Eine
Weihnachtsgeschichte
Diesen
Augenaufschlag hat sie nicht von mir, denkt Petra Kleinmeister als
sie ihre Tochter beobachtet. Gerade erst hat Linda sich ihrer
olivgrünen Jacke mit dem dichten Kunst-Pelz-Kragen entledigt und
einen Alibiblick über die Karte geworfen. Jetzt trägt sie dem
Kellner einen Latte Macciato auf und ihr Blick durchstößt seinen,
wie ein Pürierstab das Gemüse. Vielleicht zittrig nach außen, aber
genau wissend, wo es hin gehen muss. Linda ist zu einem Mädchen
geworden – Petra Kleinmeister scheut sich, ihre Tochter bereits
eine Frau zu nennen –, die in einer Welt lebt, in der es unzählige
Möglichkeiten gibt, aber keine Phasen. Ziele, aber keine
Überzeugungen. Linda lebt in einer Welt voller Richtigkeiten. In
ihrem Abiturzeugnis wird sie bald eine klare Eins vor dem Komma
haben, weil sie, wie sie selbst mal in ihrer ganzen Eloquenz gesagt
hat „Fleiß nicht als etwas Niederes empfindet“. Und von da an
wird sie ihren Lebenslauf, wie bisher schon, ohne Lücken und mit
ansteigender Tendenz fortführen. Es ist ein Leichtes für Petra
Kleinmeister der Bekanntschaft im Supermarkt mit Stolz von ihrer
Tochter zu erzählen. Ein Stolz, den sie nicht erfinden muss, den sie
empfindet, der aber seine Konsistenz verändert, sobald sie wieder
allein vor der Tiefkühltruhe steht. Zunächst, ein klar umrissener
Körper, ein Gegenstand, den man dem Smalltalkpartner in Daten oder
im Bestehen vom ewigen Markus entgegen gestreckt hat. Wie der
Angelausflug einzig über die Größe des Fangs beschrieben wird.
Doch wieder allein, verwandelt sich Petra Kleinmeisters Stolz – und
auch ihre Erleichterung! – darüber wie sich Linda entwickelt hat,
in eine Dunstwolke, die ihr durch die Reihen folgt. Die Liebe zu
meiner Tochter erfüllt mich, denkt Petra Kleinmeister, aber was da
in mir umher schlägt wie Milch in der Kanne ist vieles, aber weder
warm noch mit Honig. Manchmal erschreckt Petra Kleinmeister bei
dieser Frage an sich selbst: Diese Liebe zu Linda, die unbestreitbar
und so groß ist, wie die Liebe einer Mutter zu ihrer immer gewollten
– wenn auch nicht geplanten – Tochter nur sein kann, macht diese
Liebe ihr Leben eigentlich besser?
Als
sie vor 6 Jahren das erste Mal hier waren, die Plastiktüten voll mit
Last-Minute-Kram, war auch die Deko schon die gleiche. Der
Kartenständer trug vergleichbare Flyer und das Licht dimmte vor sich
hin. Das Fest der Liebe, stand auf einer der Karten und Petra
Kleinmeister weiß noch lebhaft, wie sich damals fragte, wo diese
Liebe sich dabei auf den Gastgeber oder den Gast bezog. Die Wangen
rot von Kälte und Hast hatten Sie sich auf ihre Heißgetränke und
Kuchenstücke gestürzt, die silbernen Tannenbaum-Karikaturen auf
jedem Tisch bemerkt und sie in etwas zu großer Geste gemeinsam
verspottet. Das Adrenalin einer vollendeten Besorgung. Die kurze,
reine Freiheit zwischen zwei To-Do-Listen des Lebens, und das
Privileg dieses mit dem eigenen, gesunden Nachwuchs zu teilen. Meine
Tochter ist ein ungemein waches Mädchen, dachte Petra Kleinmeister
damals und als sie heute an das Bild denkt, welches sie damals
zeichnete, erschreckt sie. Auch damals war Linda schon das, was sie
bei aller Härte des kalten Beobachters heute ist: eine Ja-Sagerin.
Ein kluges, hübsches, herrje: blondes Mädchen, mit dem Instinkt
gesegnet, in jeder Lebenslage das Richtige zu sagen oder zu tun.
Kraftvoll zu nicken, wenn der Chef es so will, zu lachen, wenn es
zielführend ist und zu intervenieren, wenn es galt, ein
geistreiches, charakterstarkes, ja sogar feministisches Bild
abzugeben – ganz gleich, wie sehr sie wirklich hinter all dem
stand, was sie tat und von sich gab.
Vor
6 Jahren – dass war gleichzeitig, das erste Jahr ohne Konrad
gewesen, der im Sommer ausgezogen war und das erste mit dem ewigen
Markus, den Linda wenige Wochen zuvor erstmalig an geschleppt hatte.
Petra Kleinmeister hatte diesen braven Jungen mit schiefen
Haarschnitt und Hochwasserjeans damals nicht für voll genommen, als
er da ihrem Familientisch saß und im Auflauf wühlte. Wer hätte
denn ahnen können, dass dieser Junge mit guten Physiknoten, jedoch
ohne größeres Interesse an Sport oder Action (seine Worte!), heute
schon länger mit ihrer Tochter in einer Beziehung ist, als sie
jemals mit irgendeinem Mann? Selbst für Franz, den Petra
Kleinmeister in ihrer Lebensgeschichte vor sich selbst, den Einen
nannte, … that got away,
gilt dies. Auch Michael,
Lindas Vater, hatte Petra Kleinmeister 2 Jahre nach der Entbindung
vor die Tür gesetzt. Eine Formulierung, die sie mittlerweile gelten
ließ, so wie sich Lindas Vater nicht nur im ehelichen einer 14 Jahre
Jüngeren in ein Klischee verwandelt hatte. Mit dieser Entscheidung
ist Petra Kleinmeister im Reinen, sofern dies möglich ist. Selbst
wenn die paar Elternsprechtagstermine und Lindas betont lebendig
vorgetragene Urlaubsanekdoten ein allenfalls gebrechliches Urteil
zulassen, dass selbst zur Abgrenzung nur bedingt taugen.
Und
doch: Auch nach 6 Jahren nennt der ewige Markus, der mittlerweile,
ganz gradlinig, das Physikstudium aufgenommen hat, sie immer noch
Frau Kleinmeister und ihr gefällt dies immerzu. Einen gewissen
Machtvorsprung hat Petra Kleinmeister in jedem Umgang mit dem anderen
Geschlecht gern auf ihrer Seite. Schon in der Pubertät im
fromm-gestrengen Elternhaus, deren Hindernisparcours, den ihre Eltern
Erziehung nannten, Petra Kleinmeister nur so an die Uni gespült
hatte. Schon lange vor Linda war Petra Kleinmeister nicht mehr
heimgefahren. Hatte an den Feiertagen als einzige das Studentenheim
nicht verlassen. Lieber im Bett gesessen, mit Lacan und Lebkuchen,
stolz dem Vater in der eigenen Abwesenheit alles zu kommunizieren,
was es zu sagen gab. Befeuert von der Beobachtung, dass jedes Gefühl
von Einsamkeit ausblieb. Selbst als die Glocken schlugen. Selbst als
vor ihrem Fenster die Musterfamilien vorbei zogen. Selbst im Schnee.
Ihrem Vater hat Petra Kleinmeister immer nur so viel zugetragen, wie
dieser fähig war zu verstehen. Petra Kleinmeister hatte nie ein
Problem damit, den Männern in ihrem Leben zu vertrauen. Sie empfand
sie einfach nur nicht als klug genug, sie mehr einzubinden als nötig.
Linda
bekommt ihren Latte Macciato und bedankte sich mit einem Nicken über
die Schulter. Sie dreht den Henkel auf rechts und nimmt den Keks von
der Untertasse und legte ihn wortlos auf die ihrer Mutter. Eine
Vertrautheit, die Petra Kleinmeister wärmt wie ein etwas zu heiß
aufgebrühter Tee. Man muss ihn etwas in Ruhe lassen, um sich an ihm
nicht die Zunge zu verbrennen.
„Das
ging ja in diesem Jahr super reibungslos?!“
„Findest
du?“ klingt Lindas Antwort etwas rauer als von Petra Kleinmeister
erwartet.
„Was
soll ich sagen? Ja. Wir kennen uns einfach mittlerweile...“
„Oder
wir haben aufgehört, uns was Neues auszudenken.“
Petra
Kleinmeister wundert, dass Lindas Worte in ihren Ohren so gar nicht
feindselig klingen. Im Gegenteil, Linda schickt ihnen ein friedliches
Lächeln hinterher. Was gibt es an ihrer Tochter schon auszusetzen,
was ist schon falsch an guten Noten, Klarheit und der Fähigkeit, die
solide Seite an Männern zu würdigen, vielleicht sogar eine Schwäche
für diese zu entwickeln? Ist dieser Mensch nicht alles, was sie
diesem Menschen immer gewünscht hatte? Sicher nicht diese
phantastische Mischung aus Juliette Binoche und Susan Sontag, die sie
sich damals ausgemalt hatte, als sie durch den Schnee stieg und sich
selbst mit dem Blick nach vorne und in fremde Wohnzimmer wärmte.
Doch, hat ihre Tochter nicht genau den Weg gefunden, ihre guten
Eigenschaften zu übernehmen, ohne sich dabei auch ihre Lebenslügen
aufbinden zu lassen? Oder vielleicht präziser: Sich ihre eigenen zu
suchen.
„Was
bekommt denn Markus dieses Jahr?“
„Einen
Rasierer. Der soll seine Macho-Experimente gleich mal wieder lassen.“
Linda dreht ihre Zunge heraus und Petra Kleinmeister sieht sich
selbst, kurz vor dem Kinderwunsch. Sieht sich, die Männer als Knete
zu betrachten, nicht als Eisen. Als Rohmaterial, dass nur ein
bisschen Druck braucht, um sie in die richtige Form zu bringen. Dann
aber enttäuscht (und wütend!), wenn doch die Feuererhitzung von
Nöten ist.
Petra
Kleinmeister lächelt mit. Ihre Tochter war immer eine gute Tochter.
Sie hat nie Geburtstage vergessen und regelmäßig den Abwasch
erledigt. In einem ihrer wenigen Streits hat sie mal gebrüllt „Ich
könnte auch cracksüchtig sein“. Linda weiß genau, was ihre
Trümpfe sind, aber warum sollte man ihr daraus einen Strick drehen.
Sie verbringt die Weihnachten im Wechsel bei ihr und Michael. Die
Jahre bei ihr sind ein Liebesdienst. Ein Dienst. Dieses Jahr eben ein
fettes Jahr bei Michael, dessen Volkswagen-Charme bei ihrer
gemeinsamen Tochter eine weitaus längere Halbwertszeit zu besitzen
scheint, als bei Petra Kleinmeister. Aber die lässt ihr jährliches
Last-Minute-Happening mit ihrer Tochter nicht ziehen, selbst wenn der
Zauber von damals einer Routine von Nostalgie gewichen ist.
„Hier!“,
sagt Linda und schiebt einen schlicht verpackten Quader über den
Tisch. Petra Kleinmeister hat sich noch nie theatralisch viel Zeit
beim Geschenke auspacken gelassen.
„Eine
Uhr?“, muss Petra Kleinmeister es aussprechen, um es zu glauben.
Eine teure, die genauso aussieht, dass man es mitbekommt, aber erst
wenn man genau hinschaut. „Was soll ich sagen?“
„Wie
kannst du das...“
„Nein!“,
hebt Linda den Zeigefinger. „Nein! Aus! Ist von Oma, Opa und
mir... sag einfach, ob sie dir gefällt.“
„Das
tut sie“. Petra Kleinmeister betrachtet ihre neue Uhr, die es
irgendwie an ihr Handgelenk geschafft hat und im Angesicht der
eigelben Rotorblätter mit graumelierter Umrandung wird es ihr ganz
klar. Dieses Geschenk, dieses Übermaß an Sinn, Schönheit und
Großzügigkeit symbolisiert alles was ihre Tochter zu diesem
wunderbaren Wesen macht, das sie ist. Eine 1-Schülerin, eine
nachsichtige, sensible 18-jährige mit Geschmack und Humor. Sie, ihre
Mutter, hat ihr ganzes Leben versucht, jeden Sturz, jede Sorge von
ihrer Tochter zu nehmen und jetzt wirft sie ihrer Tochter vor, noch
keine Narben in Gesicht und Seele zu haben. Das ist nicht nur unfair,
es ist selbstgerecht. Nur, was sich Petra Kleinmeister eigentlich
wünscht, ob nun in Geschenkpapier oder nicht, sind billige Insider
mit Anzüglichkeiten, Konzertkarten, eine gemeinsame Erinnerung, eine
sensible Beobachtung, ein Kommentar, ein gutes Buch, verdammt!
Irgendetwas, dass etwas über sie als Frau erzählt oder erzählen
wird. Etwas, dass zwischen ihr und ihrer Tochter stehen kann, wie
eine Slackline, die zwischen zwei kräftigen Bäumen gespannt ist.
Immer für ein Abenteuer als auch einen Absturz zu haben. Petra
Kleinmeister wird klar, sie hat die beste Tochter der Welt – und
alles was sie sich wünscht, ist eine Freundin.
Zuhause
macht sich Petra Kleinmeister Musik an und öffnet den Wein.
Vielleicht bekommst du heute Nachwuchs, grüßt sie im hinübergehen
den Teppichfleck vom letzten Mal. Auch in diesem Jahr lernt Petra
Kleinmeister an Weihnachten allein zu sein. Sie lernt es jedes Jahr
aufs Neue. Die Uhr sagt, dass es noch zu früh ist zum Schlafen.
Petra Kleinmeister geht nie früh ins Bett, ist ein Nachtmensch,
immer in Sorge, etwas zu verpassen. Sie öffnet die Balkontür und
tritt heraus. Das Nichts der Weihnachtsnacht, die Leere des Idylls
der Anderen. Das Ausbleiben von allem befruchtet die Erinnerung. Im
Gartenstuhl, unter der Wolldecke aus dem Fuerteventura-Urlaub, führt
sie in diesen zurück. Last-Minute, mieses Hotel, mehr war damals für
sie beide nicht drin. Wie die vierjährige Linda nackt am Strand
tobte, den Babypo tief im Sand vergraben und Petra Kleinmeister, ihr
Buch seit Stunden auf dem Buch, sich am liebsten auch die Klamotten
vom Leib gerissen hätte und ihre Sandburg daneben gebaut hätte.
Heute wäre das mit ihrer Tochter nicht möglich, denkt Petra
Kleinmeister: „Alte Keuschheitstrulla“ und ein Grinsen begleitet
das öffnen der zweiten Flasche.
Ich
muss meine Erwartungen ändern, denkt Petra Kleinmeister, als sie
sich schließlich ausmalt, wie ihre Tochter und ihr Vater gemeinsam
mit der viel zu jungen Mutter des Hauses und dem ewigen Markus an
einem Tisch sitzen, essen und anregende, wenn auch erwartbare
Gespräche führen. Ich brauche Umgang, sagt sich Petra Kleinmeister,
ich kann Linda das nicht aufladen. Wer weiß, wie lang das schon so
geht. Dann bin ich halt Mutter. Ein Job, den ich scheinbar sehr gut
kann, denkt Petra Kleinmeister und wischt sich eine Träne aus dem
Gesicht. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister. Dass sich ihre
Träume eines selbstbestimmten Lebens nicht erfüllen würden, dass
war immer ihre größte Angst gewesen. Nun aber hatten sich diese
Kräfte verschoben. Petra Kleinmeisters Leben war schmerzhaft
selbstbestimmt. Es war bestimmt von einer Arbeit, die sie abspulte,
der Isolation fehlender Hobbys und Freundeskreisen und einer Tochter,
die ihre Hilfe nicht brauchte. Und Petra Kleinmeister hatte Angst,
dass niemand, sie selbst eingeschlossen, würdigen würde, wie gut
sie mittlerweile damit zurecht kam. Wer wusste schon, ob ihr so
unterschiedliche Umgang mit dieser Sache namens Leben, sie vielleicht
mehr als nur irritierte, vielleicht sogar neidisch mache auf ihre
Tochter. Ganz tief hinten im Kopf, wo selbst die eigens gewählte
Alleinständigkeit manchmal Risse bekommt. Weihnachten, das Fest der
Liebe, denkt Petra Kleinmeister und es klingelt.
„Du
hast doch 'nen Schlüssel“, sagt sie, als sie ihre Tochter im
Treppenhaus sieht und merkt gleich, dass sie etwas anderes, etwas
überraschtes hätte sagen sollen. Doch Linda scheint das nicht zu
stören.
„So
isses aber dramatischer.“ Linda huscht hinein.
„Hast
du getrunken?“
„Es
ist Weihnachten. Was denkst du wohl?“
„Das
meine ich nicht.“, sagte Petra Kleinmeister und deutete auf den
Autoschlüssel in Lindas Hand.
„Nochmal:
Es ist Weihnachten. Die Straßen sind vollkommen leer.“
„Alles
ok?“, fragt Petra Kleinmeister und obwohl sie ihren Ton als viel zu
mütterlich empfindet, geht sie Lindas Gesicht und Haltung nach
Heulspuren ab. Aber da sind keine, keine Verstimmung, nur die
gleichgültige, erwartungsvolle Betrunkenheit einer 18-jährigen
1-Schülerin.
„Schlafen
alle. Langweiler! Alle!“, sagt Linda und geht mit klarer Mission
ins Bad. Petra Kleinmeister verkneift sich jeden Witz oder Frage zum
ewigen Markus und stolziert stattdessen ins Wohnzimmer. Sie dreht die
Musik etwas lauter. Fest der Liebe, denkt Petra Kleinmeister.
Freundschaft wird unterschätzt, denkt Petra Kleinmeister.
„Hast
du Lust auf Whiskey? Mit Honig. Ich hab Lust auf Whiskey.“ ruft
Petra Kleinmeister durch die Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten,
geht sie zurück in die Küche.
„Whiskey?
Das trinken doch nur Männer“, ruft Linda aus dem Bad heraus und
selbst wenn Petra Kleinmeister, den Kopf im mittleren Fach vergraben,
die Ironie nicht mal hört, sagt sie nur: „Ich hab dich nicht dazu
erzogen, zu fragen was Männer und was Frauen tun, Missy“. Und als
die Eiswürfel ins Glas rasseln, bemerkt Petra Kleinmeister, dass es
durchaus möglich ist neckisch und mütterlich gleichzeitig zu sein.
Vielleicht sogar über die Feiertage hinaus.