Eine
Weihnachtsgeschichte
Das Flackern hat
aufgehört. Ich sehe einem 9-jährigen dabei zu, wie er in seinen
metallischen Schalensitz zurück rutscht, heimlich enttäuscht, dem
Treiben CNNs nicht mehr folgen zu können. Er schenkt den Worten
Breaking News noch glauben, und ich bin nicht sicher, ob ich ihm dies
neiden soll. Jetzt starrt er in die verstaubte Dunkelheit des
verchromten Rahmens. Weil ein Bediensteter kam, auf dem Bildschirm
herum drückte und ihn ausmachte. Einfach so.
Der Flughafen Denver
ist eine Durchgangsstation. Hier kreuzen sich Wege, ohne sich zu
begegnen. Kilometer an Teppich pflastern jeden Schritt. Die Koffer
gleiten hier von einem Gate zum nächsten, mit etwas mehr Widerstand
und deutlich weniger Klang als auf Stein. Dumpf und gemütlich ziehen
die Massen vorbei. Ihrer Kleidung sieht man an, woher sie kommen,
aber nicht wohin sie gehen. Die Vorstellung eines sonnigen
Weihnachtsfests ist mir immer noch, nach all den Jahren, zuwider und
ich möchte dem vorbei hetzenden Vater in beiger Khaki-Hose, Polohemd
und Dodgers Mütze kollegial zu nicken, bevor er in die Maschine nach
Buffalo steigt. Weise Entscheidung, der Herr.
Jetzt sitze ich
zwischen Jogginghosen und Wollmützen in meinem sanft gelben Kleid,
welches mir Mama vor genau zwei Jahren geschenkt hat und schaue einer
Maschine in der Ferne zu, wie sie enteist wird. Dieses Outfit hat
mich schon im Lyft Richtung Logan Airport einen verwirrten Blick
gekostet. Ich war nie eine praktische Reisende. Nie eine, die ohne
Make-Up und mit Alma-Mata-Pullover ihre Kreise und ihre Linien zieht.
Nie eine, die sich herausputzt – wenn sie es will. Pro Choice,
sozusagen. Ich hingegen, habe meinen Körper immer selbst als weichen
Panzer gesehen, nicht als etwas, was es zu bepanzern gilt. Und
natürlich muss dieses Verhalten mit Mama zutun haben, ich kann mir
nur nicht erklären wie.
Als wir abheben,
schaue ich den Bergen hinterher. In meinem Magen das gleiche Gefühl,
wie wenn eine lieb gewonnene Sitcom sich verabschiedet. Wie falsch
sind diese Freunde schon, wenn sie sich doch so echt anfühlen? Als
Papa noch in lebendigen, um nicht zu sagen: echten Regionen
stationiert war; in welchen, in denen es Jahreszeiten gibt; in denen
sie Verwesung kennen, da habe ich Weihnachten noch genossen. Wäre
ich in Kalifornien aufgewachsen, würde es mir damit wahrscheinlich
anders gehen, aber gleichzeitig frage ich mich, was die Surferkids
denken, wenn sie It‘s a Beautiful Life oder Kevin Allein Zuhause
sehen. In der Nachbarschaft gedreht und doch so weit weg.
Ein älterer Herr
neben mir kramt in seinem Rucksack. Seine Basecap erzählt, dass er
in Vietnam gedieht hat. Er zieht Orwell heraus und teilt die Seiten
auf seinem Schoss.
„Gutes Buch, sage
ich. Zeitlos. Etwas trocken vielleicht.“
„Ich quäle mich.
Meine Tochter hat es mir geschenkt. Sie ist 19 und hat schon mehr
Bücher gelesen als ich in meinem ganzen Leben. Muss da jetzt durch.“
Ich ertappe mich
dabei, dass ich ihn auf meinen Vater ansprechen will. Kleiner
Militär-Rassismus kurz vor den Feiertagen. Ihr Soldaten, ihr kennt
euch doch alle.
Meine Beine stoßen
immer wieder an den Vordersitz. Economy. Was für ein Zustand. Ich
erzähle mir selbst den Witz, dass ich jeden feministischen
Fortschritt sofort über Board werfen würde, für jene Beinfreiheit,
die sie in Mad Men genießen. Mein winterbleiches Gesicht starrt in
den dunklen Bildschirm vor mir, für welchen man nun bezahlen muss,
wo wir Colorado fast verlassen haben. Ich entscheide, mich nicht für
meine Privilegiertheit zu schämen und es dabei zu belassen.
Stattdessen reicht mir die Stewardess ein Wasser, eine Zuckerstange,
die tatsächlich gratis ist und mit dem Flachland kommt die
Antizipation.
Papa wird direkt
hinter der Ausgangstür auf mich warten, sein Polohemd in die Jeans
gesteckt, die Sonnenbrille am Kragen zusammen gelegt. Die gut
situierte Feierlichkeit des weißen Mannes. Er wird mich kurz
drücken, sich verbieten zu weinen, mir sofort mit großer Geste den
Koffer aus den Händen reißen und mir erzählen, dass Mama mit dem
F-250 draußen wartet. Und egal, wie sehr ich mich auch in diesem
Jahr wieder auf all dies vorbereite, es wird mich erneut in seiner
Unbeholfenheit genauso rühren wie verletzen. Noch im Terminal werde
ich mit mir eine Diskussion führen, die irgendwo zwischen
Denkklischees versucht, Bedeutung zu entwickeln. Ja, er versucht was
er kann, mit seinen Mitteln. Aber nein, ich bin seine einzige Tochter
und der Rhetorik seiner liebsten Politiker nach, sollte dies
bedeuten, dass ich mehr erwarten darf. Als Mutter von zwei Kindern,
Fake News, Gedanken, Gebete, Steuern. Dieses eine Kreuz! Und ich
werde merken, wie Wut und Vergangenheit in mir erstarken. Und ich
werde mich fragen, ob eine einzige politische Entscheidung wirklich
solch ein Gewicht haben sollte. Werde die Frage bejahen, drauf
verweisen, dass es mehr als eine Entscheidung war, die uns an diesen
Punkt gebracht hat und werde mich hassen, diese Frage überhaupt
gestellt zu haben. Am Auto wird Mama mir strahlend um die Hüfte
greifen, ohne dabei ihre schwere Sonnenbrille abzunehmen. Sie wird im
Rückspiegel meinen Blick suchen und mich löchern mit Fragen nach
der Uni. Schnell aber wird sie einen Weg finden, meine Erzählungen
mit denen ihrer Freundinnen zu verbinden. Die Kinder ihrer
Freundinnen heiraten immer sehr viel, werden viel schwanger und habe
hohe Einstiegsgehälter in Jobs, die sehr gerne machen. Ich werde
ihnen dazu gratulieren. Vor dem Autohändlern, die wir passieren,
werden Schnee- und Weihnachtsmänner stehen.
Als wir aufsetzen,
atme ich aus. Im gesamten Sinkflug habe ich meine Fingernägel in
meinen Wasserbecher gegraben, was mir jetzt erst auffällt. Die
Eiswürfel im Plastikbecher sind schon längst nicht mehr und ich
lasse meinen Nachbarn vorbei. Er darf als erstes an Bord, aber nicht
als erstes aussteigen. Ich ermahne mich zur Neutralität und guter
Tochterschaft. 4 Tage, die es verdient haben genossen zu werden. Wir
werden gut essen, Mama und ich werden backen, dass es bis nächstes
Jahr reicht, Papa wird Witze erzählen (das kann er) und wenn die
Nachbarn vorbei kommen, werde ich sagen, dass ich ich mich an der
Ostküste sehr wohl fühle. Und wir werden über das Wetter reden und
es wird mich einhüllen wie eine Decke. Solange wir noch alle über
das Wetter reden, werde ich mir einreden, ist dieses Land noch nicht
verloren.
Ich nehme meinem
Koffer vom Band. Mein Sitznachbar muss noch warten: „Frohe
Weihnachten“, sagen wir uns gegenseitig. Der Terminal ist festlich
geschmückt, selbst Städte-Banner und Motto sind umrahmt. ‚San
Diego - ever vigilant‘, von Mistelzweigen und Plastikschlitten
umzingelt. Draußen sind es 18 Grad. Und auf CNN gibt es Breaking
News. Der President hat in einem seiner Weihnachts-Tweets jemand
neues beleidigt und ich freue mich, in meinem Sommerkleid endlich den
Klimaanlagen zu entkommen.
Papa trägt seine
Red Sox Mütze von seinem letzten Besuch. Ein Friedensangebot, dessen
er sich selbst nicht bewusst ist. Der Flughafen hat einen
Weihnachtsmann angestellt und kleine Kinder sitzen auf seinem Schoß,
erzählen ihm von ihren materiellen Sehnsüchten. Und selbst dieses
Bild hat nach den letzten Skandalen seine Unschuld verloren. Papa und
ich wechseln ein paar Worte über den Flug und während er meinen
Koffer in die trockene Wärme schiebt, dudeln über uns die Lieder
der Jahreszeit. Dieses Land ist einfach zu groß, sage ich. Mein
Vater nickt, aber ihm fehlt die Sentimentalität, um zu verstehen was
ich meine.
Mama trägt ihr ewig
junges Texas A&M-Shirt, Mum-Shorts und die Ohrringe, die ich
ihr aus Bolivien mitgebracht habe. Sie fällt mir um den Hals,
schreit ein hupendes Fahrzeug hinter uns an und fällt mir erneut um
den Hals. Auf dem Weg nach Hause, als die Fastfood-Ketten langsam
weniger und die Häuser größer werden, unterhalten wir uns über
die kommenden Tage, organisieren wer wann was backt und wann welches
Footballspiel im Fernsehen läuft.
„Letztes Jahr um
diese Zeit hatten wir um die 8 Grad“, sagt Mama und ich verbiete
mir jeden banalen Kommentar zur globalen Erwärmung. Als an einer
Kreuzung alle zum ersten Mal etwas durchatmen, lehne ich mich vom
Rücksitz nach vorne: „Papa, wie findest du es eigentlich, dass du
im Flieger immer als erstes einsteigen darfst?“
„Was meinst du?“
„Magst du das?“
„Dass ich als
erstes boarde?“
„Mhm.“
„Ist ganz nett.“
„Fühlst du dich
nicht irgendwie… vorgeführt. Wie im Zoo. So, dass sich alle auf
die Schulter klopfen, wie sehr sie dich und deine Arbeit
respektieren. Weil das nichts kostet, im Gegensatz dazu, dir nach der
letzten Tour die Therapie zu bezahlen.“
Mama sucht meinen
Blick im Rückspiegel. Die Korrespondenten in den Nachrichten, die
sie guckt, hätten es jetzt geschafft, mir vorzuhalten, dass ich
Soldaten mit Zootieren vergleiche und wie erschüttert und betroffen
sie dies mache. Aber dafür fehlen Mama die Mittel.
„Keine Ahnung,
Schatz,“ sagt Papa: „Was ist so schlimm daran. Ist doch nur eine
Geste.“
Ich bereue das Wort
Therapie. In diesem Land den Männern nicht ihre Männlichkeit
abzusprechen, ist ein Tanz auf dem Mienenfeld. Wobei es das gleiche
Minenfeld ist, auf dem die gleichen Männer sich herum schleichen, um
im Falle einer verletzten Dame ihre zu Hilfe zu eilen. Aber,
Verletzte gibt es immer. Irgendwer verliert hier immer seine
Unschuld, Würde oder Rock.
Ich lasse das Thema
fallen. Wir biegen in unsere Einfahrt ein und Papa trägt mein Gepäck
vom Kofferraum bis in mein Zimmer. „Brauchst du das Auto heute oder
die nächsten Tage?“, fragt er mich als er mich auf halber Treppe.
„Vielleicht.“
„Falls du es
brauchst, ich lege den Schlüssel auf den Küchentisch.“
„Ok, danke“
„Gut, dass du da
bist“, sagt Papa und geht hinunter ins Wohnzimmer. Ich schaue ihm
nach. Die Fahrt vom Flughafen, wahrscheinlich der gesamte Tag, hat
ihn eine Menge Energie gekostet. Mich auch.
Mein Zimmer ist
immer noch wie ich es verlassen habe. Ich möchte dies romantisch
finden, dass meine Eltern hier nichts geändert haben, aber selbst
dies empfinde ich als Kulturkampf, der unter der Oberfläche und
hinter dem Artic-Monkeys- und Babel-Postern lodert. Das Zimmer will
von Unschuld erzählen, berichtet aber von der Unschuld, die meine
Eltern in mir sehen wollten und wollen. Bevor ich zum Feind
übergelaufen bin, an die böse Küste, um etwas zu lernen, was kein
Geld einbringt und mich Dinge sagen lässt, die sie nicht verstehen,
aber gelernt haben, provisorisch abzulehnen. Und tatsächlich, es war
einfacher damals. Meine Worte waren kleiner, die meiner Eltern noch
größer. Der Ausdruck Breaking News war noch einer.
Vor dem Abendessen
ruft Mama mich, ihr beim Schmücken des Weihnachtsbaumes zu helfen.
Wir stehen nebeneinander, hängen Ornamente vergangener Orte und
Urlaube in gleichmäßigem Muster an die Zweige und sagen uns, dass
es so gut aussieht. Bis zum Abendessen reden wir über alte Nachbarn
auf vergangenen Stationen. Mama erzählt von dem einen Weihnachten in
San Antonio. Die Zeit dort war lang genug, um sich heimisch zu fühlen
und kurz genug, um es anschließend aus großer Distanz zu verklären,
denke ich und gehe zum Kühlschrank. Solange es noch Kühlschränke
mit eingebauter Eiswürfelmaschine gibt, denk ich, ist dieses Land
noch nicht verloren.
Zum Abendessen macht
Papa den Fernseher aus und schleppt sich an den Tisch. Es gibt
Hackbraten und in meiner Freude darüber entdecke ich eine leichte
Überraschung meiner Mama. Weil sie jedes Jahr erwartet, dass ich als
Vegetarierin zurückkomme.
„Danke fürs
Kochen“, sage ich etwas zu förmlich, nach dem Gebet.
„Gerne, mein
Schatz“, sagt Mama und reicht mir den Salat. Mein Glas hat Mama vor
dem Essen bereits mit Eiswürfen gefüllt. Ihr ist nicht bewusst, wie
viel mir das bedeuten würde, wenn unser Verhältnis ein derzeit
anderes wäre.
Wir reden ein wenig
über das Essen und was es morgen geben wird, bis sich Papa zu mir
dreht.
„Ich finde, sie
könnten uns als erstes ausstiegen lassen“
„Wie?“
„Im Flugzeug. Ich
bin nicht der dünnste, die Seitenlehnen drücken mir in die Hüfte,
meine Beine sind zu lang und ich muss sie unter den Vordersitz
drücken. Ich hab nichts davon als erstes einzusteigen. Als erstes
auszusteigen, das hätte was.“
Papas Worte sind
leise, sein Blick müde. Er hat sich diese Worte gut überlegt und
zum Glück ist der Fernseher aus.