Montag, 25. Dezember 2017

Beinfreiheit


Eine Weihnachtsgeschichte

Das Flackern hat aufgehört. Ich sehe einem 9-jährigen dabei zu, wie er in seinen metallischen Schalensitz zurück rutscht, heimlich enttäuscht, dem Treiben CNNs nicht mehr folgen zu können. Er schenkt den Worten Breaking News noch glauben, und ich bin nicht sicher, ob ich ihm dies neiden soll. Jetzt starrt er in die verstaubte Dunkelheit des verchromten Rahmens. Weil ein Bediensteter kam, auf dem Bildschirm herum drückte und ihn ausmachte. Einfach so.

Der Flughafen Denver ist eine Durchgangsstation. Hier kreuzen sich Wege, ohne sich zu begegnen. Kilometer an Teppich pflastern jeden Schritt. Die Koffer gleiten hier von einem Gate zum nächsten, mit etwas mehr Widerstand und deutlich weniger Klang als auf Stein. Dumpf und gemütlich ziehen die Massen vorbei. Ihrer Kleidung sieht man an, woher sie kommen, aber nicht wohin sie gehen. Die Vorstellung eines sonnigen Weihnachtsfests ist mir immer noch, nach all den Jahren, zuwider und ich möchte dem vorbei hetzenden Vater in beiger Khaki-Hose, Polohemd und Dodgers Mütze kollegial zu nicken, bevor er in die Maschine nach Buffalo steigt. Weise Entscheidung, der Herr.
Jetzt sitze ich zwischen Jogginghosen und Wollmützen in meinem sanft gelben Kleid, welches mir Mama vor genau zwei Jahren geschenkt hat und schaue einer Maschine in der Ferne zu, wie sie enteist wird. Dieses Outfit hat mich schon im Lyft Richtung Logan Airport einen verwirrten Blick gekostet. Ich war nie eine praktische Reisende. Nie eine, die ohne Make-Up und mit Alma-Mata-Pullover ihre Kreise und ihre Linien zieht. Nie eine, die sich herausputzt – wenn sie es will. Pro Choice, sozusagen. Ich hingegen, habe meinen Körper immer selbst als weichen Panzer gesehen, nicht als etwas, was es zu bepanzern gilt. Und natürlich muss dieses Verhalten mit Mama zutun haben, ich kann mir nur nicht erklären wie.

Als wir abheben, schaue ich den Bergen hinterher. In meinem Magen das gleiche Gefühl, wie wenn eine lieb gewonnene Sitcom sich verabschiedet. Wie falsch sind diese Freunde schon, wenn sie sich doch so echt anfühlen? Als Papa noch in lebendigen, um nicht zu sagen: echten Regionen stationiert war; in welchen, in denen es Jahreszeiten gibt; in denen sie Verwesung kennen, da habe ich Weihnachten noch genossen. Wäre ich in Kalifornien aufgewachsen, würde es mir damit wahrscheinlich anders gehen, aber gleichzeitig frage ich mich, was die Surferkids denken, wenn sie It‘s a Beautiful Life oder Kevin Allein Zuhause sehen. In der Nachbarschaft gedreht und doch so weit weg.

Ein älterer Herr neben mir kramt in seinem Rucksack. Seine Basecap erzählt, dass er in Vietnam gedieht hat. Er zieht Orwell heraus und teilt die Seiten auf seinem Schoss.
„Gutes Buch, sage ich. Zeitlos. Etwas trocken vielleicht.“
„Ich quäle mich. Meine Tochter hat es mir geschenkt. Sie ist 19 und hat schon mehr Bücher gelesen als ich in meinem ganzen Leben. Muss da jetzt durch.“
Ich ertappe mich dabei, dass ich ihn auf meinen Vater ansprechen will. Kleiner Militär-Rassismus kurz vor den Feiertagen. Ihr Soldaten, ihr kennt euch doch alle.

Meine Beine stoßen immer wieder an den Vordersitz. Economy. Was für ein Zustand. Ich erzähle mir selbst den Witz, dass ich jeden feministischen Fortschritt sofort über Board werfen würde, für jene Beinfreiheit, die sie in Mad Men genießen. Mein winterbleiches Gesicht starrt in den dunklen Bildschirm vor mir, für welchen man nun bezahlen muss, wo wir Colorado fast verlassen haben. Ich entscheide, mich nicht für meine Privilegiertheit zu schämen und es dabei zu belassen. Stattdessen reicht mir die Stewardess ein Wasser, eine Zuckerstange, die tatsächlich gratis ist und mit dem Flachland kommt die Antizipation.

Papa wird direkt hinter der Ausgangstür auf mich warten, sein Polohemd in die Jeans gesteckt, die Sonnenbrille am Kragen zusammen gelegt. Die gut situierte Feierlichkeit des weißen Mannes. Er wird mich kurz drücken, sich verbieten zu weinen, mir sofort mit großer Geste den Koffer aus den Händen reißen und mir erzählen, dass Mama mit dem F-250 draußen wartet. Und egal, wie sehr ich mich auch in diesem Jahr wieder auf all dies vorbereite, es wird mich erneut in seiner Unbeholfenheit genauso rühren wie verletzen. Noch im Terminal werde ich mit mir eine Diskussion führen, die irgendwo zwischen Denkklischees versucht, Bedeutung zu entwickeln. Ja, er versucht was er kann, mit seinen Mitteln. Aber nein, ich bin seine einzige Tochter und der Rhetorik seiner liebsten Politiker nach, sollte dies bedeuten, dass ich mehr erwarten darf. Als Mutter von zwei Kindern, Fake News, Gedanken, Gebete, Steuern. Dieses eine Kreuz! Und ich werde merken, wie Wut und Vergangenheit in mir erstarken. Und ich werde mich fragen, ob eine einzige politische Entscheidung wirklich solch ein Gewicht haben sollte. Werde die Frage bejahen, drauf verweisen, dass es mehr als eine Entscheidung war, die uns an diesen Punkt gebracht hat und werde mich hassen, diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Am Auto wird Mama mir strahlend um die Hüfte greifen, ohne dabei ihre schwere Sonnenbrille abzunehmen. Sie wird im Rückspiegel meinen Blick suchen und mich löchern mit Fragen nach der Uni. Schnell aber wird sie einen Weg finden, meine Erzählungen mit denen ihrer Freundinnen zu verbinden. Die Kinder ihrer Freundinnen heiraten immer sehr viel, werden viel schwanger und habe hohe Einstiegsgehälter in Jobs, die sehr gerne machen. Ich werde ihnen dazu gratulieren. Vor dem Autohändlern, die wir passieren, werden Schnee- und Weihnachtsmänner stehen.

Als wir aufsetzen, atme ich aus. Im gesamten Sinkflug habe ich meine Fingernägel in meinen Wasserbecher gegraben, was mir jetzt erst auffällt. Die Eiswürfel im Plastikbecher sind schon längst nicht mehr und ich lasse meinen Nachbarn vorbei. Er darf als erstes an Bord, aber nicht als erstes aussteigen. Ich ermahne mich zur Neutralität und guter Tochterschaft. 4 Tage, die es verdient haben genossen zu werden. Wir werden gut essen, Mama und ich werden backen, dass es bis nächstes Jahr reicht, Papa wird Witze erzählen (das kann er) und wenn die Nachbarn vorbei kommen, werde ich sagen, dass ich ich mich an der Ostküste sehr wohl fühle. Und wir werden über das Wetter reden und es wird mich einhüllen wie eine Decke. Solange wir noch alle über das Wetter reden, werde ich mir einreden, ist dieses Land noch nicht verloren.

Ich nehme meinem Koffer vom Band. Mein Sitznachbar muss noch warten: „Frohe Weihnachten“, sagen wir uns gegenseitig. Der Terminal ist festlich geschmückt, selbst Städte-Banner und Motto sind umrahmt. ‚San Diego - ever vigilant‘, von Mistelzweigen und Plastikschlitten umzingelt. Draußen sind es 18 Grad. Und auf CNN gibt es Breaking News. Der President hat in einem seiner Weihnachts-Tweets jemand neues beleidigt und ich freue mich, in meinem Sommerkleid endlich den Klimaanlagen zu entkommen.

Papa trägt seine Red Sox Mütze von seinem letzten Besuch. Ein Friedensangebot, dessen er sich selbst nicht bewusst ist. Der Flughafen hat einen Weihnachtsmann angestellt und kleine Kinder sitzen auf seinem Schoß, erzählen ihm von ihren materiellen Sehnsüchten. Und selbst dieses Bild hat nach den letzten Skandalen seine Unschuld verloren. Papa und ich wechseln ein paar Worte über den Flug und während er meinen Koffer in die trockene Wärme schiebt, dudeln über uns die Lieder der Jahreszeit. Dieses Land ist einfach zu groß, sage ich. Mein Vater nickt, aber ihm fehlt die Sentimentalität, um zu verstehen was ich meine.

Mama trägt ihr ewig junges Texas A&M-Shirt, Mum-Shorts und die Ohrringe, die ich ihr aus Bolivien mitgebracht habe. Sie fällt mir um den Hals, schreit ein hupendes Fahrzeug hinter uns an und fällt mir erneut um den Hals. Auf dem Weg nach Hause, als die Fastfood-Ketten langsam weniger und die Häuser größer werden, unterhalten wir uns über die kommenden Tage, organisieren wer wann was backt und wann welches Footballspiel im Fernsehen läuft.

„Letztes Jahr um diese Zeit hatten wir um die 8 Grad“, sagt Mama und ich verbiete mir jeden banalen Kommentar zur globalen Erwärmung. Als an einer Kreuzung alle zum ersten Mal etwas durchatmen, lehne ich mich vom Rücksitz nach vorne: „Papa, wie findest du es eigentlich, dass du im Flieger immer als erstes einsteigen darfst?“
„Was meinst du?“
„Magst du das?“
„Dass ich als erstes boarde?“
„Mhm.“
„Ist ganz nett.“

„Fühlst du dich nicht irgendwie… vorgeführt. Wie im Zoo. So, dass sich alle auf die Schulter klopfen, wie sehr sie dich und deine Arbeit respektieren. Weil das nichts kostet, im Gegensatz dazu, dir nach der letzten Tour die Therapie zu bezahlen.“
Mama sucht meinen Blick im Rückspiegel. Die Korrespondenten in den Nachrichten, die sie guckt, hätten es jetzt geschafft, mir vorzuhalten, dass ich Soldaten mit Zootieren vergleiche und wie erschüttert und betroffen sie dies mache. Aber dafür fehlen Mama die Mittel.
„Keine Ahnung, Schatz,“ sagt Papa: „Was ist so schlimm daran. Ist doch nur eine Geste.“

Ich bereue das Wort Therapie. In diesem Land den Männern nicht ihre Männlichkeit abzusprechen, ist ein Tanz auf dem Mienenfeld. Wobei es das gleiche Minenfeld ist, auf dem die gleichen Männer sich herum schleichen, um im Falle einer verletzten Dame ihre zu Hilfe zu eilen. Aber, Verletzte gibt es immer. Irgendwer verliert hier immer seine Unschuld, Würde oder Rock.

Ich lasse das Thema fallen. Wir biegen in unsere Einfahrt ein und Papa trägt mein Gepäck vom Kofferraum bis in mein Zimmer. „Brauchst du das Auto heute oder die nächsten Tage?“, fragt er mich als er mich auf halber Treppe.
„Vielleicht.“
„Falls du es brauchst, ich lege den Schlüssel auf den Küchentisch.“
„Ok, danke“
„Gut, dass du da bist“, sagt Papa und geht hinunter ins Wohnzimmer. Ich schaue ihm nach. Die Fahrt vom Flughafen, wahrscheinlich der gesamte Tag, hat ihn eine Menge Energie gekostet. Mich auch.

Mein Zimmer ist immer noch wie ich es verlassen habe. Ich möchte dies romantisch finden, dass meine Eltern hier nichts geändert haben, aber selbst dies empfinde ich als Kulturkampf, der unter der Oberfläche und hinter dem Artic-Monkeys- und Babel-Postern lodert. Das Zimmer will von Unschuld erzählen, berichtet aber von der Unschuld, die meine Eltern in mir sehen wollten und wollen. Bevor ich zum Feind übergelaufen bin, an die böse Küste, um etwas zu lernen, was kein Geld einbringt und mich Dinge sagen lässt, die sie nicht verstehen, aber gelernt haben, provisorisch abzulehnen. Und tatsächlich, es war einfacher damals. Meine Worte waren kleiner, die meiner Eltern noch größer. Der Ausdruck Breaking News war noch einer.

Vor dem Abendessen ruft Mama mich, ihr beim Schmücken des Weihnachtsbaumes zu helfen. Wir stehen nebeneinander, hängen Ornamente vergangener Orte und Urlaube in gleichmäßigem Muster an die Zweige und sagen uns, dass es so gut aussieht. Bis zum Abendessen reden wir über alte Nachbarn auf vergangenen Stationen. Mama erzählt von dem einen Weihnachten in San Antonio. Die Zeit dort war lang genug, um sich heimisch zu fühlen und kurz genug, um es anschließend aus großer Distanz zu verklären, denke ich und gehe zum Kühlschrank. Solange es noch Kühlschränke mit eingebauter Eiswürfelmaschine gibt, denk ich, ist dieses Land noch nicht verloren.

Zum Abendessen macht Papa den Fernseher aus und schleppt sich an den Tisch. Es gibt Hackbraten und in meiner Freude darüber entdecke ich eine leichte Überraschung meiner Mama. Weil sie jedes Jahr erwartet, dass ich als Vegetarierin zurückkomme.
„Danke fürs Kochen“, sage ich etwas zu förmlich, nach dem Gebet.
„Gerne, mein Schatz“, sagt Mama und reicht mir den Salat. Mein Glas hat Mama vor dem Essen bereits mit Eiswürfen gefüllt. Ihr ist nicht bewusst, wie viel mir das bedeuten würde, wenn unser Verhältnis ein derzeit anderes wäre.
Wir reden ein wenig über das Essen und was es morgen geben wird, bis sich Papa zu mir dreht.
„Ich finde, sie könnten uns als erstes ausstiegen lassen“
„Wie?“
„Im Flugzeug. Ich bin nicht der dünnste, die Seitenlehnen drücken mir in die Hüfte, meine Beine sind zu lang und ich muss sie unter den Vordersitz drücken. Ich hab nichts davon als erstes einzusteigen. Als erstes auszusteigen, das hätte was.“
Papas Worte sind leise, sein Blick müde. Er hat sich diese Worte gut überlegt und zum Glück ist der Fernseher aus.