Es bietet sich an, hier ein Bild zu nutzen, welches in diesem Zusammenhang ekelhafte Wirklichkeit wurde: das Bild vom Staub, der sich langsam legt. Nachdem er zuvor noch durch eine panischeMenschenmasse aufgewirbelt wurde. Und mit dem Staub auch eine Duftwolke aus Urin, Kotze, Schweiß und noch mehr Urin. Beißend für die Augen, wie ein Schleier voll Salz auf die Ganzkörperwunde.
Ein Zustand physischer und psychischer Extreme, wie er in diesem 16Meter breiten Duisburger-Tunnel gewesen sein muss, in dem vor lauter Menschen kein Platz war. Also gar kein Platz! Kein Zentimeter war mehr frei, Füße lösen sich vom Boden und man wid mit der Menge dahin gerissen. Man will nur raus - aus der Enge. Man kann es nicht! Man verliert die Kontrolle. Man kriegt Panik. Du kriegst Panik!
Doch das Ergebnis dieses Zustandes, in dem Masse, Hitze, Raverkultur, Alkohol und sämtliche andere harte und weniger harte Drogen zusammentrafen, wird jetzt erst sichtbar, nachdem sich der beißende Staub langsam gelegt hat.
Zunächst - nur der Vollständigkeit halber - steht da erstmal das Ereignis an sich, mit seinen nackten Zahlen: 21 Toten, über 500 Verletzte und Hunderttausende, statisch nicht erfasst, die Dinge in diesem Tunnel gesehen, gehört und gefühlt haben, die die meisten Menschen nie erleben müssen. „Schlimmer als jeder Kriegsschauplatz“ nennen das gestandene Sanitäter, die schon einiges mitgemacht haben, in der Süddeutschen. Eine Zeit-Redakteurin, mit 25 Jahren kaum älter als ich, beschreibt die Situation im Tunnel ähnlich. Sie erzählt von Menschen, die „Dahinten sterben Menschen!“, schreien, während sie verstört an ihr vorbei laufen. Sie sitzt währenddessen neben jemanden, dem man mehrfach übers Gesicht gelaufen ist. Sie hatte zuvor mit längeren Bewusstseinsverlusten zu kämpfen. Totaler Blackout. Bis sie realisiert in Gefahr zu sein. In Lebensgefahr, mit 25 Jahren, auf einer Party.
Das ist das das Ereignis für sich genommen: Love-Parade 2010. Duisburg. Ein Begriff, der seinen Weg in das deutsche Gedächtnis finden wird, wie Eschede, Ramstein oder Winnenden/Emsdetten.
Direkt dahinter wird schnell die nächste Ebene des Ereignisses sichtbar; die Verantwortlichen. Die sind schnell aufgelistet. Duisburgs OB Sauerland (CDU), dem die Behörden der Stadt unterstellt sind. Veranstalter Schaller, dem die McFit-Kette gehört und bei der ich (noch) Mitglied bin. Dazu noch eine graue Masse an staatlichen Personen und Institutionen. Gutachter, Sicherheits-„Experten“, Crowd-Manager (noch so ein Wort, das es ins kollektive Bewusstein schaffen wird) Polizei, Feuerwehr und Wichtigtuer. Viel sagen sie alle nicht. Wenn sie auch sonst nichts wissen, eins wissen sie: "Ich war es nicht!" Oder um es ihnen treffender in den Mund zu legen: sie waren es nicht allein, was zur nächsten, hier entscheidenden Ebene führt; die Ganz-gesellschaftliche. Die Ebene über die bisher noch nicht (ausreichend) gesprochen wurde. Über die Symptome dessen hinaus, was an dieser Stelle als ein gesellschaftlicher Zuschaft verstanden wird, der aus gegebenen Anlass die Umschreibung "kathastrophal" verdient.
Duisburg war eine Kathastrophe und keine Tragödie, also unvermeidlich. Die Love-Parade war kein Erdbeben oder Blitzeinschlag. Es war ein Unfall, ja. Aber einer mit Alkohol am Steuer, mit roter Ampel, fahrlässiger Tötung, mit Schuld! Es gibt rechtliche und moralische Schuldige und somit gibt es auch Wut, Groll und Rachegelüste. Duisburg hätte nicht sein müssen. Die entscheidende, bleibende Erkenntnis ist: es gab eine Alternative. Die Frage die damit einher geht und einen seither rätseln lässt, heißt also: „Was hatte anders gemacht werden können?“.
Auf erster und zweiter Ebene ist das schnell zu erklären. Ein vergleichbares Geschichtslehrstück bietet die Hillsborough-Katastrophe 1989, bei der mehrere Menschen an Stadiongittern durch Überfüllung erdrückt wurden, weil sie die Ordungskräfte weigerten die Tore zum Feld zu öffnen. Man glaubte, die Masse wollte randalieren und ließ sie auf den Stehplätzen ihren Schmerzen erliegen. Seither gibt es in englischen Fußballstadien keine Stehplätze oder Gitter mehr. Warum ich das erzähle? - Eine ähnliche Reaktion ist auch jetzt in Form einer Gesetzesflut zu erwarten. Ausgänge, maximale Personenzahl, organisatorische Abläufe, alles steht auf dem Prüfstand, wird in Zukunft verschärfst oder stäker kontrolliert. Manches wohl überlegt, anderes völlig panisch, zur Wählerberuhigung. Bis zu einem gewissen Masse sinnvolle Symptome-Bekämpfung.
Doch sagt Duisburg 2010 noch mehr über diese direkte Ebene hinaus. Bei genauerer Betrachtung erscheint dieser Unfall nicht nur als Lehrstück für Sicherheitspolitik und der Gleichen, sondern als etwas größeres. Duisburg könnte der Anfang von etwas Neuem sein, auch wenn dies nur eine wage Hoffnung meinerseits ist und keine Aussagen über Techno darstellt.
Duisburg 2010 und die man dafür noch zur Verantwortung ziehen wird, stehen für etwas, das vor 30 Jahren noch das Mantra für eine goldene Zukunft war: „Wachstum“.Dieses Unglück ist Symbol für - so sehr dies auch nach Stammtisch klingen mag - einen grundsätzliche Fehlentwicklung dieser Gesellschaft.
Duisburg wollte aufsteigen, das ganze Ruhrgebiet will raus aus seiner als dunkel und trist empfundenen Vergangenheit der Kohleberger. Sein OB ist wegen diesem Anspruch, dieser Sehnsucht, dessen Projektionsfläche er zu sein scheint, mehrfach gewählt worden. Mc-Fit-Schaller ist ein neoliberales Vorzeigekind. Mit seinem ersten Studio in Würzburg begann sein Aufstieg, der heute über 120 Studios mit sich gebracht hat. Eins davon auf Mallorca. Der Grund für Schallers Erfolg ist, dass er Bekanntes für weniger Geld anbietet: für 15,90€ im Monat trainieren, ohne Betreuung, ohne Extras. Duschen kostet 0,50€. Alle an der Love-Parade beteiligten Parteien unterlagen einem Wachstums-Gedanken. Entweder direkt oder indirekt, durch den Druck, der auf die verübt und dem sie sich gebeugt haben.
Der klassische Wachstums-Gedanke liegt - gerade im Bezug auf Duisburg 2010 - in dem Prinzip der Rationalisierung. Wenn etwas bereits da ist, ein Markt besteht, produziert man es billiger, dann kann man es billiger, also mehr davon absetzen; neues Wachstum entsteht. Wachstum heißt nichts anderes, als die Erschließung neuer Gewinnmöglichkeiten. Wenn der Markt gesätigt ist, müssen Einsparungen eine höhere Gewinnspanne zwischen Kosten und Erlös gewährleisten.
Es folgt: der einzige Weg zu Wachstum (mehr Gewinn) liegt in der Rationalisierung, in der Findung neuer, effektiverer Wege zum selben Ziel. Schließlich meint Wachstum nicht das Verwalten eines Status-Quos, sondern das Ausweiten des Bekannten, unabhängig vom Entwicklungsstand dessen. Das Ziel ist das Produkt, das Konsumgut oder die Werbeveranstaltung billiger zu produzieren und zu gleichen Teilen wie zuvor abzusetzen. Die Produkte für sich genommen sind daher für diese Überlegungen auch völlig irrelevant.
Massenveranstaltungen wie die Love-Parade eine war, sind etwas großartiges, weiterhin. Doch der Weg zu ihnen verändert sich. „Früher“, heißt es in Muxmäuschenstill: „hast du keine Aktien von einem Unternehmen das Landmienen verschifft, gezeichnet. Wenn das Ding heute Rendite abwirft, wird es gekauft.“ Etwas anderes interessiert nicht.
Man ignoriert Vorschriften für Sicherheiten, stellt weniger Ordner ein oder Wellenbrecher auf. Alles Kostenfaktoren. Denn das einzige was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Weg dorthin. Alles was zählt, ist Wachstum! Der Weg dorthin ist, auf Grund der angedeuteten, heute fast ausschließlich vorhandenen Marktknappheit (irgendwann hat jeder sein Handy, zum Beispiel), der eigentliche Faktor, der Erfolg von Misserfolg unterscheidet. In der letzten Zeit häufen sich die Ereignisse, in denen diese Rationalisierungswege deutlich werden - im Nachhinein. Ein Finanzsystem, das sich für immer neue, größere Renditen völlig überwirft, Öl-Bohrungen so tief, dass man sie nicht mehr stopfen kann, unzählige Burn-Out-Fälle überall oder auch ein Bildungssystem, dass seinen Rohstoff gar nicht schnell genug auswerfen kann. Nie ist der Weg das Ziel, immer nur das Ergebnis. Je nachdem: Umsatz, Liter, Zuschauerzahlen, Quote oder Abitur genannt. Die Empörung darüber hält sich in Grenzen, bis mal jemand zu offensichtlich den falschen Weg eingeschlagen hat, der Verlauf dieser Route zu sichtbar wird.
Es wird wohl noch weitere Duisburgs geben, bis man vom Wachstums-Gedanken abweicht. Leider. Die genannten Warnschüsse haben ja auch nicht gereicht. Aber irgendwann ist das Öl aufgebraucht, der Regenwald abgeholzt, der Sozialstaat tot, die Bildung findet direkt bei Siemens statt und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird wegen zu geringer Quote eingestellt, bzw. völlig privatisiert.
Das mag arg pessimistisch klingen, doch wenn sich der Staub über dem Bahnhofsgelände wieder gelegt hat, erkennt man die einfache und doch ekelhafte Wahrheit; irgendwann ist einfach kein Platz mehr im Tunnel.
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