und manipulativ dieses auch entstehen mag, ist
elementar für den Erfolg solcher Sendungen. Eine unsichere
Gesellschaft zeichnet sich durch äußere Homogenität aus, nach der
sie strebt und die ihre eigene Ausbreitung vorantreibt. Selbst die
Quoten-Schwarze und die Quoten-Blonde, die Dieter Bohlen flankieren,
versichern sich in Körpersprache und Mimik regelmäßig beim Mann in
ihrer Mitte. Ob sie das Dargebotene nun gut oder schlecht zu finden
haben, ob er den Daumen hebt oder senkt. Dabei steht dies immer schon
vorher fest.
Der
Fernseher ist eine letzte Flucht vor der Welt geworden. Er nimmt
einem das Denken und sogar das Fühlen ab, und betreibt gleichzeitig
kulturästhetische Erziehung. Eine letzte passive Insel der
Nicht-Überforderung in Zeiten der mentalen Überschwemmung und der
Aktivitätspflicht. Das Medium, welches mal das Fenster zur Welt sein
wollte, ist die letzte Ablenkung vor ihr.
Diplom-Küchentischpsychologen
Neben
dem Fernseher liegt ein Stapel Illustrierte. Meist ist es gleich ein
ganzer Haufen, gerne auch auf dem Klo platziert. Auch wenn jedes Heft
identisch gestaltet ist, scheint der Markt eingängiger
Frauenzeitschriften nie gedeckt. Fast jedes Exemplar bietet Tipps für
die unterschiedlichsten Lebenslagen. Viele davon betreffen den
öffentlichen Raum, das Schminken, die Mode, das Verhalten gegenüber
dem Chef, den Kollegen. Doch auch die engste Umwelt besitzt
Optimierungsmöglichkeiten. Wie man mit Freundinnen umzugehen hat,
mit Geschwistern und, naturgemäß häufig: dem Partner. Das Leben
ist zu einer ewigen Fortbildung geworden. Freundinnen machen
Persönlichkeitstests, Beziehungen beginnen gleich in der
publizistischen Paartherapie. Alles kann verbessert werden: Die
Körpersprache beim ersten Date. Die Art, mit der man sich vor dem
Sex auszieht. Die richtige Wortwahl bei der zweisamen Generalkritik.
Man analysiert sich in die Depression. Gibt man bei Amazon die Worte
„Ratgeber“ und „Liebe“ ein, erhält man gut 6600 Treffer. Bei
„Ratgeber“ und „Geld“ ist es weniger als die Hälfte. Wer so
viel zu verbessern hat, so unperfekt ist, kann gar nicht geliebt
werden. Die eigene Unsicherheit wird auf die Zöglinge übertragen.
Absolute Spitzenreiter bleiben demnach die Erziehungsratgeber, mit
fast 30.000 Vorschlägen. Selbst die eigene Emotion steht auf dem
Prüfstand. Und lieben tut man – so viel haben wir von Bridget
Jones noch behalten – leidenschaftlich, kompromisslos, ewig. Ohne
jeden Zweifel. Und wenn eine Kleinigkeit am Partner nicht stimmt–
so viel haben wir von Carrie Bradshaw noch behalten – hat man
Reißaus zu nehmen. Auf der Flucht vor sich selbst. Wenn wir nicht
lieben oder nicht geliebt werden, gibt es dafür nur einen Grund: die
eigene Fehlerhaftigkeit. Um es mit Heidi Klum zu sagen: Man hat nicht
alles gegeben.
Das
Grundniveau an psychologischem Halbwissen und Selbstreflektion ist so
hoch wie nie. Wir wissen, dass wir eigentlich nur Angst vor Nähe
haben oder dass wir eigentlich nur Menschen suchen, die wie unsere
Eltern riechen. Die Ausschlachtung der Ratio hat uns alle zu
großartigen Küchentischpsychologen ausgebildet. Nur führt eine
wissende Ratio nicht zu einer höheren, emotionalen Reife. Reflektion
ist lediglich das ewige Lamentieren über sich selbst, das immer nur
neue Bereiche der emotionalen Schwäche benennt, aber nicht bekämpft.
Die
Treppe hinauf gelangt man ins Schlafzimmer. Im Bett hat man
selbstredend genauso zu funktionieren. Selbst im Intimsten hat das
Prinzip der Leistungserbringung Einzug erhalten. Der ehemalige
Schutzraum Sexualität bricht auf, wird durch Phänomene wie YouPorn
gleich geschaltet, die wie das Fernsehen ästhetische Erziehung
betreiben. Der richtige Sex: Es gibt ihn. Er ist unbehaart,
ausdauernd, abwechslungsreich, spontan und sowieso. Der Aufstieg des
Pornos aus dunklen Kellern in die beiläufige Häuslichkeit des
Internets hat ihm den verruchten Charakter, die spannende Aura der
Andersartigkeit genommen. Früher waren der Porno und seine
Darsteller etwas aus einer anderen Welt. Heute drehen wir alle
unseren eigenen. Zu sehen in der Kategorie Amateur. Der Sexfilm gilt
nicht mehr als exotisches Etwas, das man sich verklemmt bis verstört,
innerlich distanziert bis heimlich-fasziniert ansieht. Er ist zum
Standard geworden, den wir täglich versuchen zu erreichen. Und wenn
man etwas erreichen kann, kann man dabei scheitern. Wenn wir
glücklich sein können, sind wir es nicht. Auch schon vor dem Sex,
also im Bad gibt es einheitliche Auswüchse. Früher war es für die
Frau unmöglich, den Kampf gegen die eigene, freiheitsheuchelnde
Behaarung anzutreten. Heute dagegen muss jede Dame – und der
Fairness halber sei gesagt, dass auch Männer zunehmend häufiger
solchen Pflegeauflagen unterliegen – sich von sämtlichen
Auswüchsen unterhalb der Schultern entledigen. So oder so: es bleibt
ein Hygiene- und Schönheits-Diktat. Die Frage der Intimrasur ist
keine Frage. Man hat keine Wahl.
Ich
teile mich mit, also bin ich
Beim
Thema Sex ist man heutzutage wie konditioniert am Computer. Der
Laptop wird ja auch – so zeigt es uns beispielsweise die
(kinderfreundliche) Werbung – direkt mit ins Bett genommen. Dass
aus der dauerhaften Möglichkeit der Internetnutzung und
Erreichbarkeit über W-Lan und Smartphones unmittelbar der Zwang der
Erreichbarkeit wird, verrät die Telekom-Werbung nicht. Natürlich
kann Oma jederzeit Mails checken. Aber der Chef kann auch jederzeit
solche senden – und verlangen, dass diese umgehend gelesen werden.
Das
Internet im Allgemeinen und Facebook im Speziellen sind natürlich zu
nennen, wenn es um die Vermischung einstmals getrennter Welten geht.
Wenn Intimes und Öffentliches eine undurchsichtige Mischform bilden.
Der Like-Button ist vielleicht das deutlichste Bild für die
Unterordnung intimer Dinge unter einem Prinzip der Leistung. Etwas
gut finden lassen, heißt immer auch, es der eventuellen
Missbilligung anderer zu unterwerfen. Doch trägt man in Netzwerken
sein Privates nicht nur in den öffentlichen Raum und gibt ihn damit
zur Bewertung frei. Das Internet ist zu einem Echtzeitmedium
geworden. Die Bewertung findet simultan zum Erlebten statt. Das Foto
aus der ersten Reihe, das Video der neuen Single wird noch auf dem
Konzert hochgeladen und damit auch noch während selbigem bewertbar.
Gerne wird auch die gerade zubereitete Mahlzeit fotografiert und
gepostet. Wo wir wieder beim perfekten Diner wären. Etwas zur
Bewertung freigeben heißt, sich abzusichern. Mache ich auch alles
richtig, ist die Frage, die hinter der Pasta im Profil steht. Ist
alles gut bei mir? Jetzt? Während die Angst vor dem Alleinsein alles
umschließt. Und Mobilfunkanbieter zeigen währenddessen Hipster, die
während des Bungee-Sprungs ihren Freunden erzählen, wo sie gerade
sind. Ein Glücksversprechen: Ohne die Teilhabe anderer ist das
Eigene, das Innere nichts wert. Es existiert gar nicht. Ich teile
mich mit, also bin ich. Es gibt nichts Privates mehr, weil sich das
Private neuerdings erst durch seine Präsenz im öffentlichen Raum
definiert.
Nachdem
man also zwischen Lokalsportteil und Aufwach-Zigarette seine Mails
gecheckt hat, fährt man zur Arbeit. Im Radio redet ein
Wirtschaftsweiser. Aber man hört nicht hin. In Gedanken legt man
sich bereits seine Worte zurecht. Die letzte Nachricht hat das Thema
des ersten Meetings preisgegeben. Was schrieb Gordon Gekko uns noch
gleich ins Notizbuch: „Lunch is for pussys!“
Der
Rhythmus, bei dem man mit muss
Das
Wesen des Kapitalismus ist der Fortschritt. Das Wesen des
Fortschritts ist die Verbesserung, gerne auch Optimierung genannt.
Und da ist der Optimismus gleich mit drin, also die Werbung.
Werbung
ist auf eine Aussage zu reduzieren: Es ist möglich, glücklich zu
sein. Womit, wodurch oder wie erklärt jeder Reklamekontakt für
sich. Wenn wir glücklich sein können, bekommen wir damit aber
eigentlich gesagt, dass wir es im Moment nicht sind. Optimierung,
Perfektion ist ein Loop, eine Endlosschleife, ein Hamsterrad.
Genauso
wie die Werbung ihr Bestehen aus dem dauerhaften Vorhandensein eines
Verbesserungspotenzials konstruiert, ist im Kapitalismus der
Fortschritt ein immer währendes Moment. Der Weg, der Anstieg ist das
Ziel. Rentenalter werden herauf gesetzt. Schüler früher eingeschult
und vor allem: früher durchs Abitur geprügelt. Den protokollartigen
Auslandsaufenthalt zwängt man sich trotzdem noch irgendwie in den
Lebenslauf. Englischunterricht gibt es ab der ersten Klasse,
Geografieaufgaben werden bereits im Kindergarten gestellt. Auch Noten
fürs Betragen schaffen es immer wieder aufs Zeugnis. Druck
allerorten. Wer es nicht aufs Gymnasium schafft, verliert. Der
Lebensweg entscheidet sich am Ende der Grundschule. Da ist sie
wieder, die Undurchlässigkeit, die Bewahrung der Homogenität, nach
der unsichere Gesellschaften immerzu streben.
Auch
wenn in der Workload-Überforderung das unzureichende Klischee der
bösen, fiesen Arbeitswelt steckt. Mit dem Wegbrechen einer
ideologischen Alternative, und wenn sie noch so
sozialistisch-fragwürdig war, ist auch die Frage nach der
Veränderung gewichen. Nützt ja doch nichts, wird auf eingebrachte
Zweifel entgegnet und weiter gemacht. Der Körper kennt darauf immer
nur die Antwort des unkontrollierten Ausbruchs, des Hilfeschreis.
Ausgebrannt ist man dann, verenglischt: Burn-Out. Doch der seelische
Zwilling der Depression kämpft weiter um den Titel des Leidens mit
dem schlechtesten gesellschaftlichen Stand. Ein Bein kann sich jeder
brechen. Krebs bekommen, ist Schicksal. Aber traurig sind nur die
Schwachen. Dies sei nur eine Mode, ist da der häufig gebrachte
Einwand. Alle wären sie jetzt erschöpft, das geht vorbei. Doch
offen geht weiterhin niemand damit um. Mag die Anzahl der
Krankschreibungen auch seltsam rapide gestiegen sein – was
vielleicht sogar nur der Tatsache geschuldet ist, dass diese
Krankheit endlich einen Namen hat –, zugeben tun die wenigsten,
deswegen in Behandlung zu sein. Allein die bloße Existenz der Frage,
ob es sich bei diesem Leiden nicht einfach um eine fragwürdige und
faule Generalentschuldigung der Arbeitenden handelt, zeigt die
Rechtfertigungsnot, in der sich Erschöpfte und Ausgelaugte sehen. Da
wählt man lieber die Taktik der körperlichen Verdrängung. Symptome
wie Müdigkeit und Nervosität werden unterdrückt und bekämpft.
Ritalin ist bei Schülern und Studenten der neue Traubenzucker. Der
Energiedrink Red Bull verkaufte sich im Jahr 2010 4,2 Milliarden Mal.
Für dieses Jahr wird der Rekordabsatz von 4,6 Milliarden erwartet.
Dreimal so viel wie noch 2005.
Mit
der zunehmenden Angst im Perfektionierungsdauerlauf auf der Strecke
zu bleiben, also im Wettrennen gegen eine fiktive Masse, die
scheinbar immer besser, länger und gewissenhafter arbeitet als man
selbst, entscheiden sich immer mehr Angestellte für die Arbeit und
gegen die Freizeit. Womit diese Entscheider zur eigentlichen,
weiterhin unfassbaren, fiktiven Masse werden, an der sich andere
wiederum orientieren. Es ist eine nur schwer zu durchbrechende
Abwärtsspirale. Doch die Entscheidung für oder gegen die Freizeit
ist letztlich eine genauso autonome wie jede andere. Konkurrenzdruck
ist immer eine Größe, der man sich genauso entziehen kann, wie man
sich freiwillig auf sie einlässt.
Doch
die Schwierigkeit ist nicht zu leugnen: Karriere gegen Spaß. Der
berufliche Erfolg ist neuerdings nur noch zum Nachteil des
Privatlebens zu erreichen, nicht mehr im Einklang mit ihm.
Vom
Privaten zum Politischen
Die
Aufgabe Freizeit und Arbeit in Einklang zu bringen, ist nicht neu.
Die Wirtschaftswunderer grenzten das Private vom Beruflichen ab, in
dem sie es mit dem Geschlecht verbanden. Ohne Frauen war der
Arbeitsmarkt nur noch halb so voll, weshalb jedes nostalgische,
glorifizierende Sehnen nach jenen Tagen immer auch etwas arg
Verdrängendes hat. Und dennoch: „Samstags gehört Vati mir“ war
zwar Verstärkung patriarchalischer Strukturen, aber genauso die
quantitative Zusicherung von Freizeit. Das Waschen des Autos,
zugegebenermaßen ein miefiges Hobby, war immer noch ein Hobby.
In der
68er-Bewegung dann entwickelte man die Idee einer von der
Arbeitsobrigkeit befreiten Lebenssituation, in dem man das Private,
die Selbstverwirklichung nicht zum wichtigsten, sondern zur
alternativlosen Allheiligkeit erklärte. Die einstmalige Grenze, die
man mit dem Schließen der Haustür zog, verwischte. 1970 wurde in
der Frankfurter Eppsteiner Straße 47 das erste Mal ein Haus besetzt.
Das Private wurde politisch. Die Häuserwand zur Kampfzone. Die Zeit
war voller Dogmen. Eine sich schminkende Frau war Antifeministin. Das
Ideal der freien Sexualität war letztlich das Diktat der sexuellen
Freigiebigkeit. Frei hieß groteskerweise nur, was dem Ideal
entsprach – oftmals schlicht die plumpe Umschichtung des
Vorangegangenen. Frei wäre gewesen, sie hätten gerufen: Wer zweimal
mit derselben pennt, gehört zwar zum Establishment, aber hey, jedem
das Seine, ihr Spießer. Klingt fast genauso catchy. Womit wir
nochmals zur Werbungssprache zurückkehren.
Bis in
die 60er Jahre fristete das Wort Mehr in der deutschen Werbesprache
eine untergeordnete Rolle. Inhaltliche Begriffe wie Frisch oder
Schmeckt waren ihm einige Nennungen voraus. Erst in den 70ern wurde
Mehr häufiger genutzt, stieg aus unteren Top 20-Platzierung bis auf
Platz drei. Dort steht der Begriff bis heute. Im Geschäftsjahr
2010/2011 wurden nur die Wörter Wir und Leben öfter in Werbeslogans
verwendet.
Das
Mehr ist gleichermaßen Dogma wie Zugpferd einer vereinheitlichenden
Entwicklung geworden, die bis heute anhält. Der konservative
Backroll heutiger Mittdreißiger, die Sehnsucht nach Stabilität, die
Konzentration auf das kleine, private Glück, fernab großspuriger
Ideale, die über die Kernfamilie hinaus gehen, ist nicht wie oft
behauptet, eine Rückbesinnung auf Nachkriegswerte. Es ist eine
erneute Steigerung, ein erneutes Mehr. Waren die monogamen 50er auf
den materiellen Aufstieg fokussiert, koste es was es wolle, probten
die Hippies den Ausstieg, der letztlich nur ein Einstieg in eine neue
Welt voller Wertvorgaben war.
Ganz
im Wesen des Kapitalismus, der sich nach dem Ausreizen eines
Wirkungsfeldes einem neuen zuwendet, ist die Logik der
Leistungserbringung nun vom rein beruflichen ins private Leben
übergegangen. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, in dem man nicht
funktionieren muss.
Demnach
sind die Burn-Out-Fälle, die Ritalin-Junkies, die überforderten
Grundschüler und ihre Eltern nicht einfach die Resultate eines
Kapitalismus, der sich unersättlich im Ausloten seiner Grenzen
zeigt, und dem man sich klagend ergibt. Letztlich sind sie das
Ergebnis einer fehlgeschlagenen Verteidigung des Schutz- und
Rückzugraums Privat. Überarbeitung als qualitatives Problem.
Wir
lassen uns das Rauchen verbieten, unsere Butter ist cholesterinfrei,
wir leben in dem Bewusstsein, dass Sex mehr Kalorien verbrennt als
Joggen. Der Fortschritt, er hört nie auf. Wir öffnen ihm die Tür.
Wir ließen das Drehteam hinein, uns beim Kochen zu begleiten. Wir
geben uns im Internet und sonst wo zur Bewertung frei. Wir lesen die
Zeitschriften und Ratgeber, die wir lesen. Wir gucken die Sendungen,
die wir gucken.
Für
sein Privatleben – soweit liegt es dann doch noch in der Natur der
Sache – ist am Ende eines langen Arbeitstages immer noch jeder
selbst verantwortlich. Worin aber ein Hoffnung spendender
Lösungsansatz steckt.
Beim
nächsten Konzert die Kamera auslassen. Freunde zum Essen einladen,
ohne Sorge um den Hauptgang. Solange genügend Wein im Haus ist, ist
die Würze des Hauptgangs nicht entscheidend. Mal wieder den
Tetris–Highscore knacken und nicht durch den Vorderlappen joggen.
YouPorn als das annehmen, was es ist: gute Comedy. Dass die Karriere
ihren Platz herrischer einfordert als früher, ist unumstritten. Umso
wichtiger ist es für jeden Einzelnen, sich seine stress- und
leistungsfrei-Zone zu erhalten.
Wir
sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wir sind, liebe Werbung, ganz
und gar nicht glücklich. Aber wir könnten es wieder werden.