Ein
Antworttext auf „Ein Brief an das Karussell“ von Franziska Amend
Ich
liege zwischen Eisenstangen. Ein rostiges Kuchenstück bugsiert mich
durch die Nacht. Alles dreht sich. Das Knarzen der Drehscheibe schreibt Plattitüden in die Nacht. Ich habe
keine nennenswerten Erfahrungen mit Alkohol, habe weder einen
Führerschein, einen Schulabschluss noch eine Freundin und fühle
mich zum ersten Mal in meinem Leben alt.
Mit
16 bin ich jetzt in einem Alter, in dem meine Eltern, die Freunde
meiner Eltern und Menschen im Alter meiner Eltern mir sagen, dass
dieses Alter vorbei geht. Dabei stelle ich mir die Frage, welches Alter nicht
vorbei geht. Ich weiß nicht, was ich zu meinen Eltern sagen kann.
Vor kurzem habe ich gelesen, dass Menschen, nach ihrer Definition für
Liebe fragt, ausnahmslos von den Dingen erzählen, die keine Liebe
sind. Wenn Sie mich also nach meinen Eltern fragen, kann ich Ihnen
sagen, dass ich sie weder für sonderlich streng noch klug halte.
Meine Mutter hält Frauen, die arbeiten (Geld verdienen) für bessere Menschen als
Frauen, die nicht arbeiten (kein Geld verdienen), würde dies aber nie so sagen und mein
Vater hat kein Interesse an Musik. Ich finde das ziemlich unfair.
Denn ich denke, es gibt zwei Arten von Vätern. Von den einen lernt
man, wie man Geld verdient und glücklich wird, von den anderen lernt
man etwas über Musik und wie man mit ihr unglücklich wird. Da mein
Vater aber kein Interesse an Musik hat, gehöre ich zu jenen, die
keins dieser beiden Privilegien genießen dürfen. Schließlich sind
die Haare meines Vaters länger als jene meiner Mutter, da ist nicht
viel mit Geldverdienen.
An
dieser Stelle möchte ich Sie, kritische Leser bitten, meinen
vorherigen Einschub, ich hätte dies oder jenes 'vor kurzem gelesen',
keiner allzu strengen Stilkritik zu unterwerfen. Ja, derlei
Einleitungen entlarven vor allem ihren Absender als verunsicherten
Redner, doch ich glaube meiner Wahrnehmung der Erwachsenen auf diese
Weise weit näher zu kommen als auf anderen, subtileren Wegen. Geht
es an dieser Stelle schließlich nicht darum wie ein typischer
16-Jähriger zu klingen – was immer das ist –, sondern wie ein
16-Jähriger, der glaubt sich wie 40 Jahre zu fühlen. Nennen Sie
mich Wunderkind, Heuchler oder Pubertätsstreber, wie es Ihnen
beliebt. Aber ganz gleich wie wenig authentisch Sie diese Zeilen auch finden mögen,
so glauben Sie mir zumindest, die Sprache der für mein Alter
offiziell empfohlenen Bücher ist noch viel weniger die meine. Oder
haben sie einen 16 Jährigen schon einmal das Wort Pervers-o-mat
sagen hören? Auch die An- oder Abrede 'Alter' habe weder ich, noch
irgendjemand in meiner Gegenwart jemals gebraucht. Ein paar Langweiler, Ironievergewaltiger sagen so was vielleicht,
aber sonst. Wenn die Erwachsenen wieder Das Unwort und das Jugendwort
des Jahres verleihen, denke ich jedenfalls immer: Das Unwort des
Jahres sollte Jugendwort sein.
Eine
Sache vielleicht noch zu meinen Eltern. Ich denke, sie interessieren
sich nicht wirklich für mich. Sie sind vielmehr erleichtert, dass
ich so bin wie ich bin. Wer ich bin, haben sie vor ein paar Jahren
entschieden, als sie begannen, mich reflektiert zu nennen und dies an
jeder passenden oder unpassenden Stelle auch taten. Ich weiß nicht
genau, was dieser Ausdruck über mich erzählt. Ich weiß, dass der
Typ im Spiegel mir ähnlich sieht, aber nicht zwangsläufig mit mir
identisch ist, ich eine Beziehung zu ihm habe wie ich sie zu Gemälden
oder Geschwistern habe. Und ich kann diesem scheinbar sehr
grundlegenden Prinzip westlichem Lebensverständnisses das passende
griechische Drama zuweisen. Meine Lehrerin hat dann immer einen
wehmütigen Glänz in den Augen, wenn sie mich dran nimmt. Es erzählt
mehr über sie als über mich. Auch sie sagt, dass diese Zeit vorbei
geht, wenn sie entscheidet mir helfen zu wollen.
Wissen
Sie, warum ich mich alt fühle? Ich glaube, es liegt genau daran,
dass das alle immer sagen: Dass geht vorbei. Dass die Dinge noch vor
mir liegen. Auf der Uni, sagt meine Mutter, da wirst du deine Leute
finden. Du brauchst ein Mädchen, sagt mein Vater und meine Lehrerin sagt ich habe "alle" Möglichkeiten. Als ob alles eine
Rolltreppe wäre, mit der es ohne eigenes Zutun auf und
vorwärts geht. Aber dies entspricht nicht im Geringsten meiner
Wahrnehmung. Leicht, ohne eigene Anstrengung, lief bislang gar nichts
und gibt es überhaupt etwas, dass häufiger gewartet werden muss als
Rolltreppen?
Ich
weiß, sonderlich neu ist das hier nicht, ein 16-Jähriger blickt in
den verdunkelten Himmel, fühlt sich verloren, trinkt Alkohol, der ihm nicht schmeckt und sucht halt in
mittelmäßigen Metaphern und wird sich bald mal an Drogen versuchen
oder was mit seinen Haaren machen. Genauso das ganze
Metaebenen-Getue, um sich gegen jede potenzielle Kritik abzusichern
und der billige Trick, sich an den Leser direkt zu wenden. Wie wenn
sie in Filmen sagen, dass das ja immer im Film gesagt wird, nur um
sich raus zureden, dass sie das nicht besser hinbekommen haben, mit
dem Drehbuch. Aber so ist es nun mal. Ich bin nicht gerade zufrieden,
sonst würde ich hier nicht liegen und mich im Kreis drehen.
Natürlich könnte ich noch viel krassere Bilder wählen, die ihnen
von der Tristesse meines Daseins erzählen, aber ich will sie nicht
unnötig aufregen. Sie würden sie ja doch ablehnen, postulieren eine
andere, ausgewogenere, bessere Sicht auf das Leben zu haben,
Varianten des halbvollen Glases abspulen, das Wort Pubertät so häufig in Nebensätzen unterbringen, dass dieses vollkommen ausgehöhlt wird oder sich eine Zustimmung
schlicht verbieten.
Ich
glaube einfach nicht, dass die Tränen der Leute unterschiedlich
schmecken. Sehen Sie, ich werde diese Gedanken jetzt mit einem
Rückgriff auf ein paar Momente vom Anfang beschließen. Ich denke,
dass würde meinen Eltern oder meiner Lehrerin gefallen, es würde
sich anfühlen, als würden die Dinge Sinn machen. Das mögen die
Leute. Ich denke jedenfalls, dass Menschen sich vor allem selbst
retten wollen. Und immer wenn ich als reflektiert beschrieben werde,
geht es dabei doch nicht um mich. Es gibt jedenfalls kaum einen brutaleren Satz als
„Das wird schon wieder“. Reines Desinteresse. Wer weiß schon,
wie es wird. Und ich bin alt, weil ich all diese Menschen sehe, die
älter sind als ich und keinen nennenswerten Unterschied erkenne.
Eine Unterscheidung zwischen Menschen, altersunabhänig, lasse ich
gelten: Es gibt jene, die wissen dass sie unglücklich sind und jene,
die das nicht wahrhaben wollen und dann sagen, dass die Pubertät nur eine Phase sei. Ich glaube nicht, dass irgendetwas
vergeht, die ganze Unsicherheit, Einsamkeit, die unerfüllten Sehnsüchte, die
Wissenslücken, Identitätsprobleme, Geldsorgen, Sorgen. Dass Sex mehr Gutes als Schlechtes auslöst, dass Freiheit irgendwann mal keine Angst mehr macht, dass Sicherheit seine Banalität verliert. Dass die Menschen mit der Zeit klüger, witziger, spannender werden, bessere Musik hören, bereichernde Bücher lesen. Wissen Sie mittlerweile wer sie sind? Oder haben Sie einfach bessere Vokabeln,
darauf eine Antwort zu geben? Sind sie nicht mehr einsam, frustriert, hadernd,
verkorkst, verwirrt, verunsichert? Weinen Sie nicht mehr unter der
Dusche? Schlafen Sie ruhig? Ohne Beißschiene? Halten Sie sich für einen moralischen Menschen? Wie geht es Ihren
Eltern? Wie geht es Ihnen mit ihnen? Wie enttäuscht sind sie von Ihnen? Wie ist es mit der Karriere?
Gibt es sie, lohnt sie sich? Macht Geld glücklich? Machen Kinder
glücklich? Ändert die Ehe etwas (außer die Steuererklärung)? Ist ihre Angst in den letzten Jahrzehnten kleiner
geworden? Wie ist es mit der Liebe? Der Großen? Der einzig Wahren? Ich glaube, die
Pubertät geht nicht vorbei. Sie ist die einzige Zeit, die bleibt.