Als
Manuel Junglas' an den zweiten Pfosten gehobener Ball sich
entschließt vom Aluminium hinter die Linie zu springen und dem Netz
in die Arme zu fallen, tut sich vor mir das Meer auf. Ein Block sucht nach Halt – vergebens. Ich habe Joke an meiner
Schulter. Sie schreit mich an, ich schreie sie an. Augen auf, Mund
auf. Wir springen, die Hände aneinander – wie Schulmädchen. Der
Boden vibriert, die Zeit fällt auseinander. 5 Sekunden, vielleicht 10. Das
Bewusstsein schleicht zurück: Wir führen. Gegen Gladbach. Im
Pokalviertelfinale. Und das ist, verdammte Axt, erst der Anfang.
Ein
paar Minuten später, ein Aussetzer, der Ausgleich fällt per
Elfmeter und der Abnutzungskampf, der dieser Pokalfight ist, geht in
die nächste Runde. Das Rund braucht ein paar Minuten, die Halbzeit
tut allen gut. Nach dem Wechsel das gleiche Bild wie zuvor. Eines,
das eigentlich eine Haptik ist. Es ist ein physikalische Größe. Vielleicht in Dezibel zu messen, aber nicht nur. Das Kratzen in der Kehle, das mit
jeder Minute größer wird. Ein kleines, großes, volles Stadion probt das Wir. Wieder
und wieder: Wir. Hörbar, sichtbar, erahnbar. Hendrik Buchheister
twittert: „Unfassbar, was hier los ist, wenn's Einwurf für Arminia
gibt. Wie die Leute erst abgehen müssen, wenn ein Tor fällt.“
Dann trifft Junglas und die explosivste Mischung, die ein
Fußballplatz überziehen kann, in Mitten einer Stadt, die immer
schon glaubte, den kürzeren Strohhalm zu ziehen, wird plastisch: Das
Gefühl von Chancenlosigkeit trifft auf das Gefühl von
Selbstbewusstsein. Versager, Pechvögel, Dornenkönige – heute
nicht! Eine Groteske, die nur der Fußball, nur der Pokal entwickelt.
Nach
dem Wechsel hat der DSC den Ball noch weniger als zu Beginn. Das
Spiel wird langsamer, das Publikum stabiler. Das dunkle Zittern des
Anfangs ist einer Brandung gewichen. Tumulte wurden geeint, eine
Front in 360 Grad. Auf einmal ist alles einfach. Alles ist ein Sieg.
Klos hält einen Ball gegen 2 – Sieg. Schütz treibt den Ball –
Sieg. Brinkmann knallt. Der Ball muss nicht rein - alles ist ein
Sieg. Einmal ist Kramer durch und stolpert, einmal haucht Traores
Ball um den Pfosten. Du bist kein Robben, rufe ich: Aber wir sind
Bielefeld. Alles ist ein Sieg, alles macht Sinn. Heute nicht, rufe
ich, wie so oft. Heute nicht! Den Tod verschieben. Die Niederlage ihrer Isolation überführen, die Natur bändigen – Heute nicht, rufe
ich. Heute nicht!
Dann
ist Abpfiff. Dann ist Verlängerung. Dann köpft Klos den Ball 30
Zentimeter daneben und ein rothaarige Dame auf der Haupttribüne
sieht so aus wie ich mich fühle und fühlt so wie ich aussehe
(Minute: 11:24).
Elfmeterschießen. 1200
Kilometer für 120 Minuten und 12 Elfmeter. Lorenz hat es auf dem
Fuß. Sein Fehlschuss hängt die Dornenkrone über die Alm. Es steckt nur noch ein Strohhalm im Glas. Darmstadt. Kruse trifft. Darmstadt, oh Gott. Endstation
Todessehnsucht. Burmeister wankt heran, trifft, küsst wach. Schowlow
hält! Schwarz vor Augen! Zerrbild der Bewegung! Ein Etwas, zu groß
für Worte! Ich küsse jedes Gesicht, dass mir in die Arme fällt.
Ich werfe Joke in die Luft. Wohin? Wohin? Wohin? Hände um den Kopf, er zerplatz sonst. Bier regnet. Die Dinge quellen über. Ich
weine. Ich schreie. Ich weiß nicht wo meine Hände sind. Ich weine.
Ich nehme Joke in den Arm. Meine Augen auf ihre Schulter gepresst.
Halt finden. Atmung wiederfinden. 30 Sekunden, die keine Zeit sind.
30 Sekunden, außerhalb von allem erdlichen. Das Bewusstsein tanzt
zurück. Ich muss Kinder zeugen, damit ich ihnen hier von erzählen kann.
Wo sind wir? Bielefeld, Bielefeld, hallt es durch die Nacht. Und in Alicante geben Freunde der gesamten Bar 3 Runden aus.
Irgendwann - wahrscheinlich später - ziehen wir über den Siegfriedsplatz. Zenon twittert:
"Bielefeld ist weiter. Luhmann hätte wohl gesagt: „Hohe
Kontingenz von Ereignissen bedeutet, dass alles, was ist, auch anders
sein könnte.“ Die Reflektion malt das Wort Stolz auf die Haut.
Heimat, als eine Ansammlung von Humor und Minderwertigkeit –
hervorgebracht im seltenen Moment des Sieges. Die SZ an nächsten Morgen beginnt mit: "Sorry, liebe Gladbacher, aber das musste sein. Arminia Bielefeld musste sensationell als Drittligist ins DFB-Pokalhalbfinale einziehen. Kein anderer Klub hat das Glück so sehr verdient." Der WDR wird schreiben: Bielefeld hat die Tristesse hinter sich gelassen.
Zuhause wartet der
Whiskey und die Sky-Mediathek. Rewatch. Joke ist still. Ich bin
still. Der Kommentator hat's verstanden, die Luft schmeckt salzig, alles ist im Gleichgewicht. Ich weine noch ein wenig, dann hält Klos den Ball gegen 2, Mast legt zurück und
Junglas hebt den Ball an den zweiten Pfosten. Und das ist heute, morgen, ab jetzt für immer, immer erst der
Anfang.