Mittwoch, 23. Dezember 2020

Abwehrkräfte

Eine Weihnachtsgeschichte

„Your poetry is bad and you blame the news“ (Lana del Ray)

Letztendlich taten wir, was wir immer taten: wir gewöhnten uns. Wir hatten uns gewöhnt an Überschriften, an den Breaking-News-Jingle, der pawlowsche Schweißausbrüche verursachte. Wir hatten uns gewöhnt an den Smalltalk unter entfernten Verwandten, der spielerisch versuchte den Alltagsstress anzuvisieren und ihm doch auszuweichen. Was ein Abschalten selbst in jenen Nichtigkeiten unmöglich machte. Die fehlende oder krampfhafte Freundlichkeit im öffentlichen Raumtat ihr übriges. Wir hatten uns gewöhnt an den stetigen Vertrauensverlust in den Sozialstaat und seine Vertreter. Ein Miteinander war zwar, gemessen an den demokratischen Verhältnissen, mit welchen man aufgewachsen war, weiterhin vorhanden, aber nur noch in rudimentärer Form. Wir hatten uns gewöhnt an einen niederen Lebensstandard – auf ein Level gesunken, welches es den Idioten weiterhin erlaubte, die ausgesprochenen Sorgen anderer zu negieren, als ‚Erste-Weltprobleme‘ abzumoderieren. Wir hatten uns gewöhnt an den Austausch mit uns selbst (oder Frustrierten im Internet), der verschiedene Formen des Leidens gegeneinander auszuspielen versuchte. Als ob Schmerz nicht Ausdruck von fehlender Aufmerksamkeit war. Als ob das Schreien eines Kindes gelindert war, indem man auf ein anderes zeigte, welches von einer noch höheren Wippe gefallen war. Als ob die Nase aufhört zu laufen, wenn man sich den Fuß stößt. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass unser Miteinander weiterhin eine Teilhabe war, wenn auch im Gegeneinander. Alles war ein Nullsummenspiel geworden: Wohnungen in den Städten, Arbeits- oder Kitaplätze. Zum Teil hatten wir uns gar auf die Dinge eingestellt. 

Ich besaß nun verschiedenen Genres von Jogginghosen. Solche für Videokonferenzen, Offizielles und solche für Zwecke, die früher sämtlichen Jogginghosen zufielen. Die Kuration unserer Abende war in ungeahnte Sphären der Kreativität vorgedrungen. Wir schauten Filme nach Themen oder Schaffenden sortiert und hatten alte Brettspiele wiederentdeckt, die zu Beginn unserer Beziehung als pseudoironische Pausen dienten, um zwischen Sex wieder zu Kräften zu kommen. Nun saßen wir vollbekleidet auf der Couch, ein Rotweinglas in der einen und ein paar Buben in der anderen Hand. Brummten uns an, wenn der andere mal wieder zu lange überlegte. Eine Coolness zwischen uns, die ich mir vor meinem 30. Geburtstag nie hätte erlauben können. In meinen besten Momenten der letzten Monate empfand ich immer wieder einen diffusen Stolz auf uns drei. Ein Stolz auf Erreichtes. Ein Stolz darauf, dass der Wein aus dem zweistelligen Preisregal kam und auch so schmeckte. Aber genauso war es ein Stolz auf die simple wie grundlegende Tatsache, dass Bitterkeit weiterhin nicht eingekehrt war. Müdigkeit, ja. Augenringe, ausgedünnte Haare, fettige Haut, eine regelmäßige Unfähigkeit am Frühstückstisch ein Gespräch zu führen – absolut. Aber nichts, was ich als Bitterkeit werten möchte, als unumgängliche Gewissheit, als selbsterfüllende Prophezeiung im Siegeszuges des Neoliberalismus, als übles Klischee nachlassender Jugend und Routine im zweiten Jahrzehnt der Ehe. Bitterkeit als Gegenteil von Kontrolle. Und in meinen guten Momenten war ich weiterhin der Schied meines eigenen Tiefschlafs. Seit der Wahlnacht sogar ohne Tabletten. 

„Will sie mich nochmal sehen?“, frage ich Christian, als er aus dem Kinderzimmer kommt.

„Immer“, sagt er mit einem leichten Grinsen, welches weiterhin Wirkung auf mich hat: „Aber nicht mehr heute Abend.“ Christian geht zum Kühlschrank, öffnet ein Bier und lässt sich auf die Couch fallen. 

„Geschenke auspacken macht müde, scheinbar“, sagt er während er den Weihnachtsbaum mustert: „Glaubst du, sie glaubt uns nächstes Jahr noch, dass der Weihnachtsmann existiert?“

„Ich glaube, sie glaubt uns jetzt schon nicht mehr“, sage ich, erhebe mich mit einem leichten Stöhnen und hole mir selbst ein Bier. Als ich dies Christian etwas theatralisch vorhalte, zeigt er wortlos seine Handinnenflächen, um seine Reue zu beweisen. 

„Nicht? Mir hat sie die ganze letzte Woche noch erzählt, wo und wie ich ihm ihren Wunschzettel zuzustellen zu habe.“

„Deine Tochter vermisst immer noch ihre Freunde aus dem Kindergarten und spielt dich schon jetzt wie ihre Blockflöte.“

„Tut sie das?“, fragt Christian, eine unerwartete Gereiztheit in seiner Stimme. Sein ganzes Leben litt seine Mutter unter Depressionen und wann immer er in Verdacht gerät, ein stereotyper Macho zu sein, scheint dies eine unstillbare Schuld zu erwecken, sich nicht genug um sie gekümmert zu haben. Eine Schuld, die ihn, ich erlaube mir dies so banal zusammenzubringen, zu einem ausgesprochen guten Vater macht.

„Ich glaube, dir ist nicht bewusst, wie früh Mädchen beginnen mit den Männern in ihrem Leben zu flirten“, bemühe ich mich den Blickwinkel zu ändern. Einen Gag über Blockflöten und ihre phallische Früherziehung schwirrt in meinem Kopf, aber ich unterdrücke ihn.

„Du meinst also, ich darf demnächst endlich der überbeschützende Vater sein, der ich immer sein wollte?“

„Tob dich aus“, erwidere ich, während ich ein noch verpacktes Geschenk unter dem Baum erblicke: „Haben wir was vergessen?“, frage ich: „Ist das etwa für mich… etwas, dass warten muss, bis das Kind in Bett ist?“. Mein Geflirte ist arg überzogen, aber mei, muss. Es ist Weihnachten, verdammt. 

„Dass ist für Emma. Ein Zusatzdings… ein, na, ein Add-on für ihr Harry-Potter-Spiel“, sagt Christian schnell, und um diesen plötzlich peinlichen Moment zu entkommen fügt er hinzu: „Manchmal hatte meine Mama ein zusätzliches Geschenk unterm Baum, am ersten Weihnachtstag. Das war eine ihrer Traditionen. Aber auch überraschend, jedes Jahr aufs Neue.“

Den Klos, der sich in mir formt, muss ich wohl Neid nennen. Nur worauf? Auf meine eigene Tochter und die Aufmerksamkeit, die sie mir von meinem Ehemann abknapst? Auf meine Schwiegermutter? Verkörperung der atomaren Häuslichkeit und nebenbei einmetervierundsechzig großes Symbol dafür, dass Eltern ihre Kinder immer mehr lieben als ihre Partner. Was es auch war, es war primitiv. War Neid nicht eh immer ein sekundäres Gefühl? Ein Platzhalter, eine Umleitung, ein Stellvertreterkrieg? Es ist doch immer leichter, den Schmerz der eigenen Leere in die Wut eines zu viel der anderen zu drehen. Und wenn dies ein guter Moment gewesen wäre, hätte ich mir dies in diesem Moment auch zugestanden. Stattdessen aber sage ich: „Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, dass wir Emma dazu erziehen, dass für sie jeden Tag Weihnachten ist.“

„Jeden Tag?“, erwidert Christian mit berechtigter Herablassung und jetzt komm ich aus der Nummer nicht mehr raus.

„Ich habe die verzogenen Mädchen in der Schule immer gehasst.“

„Hä?“

Christian ist genauso verwirrt wie ich, während ich mir selbst beim Schaufeln des Grabes zuschaue, in welches ich anscheinend diesen Abend werfen möchte: „Wir müssen aufpassen, dass Emma nicht in die Schule kommt nächste Woche...“

„Übernächste Woche“, wirft Christian ein und wenigstens hier bin ich wach genug, es zu ignorieren.

„ … im neuen Jahr geht sie zurück in die Schule, und ich will nicht, dass sie allen erzählt, dass ihr Weihnachtsmann die ganze Woche kam.“

„Und, nur damit wir uns verstehen...“, ist Christian nach nur wenigen Sätzen maximal genervt: „… sie tut dies deiner Meinung nach, weil sie morgen noch ein Geschenk auspacken darf, die verzogene Göre.“

„Du hättest es mit mir absprechen müssen.“

„Ah!“

„Nein!“

„Darum geht es also?“

„Nein!“

„Worum denn dann?“

Ich blicke aus dem Fenster: „Keine Ahnung.“ Plötzlich fühle ich den gesammelten Stress des Jahres. Wie eine Grippe am zweiten Ferientag, wie ein Sonnenbrand nach dem Aufwachen. Körper sind kluge Systeme. Seit der sechsten Klasse war ich jedes Jahr in der Februarwoche nach der Klausurphase krank. Nie davor. Bis ins Abitur war es meinem Immunsystem eigen, den Zeitpunkt des Virenausbruchs festzulegen, anstatt gegen ihn vorzugehen. Erst den Notendurchschnitt, dann die Abwehrkräfte neu formieren. 

„Was immer es ist“, sagt Christian mit hängenden Schultern: „wenn, dann würde ich lieber darüber streiten.“ Er spricht mit jener trägen Tonalität, in die Männer der oberen Mittelschicht ihre Banalitäten hüllen, um ihnen unverdiente Schwere zu geben. ‚Im Gegensatz zu seinem Namen war der kalte Krieg alles andere als kalt‘ … ‚Extremismus ist immer abzulehnen, egal ob er von rechts oder links kommt‘. ‚Die Würde des Menschen...‘ 'Die Menschen haben verlernt miteinander zu reden.' Und so weiter. Die randlose Brille im Chefredakteuren-Rollenspiel, der unnötig teure Füller über dem leeren Notizblock sind nur ein paar Requisiten des Theaters der radikalen Mitte. Und ich muss immer wieder aufpassen meinen Hass auf diese ignorante Welt nicht an dem einen abzulassen, mit dem ich die Ellenbogen gekreuzt habe, um durch eben diese zu waten. Assoziations- und Minenfelder haben gemein, dass man sie nicht durchstreifen kann ohne nicht wenigstens etwas Schutt aufzuwerfen. 

Ich starre weiter aus dem Fenster. Es ist immer noch Weihnachten. Es wird bis Ende Januar nicht schneien und mein Ehemann ist zum Kühlschrank gegangen und hat mir kein Bier angeboten. Er schaut mich an. Er ist auch müde. Nur dass sein Mangel an Energie in die Passivität führt. „Hm“, nickt er und will dass ich beschreibe, was tatsächlich los ist. 

„Glaubst du, unsere Tochter wird sich an heute erinnern? In, was weiß ich, fünf Jahren? Zehn?“

Christian denkt. Mit offenen Augen und einer Hände an der Hüfte und vor der Stirn. Denkerpose, fast authentisch. „Ja“, sagt er und will, dass ich frage wie genau er das meint. 

„Wie meinst du?“

„Gegenfrage: Wenn ich dich fragen würde, wie du mit sechs, sieben Jahren Weihnachten gefeiert hast, könntest du es beantworten?“

„Das kommt drauf an.“

„Worauf?“

„Ob du mich fragst, was ich geschenkt bekomme habe oder was es zu essen gab. Dass weiß ich nicht mehr.“

„Aber?“

„Aber, wenn du mich fragst, wie ich mich gefühlt habe. Wie Weihnachten bei uns war, in dem Alter, dann kann ich dir sagen, woran ich mich erinnere, dann kann ich dir ein Gefühl beschreiben.“

„Und was erinnerst du?“, fragt Christian der mittlerweile neben mir sitzt, sein Bier auf der hohen Kante der Couch balanciert, während er sein Kinn auf selbiger abgeladen hat. Eine entwaffnende Haltung, die seine Wirkung nicht verfehlt.

„War gut“, sage ich und dass ich dabei meinen norddeutschen Akzent auspacke ist natürlich kein Zufall. 

„Und wie glaubst du wird Emma mal diese Frage beantworten?“

„Ähnlich, hoffe ich. Denke ich.“

Christians Kopf erhebt sich zurück zwischen seine Schultern. Er hat die Antwort, die er wollte: „Gut.“ Kunstpause: „Also geht es hier um dich, ja? Oder uns?“

Ich begutachte meine Fingernägel vor dem Flaschenhals, um Zeit zu gewinnen: „Ich bin müde.“

„Hmm“, brummt Christian. Es ist besser als jedes ‚Ich auch‘, auch wenn es genau das meint. 

Ehrlichkeit ist ein komplizierterer Code in einer Ehe mit Kind, welches gerade lernt zu lügen. Auch die eigenen Lügen werden zunehmend komplizierter. Lässt sich die Tochter am besten beschützen, indem man ihr die Welt erklärt, sie ihr beschreibt, in all ihrer Brutalität? Und doch, die Schlachten unserer Elternschaft sind ein Fernhalten. Jeder Tag, der Kälte und Dummheit und Einsamkeit vor der Tür hält ist ein gewonnener Tag. Aber die Frage bleibt: Wieviel Abwehrkräfte muss ein Kind aufbauen? Neulich, der Zoom-Unterricht war gerade zu Ende gegangen, fragte mich Emma mit der Direktheit einer Siebenjährigen, ob wir Nazis in der Familie hätten. Auf meine Nachfrage, welche eine Antwort bewusst vermied, erzählte sie mir von Joscha. Ganz erschloss sich mir ihre Geschichte nicht. Wer weiß schon wie ihr Mitschüler es gemeinte, aber Emmas Ausführungen zufolge klang es, als ob er regelmäßig damit angab, dass sein Urgroßvater in der Wehrmacht war. Später am Abend fragte ich Christian, ob Joschas Vater jener war, der am Elternabend nicht an sich halten konnte, und selbst im Smalltalk „Merkel muss weg“, gemurmelt hatte. Er wusste es auch nicht mehr, aber wir einigen uns, dass dem so sein musste. 

„Ich glaube“, beginnt Christian einen Monolog, den er in seinem Kopf die letzten Sekunden oder Tage vorbereitet hat: „… Ich bin ein wenig stolz auf uns. Also… zwischen meiner Arbeitslosigkeit, den Sorgen um deine Eltern, den ganzen Skypemeetings und, nicht zu vergessen, dem Siegeszug des globalen Rechtspopulismus. Unsere Tochter wird immer nerviger – süß ist sie ja schon seit Jahren nicht mehr. Und, ach so, im Kino oder Bar waren wir auch seit Monaten nicht mehr. Ich würde dass gerne, hier und jetzt, einfach mal festhalten. Dass weder du, noch ich uns bisher nicht die Kehle durchgeschnitten haben, ist eine Leistung.“ 

Ich sage nichts, mache keinen Witz und erwidere nicht. Christian ist verwirrt: „Findest du nicht?“

„Ich weiß nicht“, sage ich wahrheitsgemäß. Dies ist kein guter Moment. 

„Wir haben es hinbekommen, dass aller Scheiße zum Trotz, Emma nicht in 15 Jahren in ihrer zweiten Therapiesitzung von dem einen Weihnachten anfängt, dass sie zu der trostlosen VWL-Studentin gemacht hat, die sie glaubt, zu sein.“

„Du weißt, dass sich diese Frage erst in der Pubertät klärt. Wenn überhaupt.“

„Ok, akzeptiert. Aber bis hier hin...“

Jetzt hat er mich und ich grinse: „Ich weiß nicht ob ich das gelten lassen kann. Manchmal glaube ich, wir haben nur auf diesen Moment gewartet. Auf dass uns die Welt eine Ausrede gibt. Geringe Ansprüche sind doch die Hölle. Jede mittelmässige Fernsehserie muss man gesehen haben, jedem Scheiß, der nicht vollkommen hirnverbrannt ist, soll ich applaudieren. Oh, toll… die Kanzlerin kann Punkt- und Strichrechnung. Und jetzt alle klatschen, für die Nachtschwestern.“ Ich muss mich bremsen und tue dies mit einem Gang zum Kühlschrank. 

„Können wir bitte mit unseren Emotionen hier im Raum bleiben.“ Christian hat die Beine überschlagen. Er hat natürlich nicht Unrecht, obwohl mich sein Satz erneut mit Überheblichkeit beleidigt. 

„Ok“, sage ich, während ich meine Wut am Kronenkorken auslasse: „Bleiben wir im Raum. Hier! Wie du da sitzt, in psychotherapeutischer Haltung und gleich sagst du mir, dass all meine Wut auf Möchtegern-Diktatoren und Klimawandel … und… Wutbürger nur eine Spiegelung meines Innern ist. Dass es eigentlich nur darum geht, dass meine Unzufriedenheit eine persönliche ist, dass ich Schuldgefühle habe.“ Meine Wut ist vom Flaschenöffner in meine geballte Faust gewandert: „Weil… weil wir eine Tochter haben, die wir nur beschützen können, wenn sich diese Welt nur etwas am Riemen reißt. Wo ziehen wir die Grenze, Christian? Wo ziehen wir die Grenze, zwischen den Dingen, die wir beeinflussen können und den Dingen, die einfach scheiße sind, aber halt nicht in unserer Kontrolle? Ich trenne gerne den Müll, mach ich wirklich gerne. Aber ich bin so fertig damit so zu tun, als ob dass irgendeinen Einfluss hätte. Wie soll ich mich da fühlen?“


Christian ist zu klug, um sofort zu antworten. Er sucht meinen Augenkontakt, aber ich hab da jetzt keine Lust zu. „Schuld ist scheiße“, sagt er schließlich, etwas hilflos und großspurig. Es verhallt genauso im Raum wie man es vermuten könnte: „Bringt es etwas, wenn ich dir sage, dass es für dich keinen Grund gibt, sich schuldig zu fühlen? Und dass es letztlich auch egal ist was dir Angst macht.“

„Keine Ahnung, versuch‘s halt“ sage ich, während mir die Tränen kommen. Christian kommt in die Küche und nimmt mich in den Arm. Was mir erlaubt, noch etwas mehr loszulassen. Es sind gute 30 Sekunden, ehe ich nochmal ansetze, weiterhin im Glauben, mich erklären zu müssen: „Ich habe mich noch nie so sehr ohne Kontrolle gefühlt.“

„Ich auch nicht“, sagt Christian und ganz spontan und nur flüchtig verstehe ich wieder, was er meinte mit seinem Satz über Stolz: „Ist doch auch manchmal ganz schön, so ohne Verantwortung.“ Meist geht mir der neurotische Optimismus meines Ehemanns gegen den Strich, meist empfinde ich ihn als unauthentischen Quatsch, aber in diesem Moment wünsche ich mir nichts anderes.

„Ich glaube, letztlich will ich nur, dass...“

„Mama!“, ruft Emma, die plötzlich in der Küche steht. Ihre Bettdecke hat sie über ihren Schultern hinter sich her geschleift: „Ich hab Angst.“

„Angst? Wovor hast du Angst?“, frage ich ohne auch nur eine Sekunde zu brauchen, um in den Muttermodus zu wechseln. In einer Bewegung wische ich mir über die Wange, gehe auf die Knie und streiche Emma über ihre Stirn. Es ist unglaublich, was für eine Kraft, allem Klischee zum Trotz, von der Mutterschaft ausgeht. 

„Ich weiß nicht“ sagt Emma: „vor… Monstern?“, es ist mehr eine Frage als Antwort. Was kommuniziert, dass sie nicht schlafen kann und eine Ausrede braucht, um nicht im Bett zu bleiben. Unsere Abendroutine, auch am Weihnachtsabend. Ich hebe sie auf und trage sie zurück ins Bett, wo ich sie zwischen ihren Stofftieren ablade. 

„Hast du geweint?“, fragt mich Emma. 

„Ja“, sage ich die Wahrheit. 

„Warum?“

„Ich war ein wenig traurig, aber das geht vorbei“, antworte ich, ohne klar sagen zu können, ob ich lüge. 

„Warum?“

„Dass erzähle ich dir morgen“, lüge ich, in der Hoffnung, dass sie es bis dahin vergessen hat. Ich sage meiner Tochter gute Nacht, küsse sie auf die Stirn und weil sie ein kluges Kind ist, lässt sie mich ohne weitere Fragen aus der Tür. 

Zurück im Wohnzimmer, hat Christian zwei Gläser aus dem Schrank geholt und mit braunem Alkohol gefüllt. Und Eiswürfeln. Er reicht mir ein Glas im Stehen, sein eigenes an den Brustkorb gelehnt: „Prost“, sagt er, um Feierlichkeit bemüht. 

„Ja“, sage ich: „Genau.“

Und so stehen wir da. Die Lichterkette flimmert vom Baum zum Fenster und zurück. „Hey google, spiel depressive Musik“ sage ich und zum ersten Mal heute Abend finde ich mich witzig. Die Maschinerie gehorcht und Christian und ich fallen tiefer und tiefer in die Couch. Es dauert ein paar Lieder, bis ich den Impuls verspüre etwas zu sagen: „Hab ich dir jemals erzählt, dass ich mal einen Triathlon laufen wollte. Dass war vor dir. Ich fing das Training an und kam keine 20 Minuten weit, bis es mir alles in die Beine schoss oder die Schulter zuckte. Ausdauersport ist so unendlich langweilig. Schmerzhaft langweilig. Ich bin immer raus auf die Straße und los… und nach ein paar Minuten hab ich abgebrochen und bin zurück, spazierend. Naja… jedenfalls war ich nie in Form und hatte die Idee längst wieder verworfen. Und plötzlich kommt die Erinnerung rein, per Mail‚ ‚wir freuen uns auf ihre Teilnahme‘ … nächstes Wochenende. Ich hatte vergessen mich abzumelden und die Startgebühr war bezahlt. Also... bin ich hin. Ohne Training, ohne Ausrüstung. Ohne Badekappe und mit Fahrrad von der Freundin. Und was soll ich sagen. Es war großer Sport. Letzte war ich nicht, im Gegenteil… auf den letzten 2 Kilometern bin ich geflogen. Meine Freunde an der Ziellinie. Kennst du dieses Gefühl, wenn das Adrenalin alles übernimmt, dich komplett fremd steuert? Frag mich nicht nach meiner Zeit, aber im Ziel war ich so … glücklich. Richtig glücklich.“

Christian blickt mich nicht an, er weiß, dass ich das gerade nicht aushalten würde. 

„Ich habe Angst, dass es nicht besser wird“, sage ich: „Ich will mich nicht an all das gewöhnen. Ich kann alles aushalten, ich kann alles sogar genießen, vielleicht, solange ich weiß wo die verdammte Ziellinie ist. Aber keiner weiß, wo die verdammte Ziellinie ist. Wir erfinden Ziellinien. ‚Nächstes Jahr‘ wird alles besser. Vorsetze, Bleigießen, Impfung, mit der neuen Regierung … blabla… wenn das Kind aus dem Haus ist, nach der Beförderung. …es gibt keine Ziellinie. Nur Idioten glauben an Ziellinien. Wir haben ein Kind in die Welt gebracht und die Pole schmelzen. Wo ist da die Ziellinie?“

Christian trinkt und nickt. Ich trinke und nicke. Ehe er aufsteht, befiehlt der Maschinerie, sie möge Kacey Musgraves spielen und reicht mir die Hand: „Komm. Es ist Weihnachten, verdammt“ und ich nehme seine Hand, bin genauso betrunken wie willens mich weiter in meine Theatralik zu werfen und wir schaukeln, unsere Handgelenke zwischen uns verrenkt, dahin. 

Nach einer Weile und in die völlige Stille hinein, zwischen zwei Liedern und zwischen meinen Gedanken, die schon vor einigen Strophen den Raum verlassen haben, flüstert Christian: „Es hätte also doch der Diamantring sein sollen.“

Normalerweise würde ich jetzt mit den Augen rollen. Normalerweise würde ich Christian zu spüren gebe, dass ich seine billigen Witze als Minimierung meiner Sorgen, meines Stresses, meines Schmerzes empfinde. Normalerweise würde ich ihm sagen, dass ich diesen Optimismus, diesen neurotischen Hang zum Miteinander nicht ernst nehmen kann. Normalerweise würde ich an dieser Stelle gegen meine Bitterkeit argumentieren. Normalerweise würde ich versuchen Stärke zu beweisen, auf die eine mir bekannte Weise. Aber vielleicht ist das einer meiner guten Momente. Vielleicht muss ich all das nicht. Vielleicht bin ich verbittert. Vielleicht nur müde. Ich bin auf jeden Fall betrunken, mein Ehemann hält meine Hand und für wenigstens noch ein paar Momente ist Weihnachten, verdammt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen