Heimat, Vergänglichkeit, Kunst, das gute Leben und ein wenig Filmspinnerei: Ein ganz, ganz, ganz grundsätzlicher Text
"Nichts gegen Masturbation, das ist Sex mit jemanden, den ich liebe." (W. Allen)
Heimat ist allein schon deswegen der schönste Ort der Welt, weil es der einzige Ort ist, an dem sich niemand über deine Heimat lustig macht. Und wenn es jemand tut, dann darf er das. Das ist wie die kleine Schwester, über dessen Kleidungsstil man sich in Gegenwart Gleichaltriger auslässt. Doch wehe, jemand mit dem man nicht die DNA teilt, bezeichnet sie als leichtes Mädchen. Dann Gnade ihm nicht mal mehr Gott. Der, so wird zu beweisen sein, ist eh ein faules Miststück, der nach sechs Tagen Arbeit auf Sonntagsausflug ist - bis heute.
Natürlich hat Heimat mit Familie zu tun. Mit Zugehörigkeit. Mit Sicherheit. Mit dieser unschätzbaren, unüberschätzbaren Fantasie – und in guten Fällen: Erfahrung, dass es einen Ort gibt, an dem du dich nicht beweisen musst. Wo man dich liebt. Nicht für die Dinge, die du tust oder lässt. Sondern einfach liebt. Weil du atmest. Natürlich streben wir danach, dieses Gefühl später zu imitieren. Da ist auch nichts Falsches dran. Wir suchen uns Menschen, die wie unsere Mütter riechen oder wie unsere Väter reden. Wir singen Lieder auf sie, auf diese Gerüche, diese Bräuche und Momente. Wir machen alles wie sie. Weil wir hoffen, dann wird alles gut, so wie früher. Ob und wie es früher so war, ist nicht mehr als ein Fun-Fact kognitiver, menschlicher Überlebensstrategien.
Wir singen Lieder auf die Vergangenheit, in dessen Unveränderbarkeit, dessen Unzerrstörbarkeit alles noch größer wird. Jedes Gefühl von Sicherheit, von Frieden kann in diesem Schutzraum der Selektion noch tiefere Wurzeln schlagen. Wir singen Lieder auf das Gewesene, weil es uns niemand nehmen kann. Unsere Eltern werden sterben, unsere kleinen Schwestern hören auf, niedlich zu sein, unsere Freunde haben besseres zu tun. Selbst unsere Liebe, die Liebe, die wir verschenken, vergeht. Das lernen wir, noch bevor wir die Schule verlassen. Wenn wir, die perfekten Wesen, als die wir uns jeder für sich und heimlich begreifen, schon nicht ewig lieben können, wer soll dies sonst vollbringen? Und ganz nebenbei: wer soll uns schon lieben, so perfekt wie wir meinen zu sein, so sehr halten wir es doch genauso mit Woody Allen: Mit der Liebe ist das wie mit den Clubs. Man möchte nie Einem angehören, der Leute wie einen selbst als Mitglied aufnimmt.
Doch irgendwann, aller Verklärung, aller Sicherheit zum Trotz, geht man. Zur Sparkasse oder nach Spandau, aber weg. Wahrscheinlich weil man sich nur vor einer Sache noch mehr fürchtet, als vor der Einsamkeit: Vor dem Tod. Und den überlistet man vermeintlich, halt nur mit Sex. Weswegen „Antichrist“ ja auch so ein perverser Film ist, weil er den Orgasmus in sein Gegenteil verkehrt. Weil er das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, das Überleben des eigenen Kindes, mit dem größten, was der Mensch gegen seine Ängste tun kann, verbindet. Weil der Versuch, die eigene Sterblichkeit zu hintergehen, in der absoluten Gewissheit endet, sterblich zu sein. Was der Film dann damit macht, und wem er die Schuld an seiner eigens geschaffenen Hölle gibt, ist das Resultat einer depressiven Phase eines Regisseurs, der sich zu oft bewusste gemacht hat, Künstler zu sein.
Wenn selbst das eigene Kind stirbt, vor seinen, den eigenen Augen. Dann tut man es selbst erst Recht. Gewissheit ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Deswegen sind Religionen ja auch so ungewiss. Und jeder, der so etwas erlebt und danach einigermaßen wieder auf die Beine kommt, hat meinen größten Respekt! Doch die Hoffnung, sie stirbt halt immer zuletzt, aber manchmal stirbt sie. Doch wir überwinden die Angst zu scheitern und ziehen in die Welt – und Gründen Familien.
Da fragt man sich manchmal wie das die Homosexuellen aushalten. Wie sie gar keine Möglichkeit zur Weitergabe des eigenen Lebens haben. Adaption, zumindest in meiner Vorstellung, ist da auch nicht mehr als Evolutions-Methadon. Vielleicht zieht es deswegen so viele Schwule zur Kunst. Weil es Menschen innewohnt, zu kreieren. Und wer sich selbst nicht nachbauen kann, der kompensiert das mit übrig gebliebenen Mitteln. Vielleicht zieht es deswegen alle Scheidungskinder in die Großstädte. Weil dort die Kunst ist. Oder vielleicht ist die Kunst auch immer dort, wo die Scheidungskinder sind. Auf jeden Fall sind es die schlechten Kindheiten, die zur Kunst streben. Es wollen die ihre Wurzeln und Ideen und Schmerzen besingen und besiegen, die überhaupt lernen mussten, dass sie Wurzeln, Ideen und Schmerzen haben. Weil sie unfähig sind, zu verklären.
Vielleicht ist es eine der größten Glücksfälle des Menschen, wenn es ihm ungebrochen gelingt, seine Kindheit zu verklären, sie zu diesen Paradies auf Erden zu machen, wo niemand rein darf außer man selbst. Vielleicht müssen diejenigen, die keinen Eintritt in dieses gelobte Land haben, deswegen versuchen, sich anderorts ihre Welt zu bauen. Mit Gitarre, Stift, Pinsel, Kamera oder Stimme. Vielleicht ist Kunst das Methadon der Menschen, die irgendwo zwischen übergriffigen Großeltern, traurigen Eltern, mainstream-neurotischen Mitschülern und ungeteilten Interessen, ihr Urvertrauen verloren haben. Und jetzt kommt die traurige Wahrheit: Das Urvertrauen, es kommt nie wieder. Das Urvertrauen ist wie ein verpasster Zug. Klar, irgendwann kommt der nächste. Aber pünktlich wirst du nie wieder.
Und doch hoffen wir, dass der nächste Zug noch aufholt, einholt, überholt. Weil wir uns selbst trösten wollen, erfinden wir Jing-Jang-Logiken. Die machen aber nicht nur Hoffnung, sie schaffen auch Unmengen Enttäuschungspotenzial und nicht zuletzt: Druck. Wer in der Schule die Steine an den Kopf bekommt, will später mit Rosen beschmissen werden und tröstet sich mit der Lüge, dass jeder Stein die Rose wahrscheinlicher macht. Man tröstet sich mit der Lüge, dass das Leben gerecht ist. Und wenn wir merken, dass unsere eisern durchlebte Kindheit doch für nichts nütze war, weil "der Durchbruch" auf sich warten lässt, wem gibt man dann die Schuld? - Sich selbst. Dann wird aus dem Trost auch nur wieder Versagen. Schließlich hätte man mit dieser Vergangenheit nun wirklich genug Potenzial eine große, bedeutsame Persönlichkeit zu werden, wir Versager!
Es bleibt allen (uns) Opfern nur zu wünschen, dass sie es nicht persönlich nehmen, wenn Rosen und Medaillen ausbleiben. Denn darin liegt das Hauptbeweisstück für die Anklage, Gott neben dem Strafverteidiger, sein Massenmörder-Grinsen aufgesetzt: Das Leben ist ein Arschloch. Nicht weil es Leid gibt, sondern weil sich Leid und Glück nicht ausgleichen. Gott ist nicht tot, das wäre verständlich. Gott ist in Rente, ihm ist schon längst alles egal.
Die einzige Möglichkeit, die man hat, besteht darin, zu akzeptieren. Was nach Nihilismus klingt, führt in Wirklichkeit zu Stärke und Frieden, und den muss man machen. Mit sich. Aller Abgedroschenheit zum Trotz: Alles was du tust, tue für dich. Alles was du brauchst, nimm es dir! Aber erwarte kein Lob dafür, keine höhere, ausgleichende Kraft, keine Gerechtigkeit. Scheidungskinder haben die höchsten Scheidungsraten, weil sie ihr Urvertrauen in die Zuneigung verloren haben. Sie klammern, eifersüchteln, träumen und zweifeln, an Partnern, aber eigentlich nur sich selbst und der Welt. Ihre Tragik liegt nicht im zurückliegenden Unglück, sondern ihr Unglück steht dem Glück weiterhin im Weg, bis in alle Ewigkeit, Amen.
Also bleibt den Heimatlosen nur zu wünschen, dass sie akzeptieren, keine solche zu haben und man nicht automatisch zu einem guten Vater wird, nur weil der eigene scheiße war. Dass Mobbingopfer verstehen, dass sie auch in Zukunft anders sein werden, dies aber leider nicht immer zu Ruhm und Ehren führt. Dass man sich eingesteht zu weinen, aber aufhört zu hoffen, dass die vergossenen Tränen auf fruchtbaren Acker fallen.
Dass man ein Buch schreibt, dass man selbst lesen würde. Einen Film dreht, der die eigenen Bilder im Kopf wahr werden lässt. Ein Bild malt, das nur die eigenen Hände fertig bringen. Einen Menschen lieben, es ihm sagen, ohne das gleiche von ihr oder ihm zu verlangen. Ein Kind zeugen, das nichts mehr von einem verwirklichen muss. Das hat es doch schon! Es atmet. Dinge tun, weil man sie tun will, nicht weil sie etwas bewirken sollen, weil endlich Gerechtigkeit eintreten soll. Aber nochmal: Gott ist ein Arschloch, ein Misantroph, ein Zyniker, ein Hartzer, und alles was du tun kannst, ist ihn zu ignorieren. Er wird dich nicht erlösen. Niemand wird irgendwen erlösen. Du kannst dich erlösen, von der Hoffnung das Recht auf ein gutes Leben zu haben.
Lieber Lukas,
AntwortenLöschenwieso bist du so ungerecht zu Gott? Meinst du wirklich Gott? Und wenn ja, welchen?