Donnerstag, 24. Dezember 2015

Milch und Honig

Eine Weihnachtsgeschichte

Diesen Augenaufschlag hat sie nicht von mir, denkt Petra Kleinmeister als sie ihre Tochter beobachtet. Gerade erst hat Linda sich ihrer olivgrünen Jacke mit dem dichten Kunst-Pelz-Kragen entledigt und einen Alibiblick über die Karte geworfen. Jetzt trägt sie dem Kellner einen Latte Macciato auf und ihr Blick durchstößt seinen, wie ein Pürierstab das Gemüse. Vielleicht zittrig nach außen, aber genau wissend, wo es hin gehen muss. Linda ist zu einem Mädchen geworden – Petra Kleinmeister scheut sich, ihre Tochter bereits eine Frau zu nennen –, die in einer Welt lebt, in der es unzählige Möglichkeiten gibt, aber keine Phasen. Ziele, aber keine Überzeugungen. Linda lebt in einer Welt voller Richtigkeiten. In ihrem Abiturzeugnis wird sie bald eine klare Eins vor dem Komma haben, weil sie, wie sie selbst mal in ihrer ganzen Eloquenz gesagt hat „Fleiß nicht als etwas Niederes empfindet“. Und von da an wird sie ihren Lebenslauf, wie bisher schon, ohne Lücken und mit ansteigender Tendenz fortführen. Es ist ein Leichtes für Petra Kleinmeister der Bekanntschaft im Supermarkt mit Stolz von ihrer Tochter zu erzählen. Ein Stolz, den sie nicht erfinden muss, den sie empfindet, der aber seine Konsistenz verändert, sobald sie wieder allein vor der Tiefkühltruhe steht. Zunächst, ein klar umrissener Körper, ein Gegenstand, den man dem Smalltalkpartner in Daten oder im Bestehen vom ewigen Markus entgegen gestreckt hat. Wie der Angelausflug einzig über die Größe des Fangs beschrieben wird. Doch wieder allein, verwandelt sich Petra Kleinmeisters Stolz – und auch ihre Erleichterung! – darüber wie sich Linda entwickelt hat, in eine Dunstwolke, die ihr durch die Reihen folgt. Die Liebe zu meiner Tochter erfüllt mich, denkt Petra Kleinmeister, aber was da in mir umher schlägt wie Milch in der Kanne ist vieles, aber weder warm noch mit Honig. Manchmal erschreckt Petra Kleinmeister bei dieser Frage an sich selbst: Diese Liebe zu Linda, die unbestreitbar und so groß ist, wie die Liebe einer Mutter zu ihrer immer gewollten – wenn auch nicht geplanten – Tochter nur sein kann, macht diese Liebe ihr Leben eigentlich besser?
Als sie vor 6 Jahren das erste Mal hier waren, die Plastiktüten voll mit Last-Minute-Kram, war auch die Deko schon die gleiche. Der Kartenständer trug vergleichbare Flyer und das Licht dimmte vor sich hin. Das Fest der Liebe, stand auf einer der Karten und Petra Kleinmeister weiß noch lebhaft, wie sich damals fragte, wo diese Liebe sich dabei auf den Gastgeber oder den Gast bezog. Die Wangen rot von Kälte und Hast hatten Sie sich auf ihre Heißgetränke und Kuchenstücke gestürzt, die silbernen Tannenbaum-Karikaturen auf jedem Tisch bemerkt und sie in etwas zu großer Geste gemeinsam verspottet. Das Adrenalin einer vollendeten Besorgung. Die kurze, reine Freiheit zwischen zwei To-Do-Listen des Lebens, und das Privileg dieses mit dem eigenen, gesunden Nachwuchs zu teilen. Meine Tochter ist ein ungemein waches Mädchen, dachte Petra Kleinmeister damals und als sie heute an das Bild denkt, welches sie damals zeichnete, erschreckt sie. Auch damals war Linda schon das, was sie bei aller Härte des kalten Beobachters heute ist: eine Ja-Sagerin. Ein kluges, hübsches, herrje: blondes Mädchen, mit dem Instinkt gesegnet, in jeder Lebenslage das Richtige zu sagen oder zu tun. Kraftvoll zu nicken, wenn der Chef es so will, zu lachen, wenn es zielführend ist und zu intervenieren, wenn es galt, ein geistreiches, charakterstarkes, ja sogar feministisches Bild abzugeben – ganz gleich, wie sehr sie wirklich hinter all dem stand, was sie tat und von sich gab.
Vor 6 Jahren – dass war gleichzeitig, das erste Jahr ohne Konrad gewesen, der im Sommer ausgezogen war und das erste mit dem ewigen Markus, den Linda wenige Wochen zuvor erstmalig an geschleppt hatte. Petra Kleinmeister hatte diesen braven Jungen mit schiefen Haarschnitt und Hochwasserjeans damals nicht für voll genommen, als er da ihrem Familientisch saß und im Auflauf wühlte. Wer hätte denn ahnen können, dass dieser Junge mit guten Physiknoten, jedoch ohne größeres Interesse an Sport oder Action (seine Worte!), heute schon länger mit ihrer Tochter in einer Beziehung ist, als sie jemals mit irgendeinem Mann? Selbst für Franz, den Petra Kleinmeister in ihrer Lebensgeschichte vor sich selbst, den Einen nannte, … that got away, gilt dies. Auch Michael, Lindas Vater, hatte Petra Kleinmeister 2 Jahre nach der Entbindung vor die Tür gesetzt. Eine Formulierung, die sie mittlerweile gelten ließ, so wie sich Lindas Vater nicht nur im ehelichen einer 14 Jahre Jüngeren in ein Klischee verwandelt hatte. Mit dieser Entscheidung ist Petra Kleinmeister im Reinen, sofern dies möglich ist. Selbst wenn die paar Elternsprechtagstermine und Lindas betont lebendig vorgetragene Urlaubsanekdoten ein allenfalls gebrechliches Urteil zulassen, dass selbst zur Abgrenzung nur bedingt taugen.
Und doch: Auch nach 6 Jahren nennt der ewige Markus, der mittlerweile, ganz gradlinig, das Physikstudium aufgenommen hat, sie immer noch Frau Kleinmeister und ihr gefällt dies immerzu. Einen gewissen Machtvorsprung hat Petra Kleinmeister in jedem Umgang mit dem anderen Geschlecht gern auf ihrer Seite. Schon in der Pubertät im fromm-gestrengen Elternhaus, deren Hindernisparcours, den ihre Eltern Erziehung nannten, Petra Kleinmeister nur so an die Uni gespült hatte. Schon lange vor Linda war Petra Kleinmeister nicht mehr heimgefahren. Hatte an den Feiertagen als einzige das Studentenheim nicht verlassen. Lieber im Bett gesessen, mit Lacan und Lebkuchen, stolz dem Vater in der eigenen Abwesenheit alles zu kommunizieren, was es zu sagen gab. Befeuert von der Beobachtung, dass jedes Gefühl von Einsamkeit ausblieb. Selbst als die Glocken schlugen. Selbst als vor ihrem Fenster die Musterfamilien vorbei zogen. Selbst im Schnee. Ihrem Vater hat Petra Kleinmeister immer nur so viel zugetragen, wie dieser fähig war zu verstehen. Petra Kleinmeister hatte nie ein Problem damit, den Männern in ihrem Leben zu vertrauen. Sie empfand sie einfach nur nicht als klug genug, sie mehr einzubinden als nötig.
Linda bekommt ihren Latte Macciato und bedankte sich mit einem Nicken über die Schulter. Sie dreht den Henkel auf rechts und nimmt den Keks von der Untertasse und legte ihn wortlos auf die ihrer Mutter. Eine Vertrautheit, die Petra Kleinmeister wärmt wie ein etwas zu heiß aufgebrühter Tee. Man muss ihn etwas in Ruhe lassen, um sich an ihm nicht die Zunge zu verbrennen.
Das ging ja in diesem Jahr super reibungslos?!“
Findest du?“ klingt Lindas Antwort etwas rauer als von Petra Kleinmeister erwartet.
Was soll ich sagen? Ja. Wir kennen uns einfach mittlerweile...“
Oder wir haben aufgehört, uns was Neues auszudenken.“
Petra Kleinmeister wundert, dass Lindas Worte in ihren Ohren so gar nicht feindselig klingen. Im Gegenteil, Linda schickt ihnen ein friedliches Lächeln hinterher. Was gibt es an ihrer Tochter schon auszusetzen, was ist schon falsch an guten Noten, Klarheit und der Fähigkeit, die solide Seite an Männern zu würdigen, vielleicht sogar eine Schwäche für diese zu entwickeln? Ist dieser Mensch nicht alles, was sie diesem Menschen immer gewünscht hatte? Sicher nicht diese phantastische Mischung aus Juliette Binoche und Susan Sontag, die sie sich damals ausgemalt hatte, als sie durch den Schnee stieg und sich selbst mit dem Blick nach vorne und in fremde Wohnzimmer wärmte. Doch, hat ihre Tochter nicht genau den Weg gefunden, ihre guten Eigenschaften zu übernehmen, ohne sich dabei auch ihre Lebenslügen aufbinden zu lassen? Oder vielleicht präziser: Sich ihre eigenen zu suchen.
Was bekommt denn Markus dieses Jahr?“
Einen Rasierer. Der soll seine Macho-Experimente gleich mal wieder lassen.“ Linda dreht ihre Zunge heraus und Petra Kleinmeister sieht sich selbst, kurz vor dem Kinderwunsch. Sieht sich, die Männer als Knete zu betrachten, nicht als Eisen. Als Rohmaterial, dass nur ein bisschen Druck braucht, um sie in die richtige Form zu bringen. Dann aber enttäuscht (und wütend!), wenn doch die Feuererhitzung von Nöten ist.
Petra Kleinmeister lächelt mit. Ihre Tochter war immer eine gute Tochter. Sie hat nie Geburtstage vergessen und regelmäßig den Abwasch erledigt. In einem ihrer wenigen Streits hat sie mal gebrüllt „Ich könnte auch cracksüchtig sein“. Linda weiß genau, was ihre Trümpfe sind, aber warum sollte man ihr daraus einen Strick drehen. Sie verbringt die Weihnachten im Wechsel bei ihr und Michael. Die Jahre bei ihr sind ein Liebesdienst. Ein Dienst. Dieses Jahr eben ein fettes Jahr bei Michael, dessen Volkswagen-Charme bei ihrer gemeinsamen Tochter eine weitaus längere Halbwertszeit zu besitzen scheint, als bei Petra Kleinmeister. Aber die lässt ihr jährliches Last-Minute-Happening mit ihrer Tochter nicht ziehen, selbst wenn der Zauber von damals einer Routine von Nostalgie gewichen ist.
Hier!“, sagt Linda und schiebt einen schlicht verpackten Quader über den Tisch. Petra Kleinmeister hat sich noch nie theatralisch viel Zeit beim Geschenke auspacken gelassen.
Eine Uhr?“, muss Petra Kleinmeister es aussprechen, um es zu glauben. Eine teure, die genauso aussieht, dass man es mitbekommt, aber erst wenn man genau hinschaut. „Was soll ich sagen?“
Wie kannst du das...“
Nein!“, hebt Linda den Zeigefinger. „Nein! Aus! Ist von Oma, Opa und mir... sag einfach, ob sie dir gefällt.“
Das tut sie“. Petra Kleinmeister betrachtet ihre neue Uhr, die es irgendwie an ihr Handgelenk geschafft hat und im Angesicht der eigelben Rotorblätter mit graumelierter Umrandung wird es ihr ganz klar. Dieses Geschenk, dieses Übermaß an Sinn, Schönheit und Großzügigkeit symbolisiert alles was ihre Tochter zu diesem wunderbaren Wesen macht, das sie ist. Eine 1-Schülerin, eine nachsichtige, sensible 18-jährige mit Geschmack und Humor. Sie, ihre Mutter, hat ihr ganzes Leben versucht, jeden Sturz, jede Sorge von ihrer Tochter zu nehmen und jetzt wirft sie ihrer Tochter vor, noch keine Narben in Gesicht und Seele zu haben. Das ist nicht nur unfair, es ist selbstgerecht. Nur, was sich Petra Kleinmeister eigentlich wünscht, ob nun in Geschenkpapier oder nicht, sind billige Insider mit Anzüglichkeiten, Konzertkarten, eine gemeinsame Erinnerung, eine sensible Beobachtung, ein Kommentar, ein gutes Buch, verdammt! Irgendetwas, dass etwas über sie als Frau erzählt oder erzählen wird. Etwas, dass zwischen ihr und ihrer Tochter stehen kann, wie eine Slackline, die zwischen zwei kräftigen Bäumen gespannt ist. Immer für ein Abenteuer als auch einen Absturz zu haben. Petra Kleinmeister wird klar, sie hat die beste Tochter der Welt – und alles was sie sich wünscht, ist eine Freundin.

Zuhause macht sich Petra Kleinmeister Musik an und öffnet den Wein. Vielleicht bekommst du heute Nachwuchs, grüßt sie im hinübergehen den Teppichfleck vom letzten Mal. Auch in diesem Jahr lernt Petra Kleinmeister an Weihnachten allein zu sein. Sie lernt es jedes Jahr aufs Neue. Die Uhr sagt, dass es noch zu früh ist zum Schlafen. Petra Kleinmeister geht nie früh ins Bett, ist ein Nachtmensch, immer in Sorge, etwas zu verpassen. Sie öffnet die Balkontür und tritt heraus. Das Nichts der Weihnachtsnacht, die Leere des Idylls der Anderen. Das Ausbleiben von allem befruchtet die Erinnerung. Im Gartenstuhl, unter der Wolldecke aus dem Fuerteventura-Urlaub, führt sie in diesen zurück. Last-Minute, mieses Hotel, mehr war damals für sie beide nicht drin. Wie die vierjährige Linda nackt am Strand tobte, den Babypo tief im Sand vergraben und Petra Kleinmeister, ihr Buch seit Stunden auf dem Buch, sich am liebsten auch die Klamotten vom Leib gerissen hätte und ihre Sandburg daneben gebaut hätte. Heute wäre das mit ihrer Tochter nicht möglich, denkt Petra Kleinmeister: „Alte Keuschheitstrulla“ und ein Grinsen begleitet das öffnen der zweiten Flasche.
Ich muss meine Erwartungen ändern, denkt Petra Kleinmeister, als sie sich schließlich ausmalt, wie ihre Tochter und ihr Vater gemeinsam mit der viel zu jungen Mutter des Hauses und dem ewigen Markus an einem Tisch sitzen, essen und anregende, wenn auch erwartbare Gespräche führen. Ich brauche Umgang, sagt sich Petra Kleinmeister, ich kann Linda das nicht aufladen. Wer weiß, wie lang das schon so geht. Dann bin ich halt Mutter. Ein Job, den ich scheinbar sehr gut kann, denkt Petra Kleinmeister und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister. Dass sich ihre Träume eines selbstbestimmten Lebens nicht erfüllen würden, dass war immer ihre größte Angst gewesen. Nun aber hatten sich diese Kräfte verschoben. Petra Kleinmeisters Leben war schmerzhaft selbstbestimmt. Es war bestimmt von einer Arbeit, die sie abspulte, der Isolation fehlender Hobbys und Freundeskreisen und einer Tochter, die ihre Hilfe nicht brauchte. Und Petra Kleinmeister hatte Angst, dass niemand, sie selbst eingeschlossen, würdigen würde, wie gut sie mittlerweile damit zurecht kam. Wer wusste schon, ob ihr so unterschiedliche Umgang mit dieser Sache namens Leben, sie vielleicht mehr als nur irritierte, vielleicht sogar neidisch mache auf ihre Tochter. Ganz tief hinten im Kopf, wo selbst die eigens gewählte Alleinständigkeit manchmal Risse bekommt. Weihnachten, das Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister und es klingelt.
Du hast doch 'nen Schlüssel“, sagt sie, als sie ihre Tochter im Treppenhaus sieht und merkt gleich, dass sie etwas anderes, etwas überraschtes hätte sagen sollen. Doch Linda scheint das nicht zu stören.
So isses aber dramatischer.“ Linda huscht hinein.
Hast du getrunken?“
Es ist Weihnachten. Was denkst du wohl?“
Das meine ich nicht.“, sagte Petra Kleinmeister und deutete auf den Autoschlüssel in Lindas Hand.
Nochmal: Es ist Weihnachten. Die Straßen sind vollkommen leer.“
Alles ok?“, fragt Petra Kleinmeister und obwohl sie ihren Ton als viel zu mütterlich empfindet, geht sie Lindas Gesicht und Haltung nach Heulspuren ab. Aber da sind keine, keine Verstimmung, nur die gleichgültige, erwartungsvolle Betrunkenheit einer 18-jährigen 1-Schülerin.
Schlafen alle. Langweiler! Alle!“, sagt Linda und geht mit klarer Mission ins Bad. Petra Kleinmeister verkneift sich jeden Witz oder Frage zum ewigen Markus und stolziert stattdessen ins Wohnzimmer. Sie dreht die Musik etwas lauter. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister. Freundschaft wird unterschätzt, denkt Petra Kleinmeister.
Hast du Lust auf Whiskey? Mit Honig. Ich hab Lust auf Whiskey.“ ruft Petra Kleinmeister durch die Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zurück in die Küche.

Whiskey? Das trinken doch nur Männer“, ruft Linda aus dem Bad heraus und selbst wenn Petra Kleinmeister, den Kopf im mittleren Fach vergraben, die Ironie nicht mal hört, sagt sie nur: „Ich hab dich nicht dazu erzogen, zu fragen was Männer und was Frauen tun, Missy“. Und als die Eiswürfel ins Glas rasseln, bemerkt Petra Kleinmeister, dass es durchaus möglich ist neckisch und mütterlich gleichzeitig zu sein. Vielleicht sogar über die Feiertage hinaus. 

Montag, 2. November 2015

Im Kreis


Ein Antworttext auf „Ein Brief an das Karussell“ von Franziska Amend

Ich habe hier nie gespielt. Dabei wohnen wir nur wenige hundert Meter entfernt, da drüben in unseren Mittelklassehaus, mit dem Mittelklassegarten dahinter und dem Mittelklasse-wagen davor. Das Stehen auf der Wippe, zentral, breitbeinig, mit dem Ziel möglichst lange kein Balkenende auf den Autoreifen sinken zu lassen.  Eine Erinnerung an etwas, dass es nie gab liegt auf diesem Spielplatz. Alles hat seine Faszination verloren und ein sonderlich großer Fan des Schaukelns war ich nie. Das führt ja doch zu nichts.
Ich liege zwischen Eisenstangen. Ein rostiges Kuchenstück bugsiert mich durch die Nacht. Alles dreht sich. Das Knarzen der Drehscheibe schreibt Plattitüden in die Nacht. Ich habe keine nennenswerten Erfahrungen mit Alkohol, habe weder einen Führerschein, einen Schulabschluss noch eine Freundin und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben alt.
Mit 16 bin ich jetzt in einem Alter, in dem meine Eltern, die Freunde meiner Eltern und Menschen im Alter meiner Eltern mir sagen, dass dieses Alter vorbei geht. Dabei stelle ich mir die Frage, welches Alter nicht vorbei geht. Ich weiß nicht, was ich zu meinen Eltern sagen kann. Vor kurzem habe ich gelesen, dass Menschen, nach ihrer Definition für Liebe fragt, ausnahmslos von den Dingen erzählen, die keine Liebe sind. Wenn Sie mich also nach meinen Eltern fragen, kann ich Ihnen sagen, dass ich sie weder für sonderlich streng noch klug halte. Meine Mutter hält Frauen, die arbeiten (Geld verdienen) für bessere Menschen als Frauen, die nicht arbeiten (kein Geld verdienen), würde dies aber nie so sagen und mein Vater hat kein Interesse an Musik. Ich finde das ziemlich unfair. Denn ich denke, es gibt zwei Arten von Vätern. Von den einen lernt man, wie man Geld verdient und glücklich wird, von den anderen lernt man etwas über Musik und wie man mit ihr unglücklich wird. Da mein Vater aber kein Interesse an Musik hat, gehöre ich zu jenen, die keins dieser beiden Privilegien genießen dürfen. Schließlich sind die Haare meines Vaters länger als jene meiner Mutter, da ist nicht viel mit Geldverdienen.

An dieser Stelle möchte ich Sie, kritische Leser bitten, meinen vorherigen Einschub, ich hätte dies oder jenes 'vor kurzem gelesen', keiner allzu strengen Stilkritik zu unterwerfen. Ja, derlei Einleitungen entlarven vor allem ihren Absender als verunsicherten Redner, doch ich glaube meiner Wahrnehmung der Erwachsenen auf diese Weise weit näher zu kommen als auf anderen, subtileren Wegen. Geht es an dieser Stelle schließlich nicht darum wie ein typischer 16-Jähriger zu klingen – was immer das ist –, sondern wie ein 16-Jähriger, der glaubt sich wie 40 Jahre zu fühlen. Nennen Sie mich Wunderkind, Heuchler oder Pubertätsstreber, wie es Ihnen beliebt. Aber ganz gleich wie wenig authentisch Sie diese Zeilen auch finden mögen, so glauben Sie mir zumindest, die Sprache der für mein Alter offiziell empfohlenen Bücher ist noch viel weniger die meine. Oder haben sie einen 16 Jährigen schon einmal das Wort Pervers-o-mat sagen hören? Auch die An- oder Abrede 'Alter' habe weder ich, noch irgendjemand in meiner Gegenwart jemals gebraucht. Ein paar Langweiler, Ironievergewaltiger sagen so was vielleicht, aber sonst. Wenn die Erwachsenen wieder Das Unwort und das Jugendwort des Jahres verleihen, denke ich jedenfalls immer: Das Unwort des Jahres sollte Jugendwort sein.

Eine Sache vielleicht noch zu meinen Eltern. Ich denke, sie interessieren sich nicht wirklich für mich. Sie sind vielmehr erleichtert, dass ich so bin wie ich bin. Wer ich bin, haben sie vor ein paar Jahren entschieden, als sie begannen, mich reflektiert zu nennen und dies an jeder passenden oder unpassenden Stelle auch taten. Ich weiß nicht genau, was dieser Ausdruck über mich erzählt. Ich weiß, dass der Typ im Spiegel mir ähnlich sieht, aber nicht zwangsläufig mit mir identisch ist, ich eine Beziehung zu ihm habe wie ich sie zu Gemälden oder Geschwistern habe. Und ich kann diesem scheinbar sehr grundlegenden Prinzip westlichem Lebensverständnisses das passende griechische Drama zuweisen. Meine Lehrerin hat dann immer einen wehmütigen Glänz in den Augen, wenn sie mich dran nimmt. Es erzählt mehr über sie als über mich. Auch sie sagt, dass diese Zeit vorbei geht, wenn sie entscheidet mir helfen zu wollen.
Wissen Sie, warum ich mich alt fühle? Ich glaube, es liegt genau daran, dass das alle immer sagen: Dass geht vorbei. Dass die Dinge noch vor mir liegen. Auf der Uni, sagt meine Mutter, da wirst du deine Leute finden. Du brauchst ein Mädchen, sagt mein Vater und meine Lehrerin sagt ich habe "alle" Möglichkeiten. Als ob alles eine Rolltreppe wäre, mit der es ohne eigenes Zutun auf und vorwärts geht. Aber dies entspricht nicht im Geringsten meiner Wahrnehmung. Leicht, ohne eigene Anstrengung, lief bislang gar nichts und gibt es überhaupt etwas, dass häufiger gewartet werden muss als Rolltreppen?
Ich weiß, sonderlich neu ist das hier nicht, ein 16-Jähriger blickt in den verdunkelten Himmel, fühlt sich verloren, trinkt Alkohol, der ihm nicht schmeckt und sucht halt in mittelmäßigen Metaphern und wird sich bald mal an Drogen versuchen oder was mit seinen Haaren machen. Genauso das ganze Metaebenen-Getue, um sich gegen jede potenzielle Kritik abzusichern und der billige Trick, sich an den Leser direkt zu wenden. Wie wenn sie in Filmen sagen, dass das ja immer im Film gesagt wird, nur um sich raus zureden, dass sie das nicht besser hinbekommen haben, mit dem Drehbuch. Aber so ist es nun mal. Ich bin nicht gerade zufrieden, sonst würde ich hier nicht liegen und mich im Kreis drehen. Natürlich könnte ich noch viel krassere Bilder wählen, die ihnen von der Tristesse meines Daseins erzählen, aber ich will sie nicht unnötig aufregen. Sie würden sie ja doch ablehnen, postulieren eine andere, ausgewogenere, bessere Sicht auf das Leben zu haben, Varianten des halbvollen Glases abspulen, das Wort Pubertät so häufig in Nebensätzen unterbringen, dass dieses vollkommen ausgehöhlt wird oder sich eine Zustimmung schlicht verbieten. 

Ich glaube einfach nicht, dass die Tränen der Leute unterschiedlich schmecken. Sehen Sie, ich werde diese Gedanken jetzt mit einem Rückgriff auf ein paar Momente vom Anfang beschließen. Ich denke, dass würde meinen Eltern oder meiner Lehrerin gefallen, es würde sich anfühlen, als würden die Dinge Sinn machen. Das mögen die Leute. Ich denke jedenfalls, dass Menschen sich vor allem selbst retten wollen. Und immer wenn ich als reflektiert beschrieben werde, geht es dabei doch nicht um mich. Es gibt jedenfalls kaum einen brutaleren Satz als „Das wird schon wieder“. Reines Desinteresse. Wer weiß schon, wie es wird. Und ich bin alt, weil ich all diese Menschen sehe, die älter sind als ich und keinen nennenswerten Unterschied erkenne. Eine Unterscheidung zwischen Menschen, altersunabhänig, lasse ich gelten: Es gibt jene, die wissen dass sie unglücklich sind und jene, die das nicht wahrhaben wollen und dann sagen, dass die Pubertät nur eine Phase sei. Ich glaube nicht, dass irgendetwas vergeht, die ganze Unsicherheit, Einsamkeit, die unerfüllten Sehnsüchte, die Wissenslücken, Identitätsprobleme, Geldsorgen, Sorgen. Dass Sex mehr Gutes als Schlechtes auslöst, dass Freiheit irgendwann mal keine Angst mehr macht, dass Sicherheit seine Banalität verliert. Dass die Menschen mit der Zeit klüger, witziger, spannender werden, bessere Musik hören, bereichernde Bücher lesen. Wissen Sie mittlerweile wer sie sind? Oder haben Sie einfach bessere Vokabeln, darauf eine Antwort zu geben? Sind sie nicht mehr einsam, frustriert, hadernd, verkorkst, verwirrt, verunsichert? Weinen Sie nicht mehr unter der Dusche? Schlafen Sie ruhig? Ohne  Beißschiene? Halten Sie sich für einen moralischen Menschen? Wie geht es Ihren Eltern? Wie geht es Ihnen mit ihnen? Wie enttäuscht sind sie von Ihnen? Wie ist es mit der Karriere? Gibt es sie, lohnt sie sich? Macht Geld glücklich? Machen Kinder glücklich? Ändert die Ehe etwas (außer die Steuererklärung)? Ist ihre Angst in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden? Wie ist es mit der Liebe? Der Großen? Der einzig Wahren? Ich glaube, die Pubertät geht nicht vorbei. Sie ist die einzige Zeit, die bleibt. 

Donnerstag, 9. April 2015

Bielefeld, 08.04.2015, 21:41 Uhr

Als Manuel Junglas' an den zweiten Pfosten gehobener Ball sich entschließt vom Aluminium hinter die Linie zu springen und dem Netz in die Arme zu fallen, tut sich vor mir das Meer auf. Ein Block sucht nach Halt – vergebens. Ich habe Joke an meiner Schulter. Sie schreit mich an, ich schreie sie an. Augen auf, Mund auf. Wir springen, die Hände aneinander – wie Schulmädchen. Der Boden vibriert, die Zeit fällt auseinander. 5 Sekunden, vielleicht 10. Das Bewusstsein schleicht zurück: Wir führen. Gegen Gladbach. Im Pokalviertelfinale. Und das ist, verdammte Axt, erst der Anfang.

Ein paar Minuten später, ein Aussetzer, der Ausgleich fällt per Elfmeter und der Abnutzungskampf, der dieser Pokalfight ist, geht in die nächste Runde. Das Rund braucht ein paar Minuten, die Halbzeit tut allen gut. Nach dem Wechsel das gleiche Bild wie zuvor. Eines, das eigentlich eine Haptik ist. Es ist ein physikalische Größe. Vielleicht in Dezibel zu messen, aber nicht nur. Das Kratzen in der Kehle, das mit jeder Minute größer wird. Ein kleines, großes, volles Stadion probt das Wir. Wieder und wieder: Wir. Hörbar, sichtbar, erahnbar. Hendrik Buchheister twittert: „Unfassbar, was hier los ist, wenn's Einwurf für Arminia gibt. Wie die Leute erst abgehen müssen, wenn ein Tor fällt.“ Dann trifft Junglas und die explosivste Mischung, die ein Fußballplatz überziehen kann, in Mitten einer Stadt, die immer schon glaubte, den kürzeren Strohhalm zu ziehen, wird plastisch: Das Gefühl von Chancenlosigkeit trifft auf das Gefühl von Selbstbewusstsein. Versager, Pechvögel, Dornenkönige – heute nicht! Eine Groteske, die nur der Fußball, nur der Pokal entwickelt.
Nach dem Wechsel hat der DSC den Ball noch weniger als zu Beginn. Das Spiel wird langsamer, das Publikum stabiler. Das dunkle Zittern des Anfangs ist einer Brandung gewichen. Tumulte wurden geeint, eine Front in 360 Grad. Auf einmal ist alles einfach. Alles ist ein Sieg. Klos hält einen Ball gegen 2 – Sieg. Schütz treibt den Ball – Sieg. Brinkmann knallt. Der Ball muss nicht rein - alles ist ein Sieg. Einmal ist Kramer durch und stolpert, einmal haucht Traores Ball um den Pfosten. Du bist kein Robben, rufe ich: Aber wir sind Bielefeld. Alles ist ein Sieg, alles macht Sinn. Heute nicht, rufe ich, wie so oft. Heute nicht! Den Tod verschieben. Die Niederlage ihrer Isolation überführen, die Natur bändigen – Heute nicht, rufe ich. Heute nicht!
Dann ist Abpfiff. Dann ist Verlängerung. Dann köpft Klos den Ball 30 Zentimeter daneben und ein rothaarige Dame auf der Haupttribüne sieht so aus wie ich mich fühle und fühlt so wie ich aussehe (Minute: 11:24). 

Elfmeterschießen. 1200 Kilometer für 120 Minuten und 12 Elfmeter. Lorenz hat es auf dem Fuß. Sein Fehlschuss hängt die Dornenkrone über die Alm. Es steckt nur noch ein Strohhalm im Glas. Darmstadt. Kruse trifft. Darmstadt, oh Gott. Endstation Todessehnsucht. Burmeister wankt heran, trifft, küsst wach. Schowlow hält! Schwarz vor Augen! Zerrbild der Bewegung! Ein Etwas, zu groß für Worte! Ich küsse jedes Gesicht, dass mir in die Arme fällt. Ich werfe Joke in die Luft. Wohin? Wohin? Wohin? Hände um den Kopf, er zerplatz sonst. Bier regnet. Die Dinge quellen über. Ich weine. Ich schreie. Ich weiß nicht wo meine Hände sind. Ich weine. Ich nehme Joke in den Arm. Meine Augen auf ihre Schulter gepresst. Halt finden. Atmung wiederfinden. 30 Sekunden, die keine Zeit sind. 30 Sekunden, außerhalb von allem erdlichen. Das Bewusstsein tanzt zurück. Ich muss Kinder zeugen, damit ich ihnen hier von erzählen kann. Wo sind wir? Bielefeld, Bielefeld, hallt es durch die Nacht. Und in Alicante geben Freunde der gesamten Bar 3 Runden aus. 
Irgendwann - wahrscheinlich später - ziehen wir über den Siegfriedsplatz. Zenon twittert: "Bielefeld ist weiter. Luhmann hätte wohl gesagt: „Hohe Kontingenz von Ereignissen bedeutet, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.“ Die Reflektion malt das Wort Stolz auf die Haut. Heimat, als eine Ansammlung von Humor und Minderwertigkeit – hervorgebracht im seltenen Moment des Sieges. Die SZ an nächsten Morgen beginnt mit: "Sorry, liebe Gladbacher, aber das musste sein. Arminia Bielefeld musste sensationell als Drittligist ins DFB-Pokalhalbfinale einziehen. Kein anderer Klub hat das Glück so sehr verdient." Der WDR wird schreiben: Bielefeld hat die Tristesse hinter sich gelassen.

Zuhause wartet der Whiskey und die Sky-Mediathek. Rewatch. Joke ist still. Ich bin still. Der Kommentator hat's verstanden, die Luft schmeckt salzig, alles ist im Gleichgewicht. Ich weine noch ein wenig, dann hält Klos den Ball gegen 2, Mast legt zurück und Junglas hebt den Ball an den zweiten Pfosten. Und das ist heute, morgen, ab jetzt für immer, immer erst der Anfang.

Montag, 9. Februar 2015

Hans im Glück

Weil Samstagmorgen ist, fragt sie dich, ob du noch Tee möchtest. Was natürlich eigentlich meint, wie es dir geht, also: Wie es euch geht? Jede Beziehung stellt sich diese drei Fragen, glaubst du: Wer bist du? Wer seid ihr? Und irgendwann, ob eure neue Küche dies auch ausdrückt? Natürlich möchtest du Tee. So wie du Woody Allen zu mögen oder Handgeschriebenes liebevoll zu finden hast. Die rot-weiß-karierte Tischdecke, du findest sie spießig. Du hast den Witz nicht verstanden, sagt man dir. Ihr müsst anfangen, die Dinge leichter zu sehen, sagt ihr euch und betont ein Lächeln. Alle reden immer von Anfangen. Anfangen, sich gesund zu ernähren, anfangen die Nachbarn zu grüßen, selbst die Fiesen, anfangen richtig Zeitung zu lesen, den Politikteil, nicht bloß den Lokalsport. Anfangen, seine Zubettgehzeiten zu regulieren, den Biorhythmus zu nutzen. Anfangen, Rechnungen sofort zu bezahlen. Anfangen, loszulassen, anfangen zu joggen, anfangen Komplimente auch zu hören, anfangen, es leicht zu nehmen, anfangen, über sich selbst zu lachen. Anfangen, es leicht zu nehmen. Anfangen, es leicht zu nehmen. Anfangen, es leicht zu nehmen!
Also sitzt ihr gestern in einem dieser Läden, wo sie Bäume rein gestellt haben und ... unterhaltet euch darüber, dass die da Bäume rein gestellt haben. Da sitzt ihr und zahlt drauf, weil die Burger komische Namen haben und ihr euch zwischen Sauerteig oder Vollkornbrot entscheiden dürft. Ihr seid zu denen geworden, die wegen Bäumen und Brotauswahl irgendwo hingehen. Oder aber ihr seid müde, euch dies zu verheimlichen. Die Kellnerin mag dich nicht. Sie guckt dumm. Du verabscheust diesen Laden, diesen Look, der sich, zunächst einmal, tatsächlich so nennt, und du merkst, dass du das nicht aussprichst.
Spaßbremse, nennt man dich. Man begegnet dir hier mit dem gleichen Selbstverständnis, mit dem dir die Pärchen später in der Tram gegenüber sitzen werden, play hard und so, auf dem Weg zurück zu ihren Liebe-Ist...-Comic-Kissen und Bitte-im-Sitzen-Pinkel-Schildern. In der Küche hängt dieses ausgebleichte IKEA-Poster der Bauarbeiter in New York, beim Lunch, hoch oben, ohne Netz, gleich neben der Persil-Werbeplakette aus den 50ern. Jetzt hat er die Augen auf Notversorgung gestellt, sabbert auf ihre Schulter. An der Haltestelle zieht sie ihn hinaus, wirft dir einen Blick zu, der sich weigert, peinlich berührt zu sein. Ich mache das, weil er der richtige ist, erklärt sich dir ihr Handgriff, gleichsam grob wie routiniert. Sie machen Platz für die nächsten zwei Abschnittsgefährten, die gestern noch ein Schloss an eine Brücke gehängt haben, um die Einzigartigkeit ihrer Liebe zu feiern und ja, du willst noch Ketchup. Dein Blick nach draußen ist frei, der Blick auf euch genauso.
Während es schwer fällt, sich zu unterhalten. Die Bäume sind im Weg. Hinter dem Stamm sagt eine Freundin einer Freundin deiner Freundin zu dir, dass sie Tinder hasst. Zu oberflächlich, sagt sie und nippt an ihrem Cocktail, alkoholfrei. Nur Äußerlichkeiten, sagt sie, fährt, fast naturverbunden, an einem Holzknorpel auf der Tischplatte entlang und wartet auf deine Zustimmung. Du nickst. Es sind ihre Freunde, nicht deine. Du bist ein guter Freund.
So seid ihr dann heim, habt euch ausgezogen und du bist eingedrungen. Sie hat gezuckt, weil Orgasmen so gehen und du hast es dir anschließend mit der Hand gemacht. Immer noch besser als die Frage nach Attraktivität aufkommen zu lassen. Um diesem Gedanken auszuweichen, nehmen Frauen alles auf sich. Nicht zuletzt Sperma im Gesicht.
Das ist jetzt keine 8 Stunden her und ja, du möchtest noch Tee. Bald, wenn es einmal zu viel war, wirst du sagen, dass es an dir liegt und nicht an ihr. Du wirst sagen, dass du weißt, dass das jeder sagt, aber bei dir stimmt es. Ihr werdet weinen, oder es zumindest versuchen. Du wirst versuchen, dich an der Feststellung aufzurichten, dass du wenigstens ehrlich warst und dein Blick wird aus dem Fenster fallen. Früher, als ihr es noch gemütlich hattet und es euch nicht permanent gemütlich machen musstet, da hat sie dir noch Dinge verheimlicht. Sie hat dich noch beeindrucken wollen, mit ihrer Unbekümmertheit, ihrer selbstvergessenen Adaption sämtlicher Das-mögen-die-Jungs-Klischees. Sie hat dir pausenlos Fragen gestellt und dir ist nicht aufgefallen, dass du das nicht tust. Du wurdest ermutigt ihr von deinem Vater zu erzählen, wie er vom Zigarettenholen und so weiter. Du hast dabei nur leicht übertrieben, nicht so wie bei den meisten Mädchen vor ihr. Zum Dank hat sie dir noch auf der Toilette einen runtergeholt. Das mochtest du.

Sie sagt dir, dass sie den Song mag, aber nicht warum. Du nickst und hoffst, dass sie bald eine Affäre beginnt. Du weißt wie es ausgeht und willst auf keinen Fall das Arschloch sein. Sie beißt in ihr Käsebrötchen, das sie eben noch mit sensiblem Zeigefinger, eine langjährig geübte Geste der Entspannung, mit Salz bestäubt hat. Ihr Schlafanzug hängt an ihr herab, aber ihre Brüste sind groß genug, um sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Sie fragt, ob du satt bist. Du willst duschen. Du nimmst sie von hinten und ihr seit beide dankbar dafür, dass die Kabine euch keine andere Möglichkeit lässt.
Sie weint, als du abgetrocknet aus dem Bad kommst. Du setzt dich auf ihre Zehen und legst dein Kinn auf ihre angewinkelten Knie. So geht bei dir Interesse. Sie sagt die Worte Routine und gewöhnlich. Du streichelst ihre Wange, behälst deine Überlegenheit für dich und sagst Lauf der Dinge. Dann erzählst du ihr nochmal, wie du sie kennen gelernt hast. Wie sie glaubte, ihr Referat vermasselt zu haben, so wie es jene Mädchen glauben, die es dir immer schon leicht gemacht haben. Und du sagst, dass (ihr!) Weinen schön sei und du hoffst, dass sie nicht bemerkt, dass das hier nichts zur Sache tut.

Wollen wir spazieren gehen, fragst du. Frische Luft, sagst du, mal raus hier. Ihr umarmt euch, das könnt ihr ganz gut. Sie will sich vorher noch umziehen. Das Radio läuft immer noch. Der Tee zieht weiter. Langeweile ist kein Grund, ermahnst du dich und fragst nach einem neuen Anfang. Dass du einfach nur nicht alleine sein willst lässt du nicht gelten und hast Angst vor der Abendplanung. Es ist immer noch Wochenende. 

Mittwoch, 21. Januar 2015

Eine sicherlich unvollständige Chronologie als bedeutsam erachteter Augenblicke, bei der sich einige Banausen fragen werden, welche davon wohl autobiografisch sind und der abschließende, stümperhafte Versuch einer Pointe, die versucht, die Kunstwertigkeit des Ganzen zu erwirken

Vor mir hat meine Mutter 2 Fehlgeburten.
Wegen des Zwischenfalls in Tschernobyl ist sie während der Schwangerschaft mit mir nur selten draußen.
Meine Mutter führt ein Schwangerschaftstagebuch. Mein Vater hat einen Gasteintrag. Er beginnt mit den Worten „Ich muss ja schon sagen, ich bin ziemlich neidisch, wie viel Aufmerksamkeit zu bekommst.“ Ich komme 2 Wochen zu früh als Sohn zweier Lehrer zur Welt, die sich in der politischen Arbeit kennengelernt haben und verbringe die ersten Tage meines Lebens in einem Brutkasten.
Man sagt mir, ich sei ein entspanntes Kind mit viel Freude an Essen und Bewegung.
Meine Eltern bringen mir bei, sie beim Vornamen zu nennen. Sie wollen mir damit auf Augenhöhe begegnen. 
Als ich um die 4 Jahre alt bin, sitze ich in meinem Zimmer und höre wie meine Eltern über etwas streiten. Sie streiten viel und auch die Lautstärke ihrer Auseinandersetzungen ist dabei meist sehr hoch. Diesmal jedoch, nehme ich den großen Blumentopf von meiner Fensterbank, stürme damit in den Flur und stelle ihn zwischen meinen Eltern auf einer Holzbank ab, die mein Vater selbst angefertigt hat. Das Geschrei meiner Eltern verstummt und ich erhalte von meiner Mutter ein verlegenes Lächeln, das aber nur von kurzer Dauer ist. Meine Eltern setzen ihren Streit fort. Ich gehe zurück in mein Zimmer.
Kurze Zeit später kommt mein Bruder Patrick zu uns. Er ist ein halbes Jahr alt, als meine Eltern ihn adoptieren. Seine Mutter ist Alkoholikerin und er hatte die ersten Monate seines Lebens vor allem damit verbracht, im Krankenhausbett Mozart zu hören.
Ich habe meine erste Kommunion und lege meine erste und bislang einzige Beichte ab, in der ich, wie auch in meinen Gebeten, viel über meinen Bruder rede und gelobe, ihn gut zu behandeln.
In der Grundschule gehöre ich zu den klügsten, ehrgeizigsten Kindern und immer wenn ich verliere, ob im Diktat oder beim Völkerball, fange ich an zu weinen.
Es ist die gleiche Zeit, in der meine Eltern auf unterschiedlichen Etagen leben. Morgens muss ich mich entscheiden, ob ich mit meinem Vater im Erdgeschoss oder meiner Mutter im ersten Stock frühstücke. Ich entscheide mich fast ausnahmslos für meine Mutter.
Lange Zeit sitzt meine Mutter in ihrem abgedunkelten Arbeitszimmer, hört Musik ihrer Jugend und weint. Mein Vater schickt mich oft noch oben, um sie zum Essen zu rufen. Sie erscheint nur sehr selten.
Im Sommer vor der 4. Klasse machen wir Urlaub in Spanien. Im Fernsehen laufen die olympischen Spiele in Atlanta. Nach einem Ruderlauf gehe ich hinunter zum Pool, wo mein Vater ein Nickerchen macht. Ich finde meinen Bruder kopfüber im Wasser treiben. Stumm renne ich hinunter, setze mich an den Beckenrand und versuche Patrick mit meinen Füßen aus dem Wasser zu fischen. Erst als dies misslingt rufe ich nach meinen Eltern. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, zwischen meinem Versuch einer Rettung und dem Sprung meines Vaters ins Becken. Nach einem kurzen Versuch der Wiederbelebung rasen wir hinunter ins Dorf. Ich bemerke, dass meine Eltern nicht angeschnallt sind, sage aber nichts. In einer kleinen Arztpraxis wird mein Bruder wenig später für tot erklärt. Ich liege währenddessen bei Freunden auf einer Couch und umklammere ein fremdes Kuscheltier.
Ich bin kein Messdiener mehr und betrete fortan Kirchen nur noch aus Gefälligkeit für andere. Wann immer seitdem Menschen von der Liebe Gottes reden, kann ich sie nicht mehr ernst nehmen.
An Weihnachten des gleichen Jahres ist meine Mutter erneut schwanger, hat aber eine weitere Fehlgeburt, wegen derer sie die Feiertage im Krankenhaus verbringt. Mein Vater bleibt mit mir allein zuhause.
Ich darf nach einer Vorauswahl selbst entscheiden auf welche Schule ich gehe und entscheide mich für eine Gesamtschule, auf die auch meine Grundschulliebe gehen wird. Vor meinen Eltern begründe ich die Wahl mit der hervorragenden Ausstattung des Werkraums.
Als ich 11 Jahre und in der 5. Klasse bin, zieht meine Mutter mit mir aus.
Bereits zuvor hatte mein Vater mit einer Frau aus der Nachbarschaft zu Abend gegessen, die mir kurze Zeit später als seine neue Freundin vorgestellt wird. Ich verbringe in der Folgezeit jedes 2. Wochenende entweder in meinem Elternhaus mit beiden oder in ihrer Wohnung. Sie hat eine Tochter in meinem Alter. Sie knallt viele Türen und wir haben uns wenig zu sagen.
Meine Mutter deutet einige Fehltritte meines Vaters an, sagt aber sie hätte ihm versprochen, dass er mir diese Dinge erzählt. Ich vermute, er hat sie geschlagen.
Mein Verhältnis zu meiner Stiefmutter ist von Anfang an schwierig. Ich erlebe sie als kontrollsüchtig, unreflektiert und ohne jeden Humor, noch aber denke ich, dass sich unser Verhältnis daraus erklärt, dass ich ödipal meine Mutter verteidige. Ich bin ungern bei der neuen Familie meines Vaters, aber ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht mehr kommen würde.
Meine Schwester wird geboren, als ich 12 bin. Wir haben den gleichen Vater und das gleiche Kinn. Sie bekommt mein Zimmer. Ich soll anfangs auf der Couch schlafen, aber meine Mutter erstreitet mir, wie ich Jahre später erfahre, ein eigens Zimmer im Keller.
In der Schule habe ich großes Interesse, den Lehrern zu gefallen. Ich weiß viel über den Kosovokrieg und sonne mich in ihrem Erstaunen darüber. Auf Partys bin ich ein Nachzügler, ich werde immer nur dann eingeladen, wenn jemand anderes absagt.
Meine Schwester nennt ihre Eltern Mama und Papa. 
Meine Mutter verbietet mir, dass ich meine Sportklamotten übers Wochenende mit zu meinem Vater mitnehme. Mein Vater hingegen will nicht alles doppelt besitzen. Als eine Art Kompromiss fahre ich jeden 2. Freitag mit Fußballschuhen und Sporthosen aber ohne Schienbeinschoner und T-Shirts in die Schule und von dort zu meinem Vater. Einmal bin ich Samstags zum Schwimmen verabredet, habe aber meine Badehose vergessen. Bei einer hektischen Übergabe auf dem Seitenstreifen, in der wenige, fiese Worte fallen, bleibe ich im Wagen.
Im Fußballverein machen sich meine Mitspieler über meine Klamotten lustig, und darüber dass ich immer über Taktik reden will. Ein paar Mal merken sie nicht, dass ich hinter ihnen stehe und ich nehme möglichst ungesehen Abstand von der Gruppe, um zu weinen.
In der Mittelstufe habe ich 3 Beziehungen. Sie bestehen allesamt aus Händchenhalten und dauern, 2 Wochen, 2,5 Wochen sowie 3 Stunden. Ich bin neidisch auf die anderen Jungs, die 6 Monate eine Freundin haben und fühle mich einsam.
Mein Vater und meine Stiefmutter stehen mit mir vor der Schule meiner Stiefschwester, um sie abzuholen. Meiner Stiefmutter fällt auf, dass die Jugendlichen heute alle schwarz tragen. Ich bin nicht Teil der Unterhaltung. An Weihnachten bekomme ich ein schwarzes T-Shirt.
Beim 4-0 gegen den SV Brackwede erziele ich 2 Treffer selbst und bereite die weiteren 2 vor. Mein erster Treffer ist ein 22-Meter-Dropkick in den Winkel von der Strafraumecke. Selbst mein Jubel ist lässig.
Das Mobbing in der Schule und im Fußballverein wird mehr und intensiver. Ich werde dafür ausgelacht, dass ich zu lange Fingernägel und zu kurze Hosen habe. Auch meine Art zu Reden ist Ziel der Angriffe. Als ich an der Bushaltestelle ein weiteres Mal Schwuchtel genannt werde, beginne ich eine Prügelei, von der ich das Gefühl habe, sie zu gewinnen. Ein Mitarbeiter des Schnell-Imbisses trennt uns. Ich renne nach Hause und erzähle es weinend meiner Mutter, die mich sofort ins Auto lädt und zu der Familie des anderen Kindes fährt. Am Esstisch sind alle sehr einsichtig und nicken viel.
Mehrere von meiner Mutter erbetenen Schüler-Lehrer-Gespräche laufen ähnlich ab. Meine Mitschüler drehen den Spieß um und prangern meine Arroganz ihnen gegenüber an. Meine Lehrer verstehen das. Meine Mutter sagt, nicht zum ersten Mal, dass ich nur mich selbst ändern kann, nicht die anderen.
In den Osterferien sind mein Vater und ich in München. Wir bekommen Schwarzmarktkarten für Bayern gegen Real Madrid. Ich sehe Zidane.
Während der Fußballweltmeisterschaft in Japan und Korea habe ich eine Telefonat mit einer Mitschülerin. Sie sagt mir, dass die Klasse nicht mag, wie ich rede und dass sie genauso wenig mag, wenn ich mich zum Lesen oder Musik hören wegsetze. Ihr finaler Vorschlag: Setz' dich zu uns und sag nichts. Als ich meiner Mutter davon berichte, erlaubt sie mir zum einzigen Mal in meinem Leben zuhause zu bleiben. Kroatien schlägt Italien mit Hilfe eines gekauften Schiedsrichters, es gibt Nudeln und Cola und die Wohnung ist warm.
Nach einem 4-1 im entscheidenden Spiel steigen wir in die Bezirksliga auf. Ich spiele durch und werde später über dieses Spiel eine Kurzgeschichte schreiben.
Am Ende der 9. Klasse willigt mein Mutter schließlich ein und ich wechsle auf ein konservatives Gymnasium. In meiner zweiten Schulwoche geht es auf Klassenfahrt. Ich bin nicht mehr der Klügste und ein paar Mädchen haben Interesse. Nach unserer Rückkehr geht es vom Bahnhof sofort weiter. Mein Vater und meine Stiefmutter haben am Morgen geheiratet und die Feier ist im vollen Gange. Ich betrinke mich mit Ramazzotti und kotze zuhause.
Auf dem Heimweg vom Fußballtraining schreibe ich mein erstes Gedicht. Ich tippe und speichere es in mein Handy. Es reimt sich und handelt vom Tod meines Bruders.
Ich habe meine erste richtige Freundin, meinen ersten Kuss, meinen ersten Sex, meinen ersten Streit. Ich sage ihr, dass ich alles machen will, um nicht so zu streiten wie meine Eltern und fühle mich erwachsen.
Ich schreibe meine erste Kurzgeschichte. Sie handelt davon, jemanden auf dem Friedhof zu besuchen, als wäre er ein alter Bekannter.
Die 10. Klasse endet und von meinen 9 neuen Freunden wechseln 7 auf liberale Gymnasien und 2 gehen ins Ausland. Ich habe es nach meinem spontanen Schulwechsel nicht geschafft mir einen solchen zu organisieren.
Meine Freundin und ich trennen uns, kommen wieder zusammen, trennen uns und kommen wieder zusammen. Sie manipuliert mich und nutzt häufig den Vorwurf der Arroganz gegen mich. Kurz nachdem endgültig Schluss ist, knutscht sie in einer Disko vor meinen Augen mit jemanden, den sie nicht kennt. Ich gehe, setze mich auf eine Parkbank und weine.
Auf einer familiären Weihnachtsfeier zerstreiten sich mein Vater und seine 2 Brüder. In der lauten Auseinandersetzung, in die auch die Ehefrauen, meine Mutter, mein Großvater und ich mehr oder weniger verwickelt sind, holt meine Stiefmutter meine bereits schlafende Schwester Rieke an den Tisch und benutzt sie als Schutzschild. Ich identifiziere mich mit ihr. Als mein Vater mit Frau und Kind abreist, ist mein Laptop noch in seinem Wagen.
Ich habe eine neue Freundin, die sehr hübsch ist, die ich sehr mag und die mir intellektuell überlegen ist. Sie nennt mich „Kommunenkind“, ich sie „FDP-Wählerin“. Sie ist der erste Mensch,der mir ein Mixtape brennt. Ich rede mir ein, sie nur um mich zu haben, um nicht allein zu sein. Einmal sagt sie mir: „Du wirst dich nie umbringen. Du bist viel zu sozial dafür“. Sie meint das tröstend. Heute schätze ich sie deutlich mehr als damals, aber es ist zu spät. Sie ist etwas langweiliger und etwas glücklicher aus früher, was ich ihr neide, wie so vieles.
Ein Diskoabend mit 10 Leute, die Hälfte davon noch Minderjährig. Der Türsteher will nur meinen Ausweis sehen, die Gruppe merkt das, geht aber auch ohne mich hinein. Ich gehe ins Kino nebenan und schaue alleine Kill Bill 2 - der Film ist ab 18.  
Im Abi muss ich in Deutsch in die Nachprüfung. Ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass mein Deutschlehrer mich verschaukelt hat.
Ich übernehme während meines Zivis, der völlig in die Hose geht, eine C-Jugend. Ich stehe jeden Tag auf dem Fußballplatz. In der Rückrunde schneiden wir gegen jede Mannschaft besser ab als in der Vorrunde. Mit allem was ich seitdem tue, versuche ich dieses Jahr zu wiederholen.
Mein Großvater zieht nach langem hin und her zwischen meinem Vater und seinen Brüdern um das Thema Geld, in mein Elternhaus. Wenige Monate nach seinem Einzug stirbt er. Zuvor liegt er kurz im Koma. Ich mache mich von meinem Studienort auf in die Heimat. „Opa ist gerade gestorben“, steht in der SMS meines Vaters. Zuhause heißt es später, er habe sich von allen verabschiedet.
Das Studium hat weit weniger Sex zu bieten als erhofft und ich verbringe die meisten Wochen mit schlechtem Essen vor dem Fernseher. An guten Tagen gehe ich vor einer spätnächtlichen Sportübertragung ins Fitnessstudio.
Ich verkrache mich mit einem Mitbewohner. 2 gemeinsame Freunde, darunter meine engste Vertraute im Bachelor, entscheiden sich für ihn und gegen mich. Auf einer WG-Party in meiner eigenen Wohnung schließe ich mich in meinem Zimmer ein und weine.
Im 5. Semester spiele ich Theater und habe so viel Sex wie nie. Jeden Donnerstag treffe ich eine Sexfreundin und wir gucken Heidi Klum. Sie mag es nicht, wenn und wie ich die Show analysiere, schläft anschließend aber trotzdem mit mir. Sie ist nicht mein Typ und wir haben uns wenig zu sagen. Als ich sie einmal mit einem Billigfliegerangebot in Spanien besuche, haben wir keinen Sex, weil ihr die Wände der WG zu dünn sind.
Ich schließe meinen Bachelor genauso unmotiviert-mittelmäßig wie mein Abitur ab. Zur Zeugnisvergabe bin ich schon längst nicht in der Stadt.
Das Aufnahmeverfahren zum Master dauert 3 Tage. Als ich mit Champagner mitgeteilt bekomme, aufgenommen zu sein, habe ich zum ersten und bislang einzigen Mal das Gefühl, mehr zu sein als Mittelmaß.
In der großen Stadt und im Master fühle ich mich privilegiert. Das Studium führt mich mit spannenden Menschen zusammen, bringt mich auf Festivals und ich bin so kreativ wie noch nie. Mein Blog wird immer mehr gelesen.
Ich fahre kaum noch heim.
Ich schreibe den 4-seitigen Aufmacher unserer Studentenzeitung und bin sehr stolz auf ihn.
Ich habe meinen ersten klassischen One-Night-Stand. In der Billardkneipe steht sie eigentlich auf meinen guten Freund Patrick, der aber frisch verliebt ist. Auf dem Weg zur U-Bahn sage ich ihr: „Du könntest aber mit zu mir kommen“. Am nächsten Morgen geht sie ohne Frühstück oder dass wir uns unsere Namen gesagt haben.
Mein SZ-Praktikum geht völlig in die Hose, weil ich mich in den mit äußerst viel Ellenbogen geführten Redaktionskonferenzen nicht traue zu reden, in meinem Einzelbüro isoliert bin und kein Redakteur Zeit oder Interesse an mir hat. Weil während des Praktikums Harald Schmidt zu Sky geht, sowie Markus Lanz als Gottschalk-Nachfolger gehandelt wird, fallen 4 (!) meiner Texte eine Stunde vor Redaktionsschluss durchs Sieb. Nach den 3 Monaten habe ich keine einzige Veröffentlichung. Der Gedanke, schlicht nicht für die Arbeitswelt gemacht zu sein, keimt.
Ich schleppe mich durch meine mündliche Abschlussprüfung. Das Lernen fiel dem Münchner Filmfest zum Opfer. Bei der Zeugnisvergabe gibt es Sekt und Erdbeeren.
Nach dem Studium finde ich nach oberflächlicher Suche keinen Job. Ein Praktikum in der Werbeagentur geht völlig in die Hose. Ich bin fremd und allein. Mein Chef ist ein Arschloch und meine Kollegen Huren. Auf einer Postkarte steht „Wer lacht, hat noch Reserven.“ Meine Psychotherapeutin – meinen Kollegen sage ich, ich besuche in der Mittagspause die Physiotherapie – verschreibt mir zunächst ein pflanzliches und später ein chemisches Antidepressivum. Ich kündige, gehe mit den ersten 75 Seiten meines Romans und komme für Wochen nicht aus dem Bett. In mein Notizbuch schreibe ich „Selbstmord hat wenig mit Hilflosigkeit zu tun. Es ist die letzte Möglichkeit, die Kontrolle zu behalten.“
Ich habe meine erste Freundin seit 6 Jahren. Unsere Kennenlerngeschichte ist grandios, reicht aber nur für ein Jahr. Sie handelt davon, dass ich bis in mein Hotelzimmer bekomme, sie dort küssen will, sie mich aber nicht. Dann bringe ich sie Heim und das findet sie schließlich gut. Ein halbes Jahr später laufen wir bis 6 Uhr morgens durch Parks und sitzen rauchend auf Mülltonnen. Sie ist sehr gut zu mir und das halte ich letztlich nicht aus.
Ich übernehme ein paar freiberufliche, mies bezahlte Arbeiten verschiedener Art. Mein Vater stellt die Zahlungen an mich ein, meine Mutter nicht. Wenn ich gefragt werde, was ich berufliche mache, mache ich mit „hast du ein Flipchart dabei“ den immer gleichen Witz. Manchmal variiere ich ihn zu „hast du 30 Minuten“.
Mit Standardschreiben lehnen Literaturagenturen mein Manuskript ab und mich verlässt schnell der Mut und der Optimismus, dass ich meinen Roman einmal beenden werde. Das ist mir unangenehmer als die Ablehnungen selbst. Wodurch sich alle anderen Arbeiten mieser anfühlen, denn ich weiß nicht mehr wofür ich sie mache.
Meine Schwester wird immer trauriger und hört auf zu essen. Ich schreibe ihr einen Brief und beschließe Weihnachten nicht mehr zuhause zu feiern.
Und ich werde das Gefühl nicht los, will ich endlich einmal etwas von Bedeutung machen oder schreiben, muss ich erst einmal das alles hier zu den Akten legen.