Man findet seinen Frieden nicht. Man macht ihn.
Die Stadt ist verkatert. O'fuckt is. Selbst der Himmel hat Kopfschmerzen, es blitzt durch seine Wolken. Die Mehrheit hat sich selbst gefeiert. Das kann sie, weil sie sich keine Gedanken darüber macht, warum. Die Mehrheit. Einmal übertreiben, einmal über die Stränge schlagen, weil die Strenge sonst zur Last wird. Das selbstauferlegte Kreuz des sündenbehangenen Lebens, es drückt beständig in den Rücken, die restlichen 50 Wochen.
Auf dem Rücken der funktionalen Sportbekleidung prangt der Name des Fußballclubs, in dem man 15 Jahre Erinnerungen gesammelt habe. Die Jungs aus damaligen C-Jugend sind mittlerweile mit der Schule durch. Das Internet verrät, dass sie zufrieden sind. Manche scheinen es sogar verdient zu haben. Ich mache mir selbst immer Glauben, sie hätten damals – allen Frotzeleien und Schikanen zum Trotz – auch zu mir aufgeschaut. Dass etwas von mir geblieben ist. Dass ich Spuren hinterlassen habe. Dass die Liebe zum Spiel, meine Art das Spiel zu sehen, auch die ihrige geworden ist. Das wäre schön.
Ein BWL-Schnösel zieht vorbei. Eine gelangweilte Hausfrau summt und wirft die Arme von sich. Die Schwere-Reiter-Straße hat sich wieder die eigenen Wunden aufgekratzt. Der Asphalt blutet, der Regen wird zur Kochsalzlösung. Da schlurft es sich mit hängender Frisur und ausgedehnten Laufschuhen entlang und man wünscht dieser Stadt, mit innerem Lächeln, ein bisschen Unglück, ein bisschen Tragik, ein bisschen Zweifel. So ungefähr wie einer John Irving-Figur. Dann würden sie mir ähnlicher. Dann könnte ich in ihrer Mitte stehen. Doch Zweifel sind was für Minderheiten. Die Mehrheit hat immer sich selbst. Und mit fast ehrlichem Mitleid fragt die Holofernes, ob man wüsste, wie es ist, immer raus zu fallen. Aber nie weit genug, um irgendwo anzukommen. Da würde man jetzt gerne drüber nachdenken, aber die Seitenstiche drängeln sich dazwischen. Leichte Schmerzen, gesunde Schmerzen. Mögen sie nie abklingen.
Wie der Schmerz im Magen, das schwere Atmen nach dem Schlag, damals, an der Frittenbude. Der Minderwertigsmagnet mit Übergewicht und mindestens einem Freund zuviel. Was hab ich ihm die Fresse poliert. Was hab ich ihm die Nase eingedrückt. In Gedanken ging ich anschließend zu ihr, klingelte, hielt mir dramatisch die Stirn und sagte nur: "Du solltest den anderen erst sehen". Sie hätte mich herein gelassen. Einmal nicht Opfer gewesen. Einmal das weinerliche „bitte beachtet mich“ gegen das feldherrische „Seht mich an!“ getauscht. Gute Vorstellung. Gute 6 Stunden, gutes Aufwachen. Bis die Hübsche vom Nachbartisch plötzlich in der zweiten Stunde herüberspuckte, wie unfair ich doch gekämpft hätte. Zum Beweis lagen ein paar minderwertige Haare auf dem Tisch. Auf die nächsten Flaschendrehparties wurde ich - wie zuvor - nicht eingeladen.
Viel hat sich seither nicht geändert. Aus den Flaschen wurden Maßkrüge und im Kreis sitzen nicht mehr 6 sondern 6 Millionen. Die Worte sind etwas gewählter, die Ansichten etwas aufgebrochen. Erwachsenwerden ist auch nichts anderes, als sich seine Irrungen einzugestehen und - im guten Fall - zu akzeptieren. Freude nennt man nicht mehr die, mit der größten Spiele- sondern der größten Plattensammlung. Die Frauen sind selbstbewusster.
Ja, alter Zweifler, was willst du denn noch, fragt der Song aus der Deichmann-Werbung, irgendwo, wo keine Karrieristen mehr überholen. Wir haben „Songs, Sex, alles!“ Kettcar missverstehen, davonziehen. Mit erhöhter Schlagzahl. Schattenboxen mit der Seele. Und der Weg, der selbstredend, immer wieder und naturgemäß das Ziel bleibt, wird gesäumt: von der Kreativität, den Kommilitonen, den Menschen mit Meinung, den Freunden, der Hobbymannschaft, dem Stammlokal. Von dem Gedanken, dass aus Verweilen Bleiben wird. Von dem genauso beängstigenden wie tröstenden Gefühl, dass das Leben aus drei Akten besteht: Heimat, Verlassen der Heimat, Finden einer Heimat. Die Kunst ist, Akt zwei zu genießen und Akt drei zu meistern. Selbst wenn Akt eins nur aus ein paar Trainingseinheiten und einer Prügelei bestand.
Nichts fliegt einem zu. Keiner weiß das besser, als man selbst. Keiner darf einem das sagen, als man sich selbst. Und das ruft man hinaus, bis in die Zelte. Hier bin ich! Nicht ich bin hier mit euch, ihr Mehrheit, ihr seid hier mit mir. Gewöhnt euch dran! Ich bin eure neue Minderheit. Ihr habt mich nötig. Ich ziehe bei euch ein. Euren Fußballklub könnt ihr behalten, da brauche ich erstmal etwas Zeit für mich allein. Euren Karneval im Einheitskostüm, die Schleife, die primäre Geschlechtsfuge entlang, will ich euch nicht neiden. Euren Musikgeschmack wollen wir mal nicht so nennen.
Aber eure Spezi nehm ich und euren Alkohol, eure Joggingstrecken, euren Sinn für Hedonismus, euer Wetter und eure nicht-blonden Frauen.
Frage nicht, was dir deine Stadt bedeutet, frage, was du deiner Stadt bedeutest.
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