Montag, 1. Juni 2009

Die größte gelbe Karte aller Zeiten


Es regnet. Das Flutlicht ist an und die Stadt ist da. Es geht um viel an diesem Mittwochabend. Mathias Hain springt auf! Er schreit. Er schreit Schiri und Gegenspieler an und keift nach allem was sich bewegt. Ein übles Foulspiel an der Seitenauslinie war diesem Schauspiel vorausgegangen. Das Stadion kocht. Eine Viertelstunde vor Spielende steht das ganze Rund und übt im verbalen Schulterschluß das aus, was man früher einmal „Heimvorteil“ nannte. Der Schiedsrichter verliert ein wenig die Kontrolle. Das dieser Aggression vorausgegangene Foul hat er gepfiffen und mit Gelb getadelt. Doch Hain bekommt er nicht wieder in den Griff. Wie der berühmte wilde Stier hat er hier alles in Bewegung gesetzt. Er sieht nun auch Gelb. Er beruhigt sich. Die wohl berühmteste, vielleicht auch wichtigste gelbe Karte der Vereinsgeschichte.
Warum? - Das besondere an diesem Ereignissen ist, dass Mathias Hain, damaliger Torwart von Arminia Bielefeld, in diesem Moment nur auf der Bank sitzt. Er spielt nicht. Jedenfalls nicht auf dem Platz. Neben jenem ist er weiterhin Teil dieser Mannschaft, Teil dieses Vereins, dieser Stadt. Mit allem was er hat.
Hain setzt sich. Das Stadion steht! Einige Minuten sind vergangen. Der fällige Freistoß wird ausgeführt. Tor! Taumel! Erlösung! 10 Minuten später hat Arminia Bielefeld 1:0 gegen Bayer Leverkusen gewonnen. Wenige Wochen später entgeht der Verein knapp dem Abstieg. Mit weniger als 3 Punkten Vorsprung.
Arminia Bielefeld bleibt also erstklassig. Mathias Hain nicht. Er bekommt keinen neuen Vertrag und wechselt – wie sollte es bei seiner Persönlichkeit anders sein – zum St. Pauli.
Mit Hain verlässt einer der letzten Spieler der Generation den Verein, mit der ich groß wurde. Fußballerisch häufig unterlegen, standen diese Spieler – ob nun namentlich Fatmir Vata, Petr Gabriel, Rüdiger Kauf, Markus Schuler, Artur Wichniarek und besonders Matze Hain – immer für etwas, was der Verein sich in guten Zeiten immer auf die Fahne schreibt: Leidenschaft! Leidenschaft in einer gänzlich authentischen und positiven Form. Denn wenn Matze Hain mit einem einzelnen Wort beschrieben werden müsste, so wäre es die „Authentizität“. Ehrlichkeit, Loyalität, Ehrgeiz, Rückgrat, Persönlichkeit, Würde, schlicht; einer von den Guten. Einer, den man zum Trauzeugen haben will. Einer, der wie kein anderer verkörpert, was es heißt groß zu sein. Einer, der immer zeigte, dass man verlieren und gewinnen kann. Dies aber immer wie ein Mann zu tun hat. Einer, den man Vorbild nennt, obwohl man eigentlich aus dem Alter raus ist, in dem man noch solche hat.

Ein Jahr später steigt Arminia Bielefeld verdientermaßen ab. Ein Jahr zuvor noch das Glück des Tüchtigen gehabt, war es schließlich an der Zeit.
In den folgenden Tagen und Wochen herrscht Chaos in Stadt und Zeitung. Jeder beschuldigt jeden. Und jeder - so traurig es ist - hat wohl Recht. Jeder wirft mit Dreck. Jeder hat Dreck am Stecken. „Lynchjournalismus“, „Regime“ oder auch VORSTAND RAUS!!! (mit gefühlten 20 Ausrufezeichen) sind die Ausdrücke der Wahl. Es fehlt an Würde, Größe, Rückgrat und, genau, Authentizität.
Vor ein paar Wochen war diese noch vorhanden. Unzählige Spiele wurden verloren. Wichtige Spiele. Gute und schlechte Spiele. Man versagte, man hatte Pech. Doch man tat dies wie ein Mann. Man respektierte sich. Stand auf nach Niederlagen und Rückschlägen, applaudierte sich. Die Mannschaft den Massen, die Massen der Mannschaft. Nicht dem Ergebnis, aber der gezeigten Leistung. Und es stellt eine hohe kollektive Fähigkeit dar, dass hier eine Unterscheidung gemacht wird. In Köln oder auf Schalke fällt so etwas deutlich schwerer.
Man hoffte, litt und ertrug. Bis zur 85. Minute des letzten Spiels. Hannover machte in diesem Moment das 2:1 und es war besiegelt. Dann entlud sich alles, was noch zuvor für den Erfolg des Kollektives zurück gehalten wurde. Jetzt half es auch nicht mehr, dass es fünf verdammt gute Jahre gewesen waren. Diese Fünf Jahre sollten in fünf Minuten zu Ende sein. Das war sicher. Fünf gute Jahre mit Siegen in Hamburg, Frankfurt, Bremen, Wolfsburg, Hannover, Bochum, Freiburg, Leverkusen, Nürnberg oder gegen Bayern, Stuttgart Dortmund, Berlin Schalke oder Köln. Mit Nationalspielern in den eigenen Reihen, mit großen Pokalabenden. Es half nicht, dass es fünf Jahre waren, die eine solche Fülle an Erinnerungen geschaffen hatten, dass mich während dieser Aufzeichnungen eine permanente Gänsehaut einholt. Schmerz ist immer akut.
Doch immer wenn es möglich war, war diese Stadt da. Bis zur 85 Minute. Lokalzeitung, Stadion, Ultras, OB. Immer dafür, nie dagegen. Mit Würde, mit Ehrgeiz und mit der Beurteilung des Erfolgs am Kollektiv. Vielleicht ist dies nun zu Ende. Vielleicht wird man sich in ein paar Jahren nicht mehr daran erinnern, wie sehr diese Stadt in dieser Zeit an Selbstbewusstsein und an Identität gewonnen hat. Aber sie tat es! Es gab einen Punkt, an dem dieser Verein nicht mehr die kleine Version eines anderen Clubs war. Er war nicht mehr der kleine Spaßverein mit Möchtegern-Sommerfußball oder Fast-Weltklub. Immer im scheiternden Versuch gefangen, sich mit anderen, etablierten Kräften zu messen. Irgendwann wurde er etwas Eigenem. Sich selbst genügend, sich selbst erkennend als Club mit dem zweitkleinsten Etat und der kleinsten Lobby der Liga. Etwas, mit dem die Menschen hier etwas anfangen konnten. „Niemand erobert den Teutoburger Wald“, hieß es da aus den Kehlen, von den Rängen herab, ohne Ironie. Man war Stolz auf das erreichte und die Neugeborenen wurden endlich wieder hier und nicht in Dortmund angemeldet. Man hatte es sich erarbeitet und nicht erschlichen. Man hatte die guten Zeiten genossen und die schlechten angenommen.Es waren gute Jahre.
Ehrlich und loyal.

Etwas, was diese Stadt – so möchte ich es mir einbilden – von Mathias Hain gelernt hat.



Ein kleiner Eindruck:
http://www.youtube.com/watch?v=kcp0gklLcyg&feature=related

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