Montag, 3. Oktober 2011

Meister der Schmerzen

Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft. Der Blick in ihn kann erschaudern und trösten. Und solch eine Sicht kann Dinge erklären, oder zumindest voneinander abgrenzen. Der Versuch einer Bewusstwerdung.

Im Herbst 2003 sitzt Steve Bartman in einem Baseballstadion. Es ist der sechste Spiel der Best-of-7-Serie seiner "Chicago Cubs" gegen die "Florida Marlins". Die "Cubs", sowas wie das "Schalke 04" des amerikanischen Sports, ein gutmütig angehauchter Verein, dem ein Moment der Tragik immerzu anhaftet, nur ohne den pathetischen Überhang des Arbeitermilieus, sind seit 1903 ohne Titel. Die Amerikaner sprechen bei solchen Momenten immer gerne von Flüchen, die nicht zu brechen sind. Gewinnen die "Cubs", stehen sie erstmals seit Ewigkeiten im Finale um den Titel, die man in traditioniell-amerikanischer Bescheidenheit "World Series" nennt. Im achten von neun Innings steht es 3-0 für das Heimteam. Dann fliegt ein Ball ins Aus, in Richtung Bartman – und der alles umgebende Überzug, den man Zivilisation nennt, geht in Flammen auf.

Baseball ist ein langweiliger Sport. Unzählige Pausen zwischen wenig aufregenden Momenten - was ihn dann letztlich vom Football unterscheidet - machen das Spiel auch für seine Anhänger zur Nebensache. Baseballspiele besuchen Amerikaner vor allem wegen der gesellschaftlichen Teilhabe. Man isst im Stadion, liest, unterhält sich, es finden sogar erste Dates auf den Rängen statt. Der Sport besteht letztlich nur aus Statistiken, was es dem US-Bürger leicht macht, in gut und schlecht, gut und böse zu denken. Sowas wie unverdiente Sieger gibt es im Baseball nicht. Wenn im Baseball etwas historisches passiert, hat etwas gewöhnliches Jubiläum. Der 500. Homerum, der 1000. Sieg. Die Geschichten, die der Baseballsport schreibt, sind nichts anderes als Zahlen.

Steve Bartman mag diese Dinge, hat früher selbst Baseball gespielt. Er hat Kopfhörer auf, hört dem begeleitenden Radiokommentar zu, der im Normalfall nichts anderes macht, als die Dinge aufzulisten, die vor ihm auf dem Rasen vonstatten gehen. Ob ein Spieler trifft oder verzieht, wie schnell oder genau ein Pitcher wirft oder ob ein Verteidiger fängt.

In jenem achten Inning also fliegt ein Ball in Bartmans Richtung. Er sitzt in erster Reihe, direkt am Spielfeldrand. Der Verteidiger Alou versucht den Ball noch aus der Luft zu fangen und somit den Schläger ausscheiden zu lassen, wie einen verbrannten beim Brennball. Bartman macht das, was Zuschauer in diesem Moment machen: Er versucht den Ball zu fangen. Sich ein Souvenir zu sichern, vom Einzug ins Finale. Das wäre etwas wert. Bartman streckt sich, wie viele seiner Sitznachbarn auch. Er berührt den Ball und macht es für Alou unmöglich den Ball zu fangen. Alou ist sauer, flucht in Richtung Zuschauer, Bartman. Das Spiel geht weiter. Und es kommt, wie es kommen muss, damit es dramatisch wird. Anstatt auszuscheiden, trifft der Schläger Floridas den nächsten Wurf und seine Kollegen tun es ihm nach. Als das Inning nach den erforderlichen drei Outs beendet ist, führt Florida mit 8-3. Die Cubs verlieren und sie verlieren auch das nächste Spiel und scheiden aus.

Das Stadion der Cubs, das nach einem Kaugummihersteller benannte "Wrigley-Field", gilt als Urstätte der Gemütlichkeit. Der Volksmund nennt es "The Friendly Confines". Aber nicht heute. Fox-Sports erkennt noch in der Live-Übertragung die epische Tragik dieses Moments und füllt fortan jede der Spielunterbrechungen mit Blicken auf Bartmans Gesicht. 40.000 Menschen und nochmals 10.000 vor den Toren sehen unablässig in das versteinerte Gesicht eines Mannes um die 30. Langsam rumort es. Es brodelt. Erste Beschimpfungen fliegen heran, dann immer mehr. Menschen kippen ihr Bier über Bartman, werfen Essen nach ihm. Bis schließlich das ganze Rund einstimmt: „Asshole.... Asshole.... Asshole.“ 40.000 Zeigefinger in Bartmans Richtung. Der sitzt immer noch da, hört immer noch Radio, wo man über ihn redet und guckt immer noch steif in Richtung Spielfeld. Es ist der vielleicht leerste Blick der jemals in Bildern dokumentiert wurde. Nach einem kurzen Moment dreht er sich zu seinem Sitznachbarn und fragt: „Glaubst du, ich habe etwas falsch gemacht?“ Er erhält keine ernstzunehmende Antwort. Dann sitzt er wieder da und wischt sich mit dem Ärmel seines Pullovers, auf dem das Logo der von ihm trainierten Jugendmannschaft zu sehen ist, Bier aus dem Gesicht. Wenig später erreicht eine Gruppe Security-Guards den Block. Sie begleiten Bartman hinaus, er hält sich seine Jacke vors Gesicht, wie ein Strafgefangener. „I kill you!“ rufen einige, ein anderer schreit: „Put a gun into your mouth and pull the trigger!“ Spießrutenlauf, in Urform. (http://www.youtube.com/watch?v=JoumAUfwnI8&feature=related) Die Guards schließen Bartman weg, ziehen ihm andere Sachen an, nehmen ihm die Cubs-Mütze ab und schaffen ihn aus Ermangelung einer Alternative ins Haus einer der Securitys. Dort ruft er seine Eltern an, sagt ihnen, dass es ihm gut geht. Wenig später wird er nach Hausegeschickt und verschwindet. Er wird nie ein Interview geben, noch Jahre später Autogrammwünsche für 25.000 Dollar ablehnen. Ein Verwandter wird im TV einen Entschuldigungsbrief vorlesen. Bartmanns Sitznachbar, dem der Ball letztlich in die Hände gerollt ist, verkauft diesen für 100.000 Dollar an ein Restaurant. An Halloween des gleichen Jahres geht man in ganz Chicago als "Bartman".

Am Jom Kippur, dem Tag der Sündenvergebung im Judentum, wird traditionell einem Ziegenbock durch einem Geistlichen die Hand aufgelegt. Anschließend wird er durchs Dorf getrieben, wo das anwesende Volk seine Sünden auf ihn abladen kann, mit denen das Tier anschließend aus dem Dorf oder über die Klippe gejagt wird. Vergleichbare Bräuche sind auch in anderen Religion zu finden.

Die Tradition des Sündenbocks ist ein wesentlicher, stabilisierender Grundpfeiler unserer sozialen Ordnung. Psychologe René Girard sagt, je zerrissener eine Gesellschaft ist, desto mehr braucht sie einen Sündenbock, der laut Elliot Aronson machtlos, unbeliebt und leicht identifizierbar sein muss. Bartman ist all das. Er ist Computer-Fachmann, Angestellter. Er trägt Rollkragen, 90er-Kopfhörer und Kassengestell. Er ist zu schwach, um sich zu wehren. Er ist Opfer.

Und vielleicht kann man den Stand einer Gesellschaft daran ablesen, wie sie mit ihren Opfern umgeht. Wie sehr eine Gesellschaft in Schachklub und Quarterback unterscheidet. Wie viel Mobbing es an Schulen gibt. Wieviel sie von Schicksal und von Fluch redet. Wie Medien Emotionen zeigen oder machen - und wieviel Geld sie damit verdienen. Wie sehr eine Gesellschaft im Stande ist, Optimismus zu leben oder (nur) zu predigen. Wie sie mit Niederlagen umgeht, mit den eigenen, fremden oder kollektiven.

Am 17. Juni 1994, am selben Tag, an dem OJ Simpson über eine von unzähligen Passanten gesäumte Autobahn fährt und dabei von so vielen Fernseh-Helikoptern begleitet wird, dass sich ihre Signale überlagern und es Störungen im heimischen Livebild gibt, steht ein Junge in den Straßen von New York. Konfetti regnete von den Dächern. Die heimischen "Rangers" haben nach langer Zeit die Eishockey-Meisterschaft gewonnen. Der Moderator hatte im Moment des Triumphes gerufen: "The curse is over!". Der Junge steht vor einem Manhattener Mikro und spricht: "Now, I can die happy!". Er sieht nicht älter als 12 Jahre aus.

Am 19. Mai 2001 verliert Schalke 04 in unfassbarer Dramatik die Meisterschaft. Als Anderson in Hamburg trifft, ruft Fritz von Thurn und Taxis, der auf Schalke moderiert: „Hoffentlich tut sich heute niemand etwas an“. Wenige Tage später gewinnt der "FC Bayern München" das Champions-League-Finale, das er 2 Jahren zuvor, in der „Mutter aller Niederlagen“ ("11 Freunde") gegen "Manchester United" verloren hatte. Damals hatte niemand von Schicksal oder Fluch geredet.

"Schalke 04" gewinnt einen Samstag später den DFB-Pokal in Berlin. Auf den Rängen, während des Spiels, hängt ein Transparent im Schalker Block. Und immer wenn ich über die USA und Deutschland rede oder denke, ganz gleich ob es um Psychologie, Vorurteile, Sport, Wirtschaft, Rassismus oder Politik geht. Ich will mich immer daran erinnern, wie Steve Bartman auf seinem Stuhl in Chicago sitzt und die Hölle über ihm aufbricht. Oder wie ein 11jähriger in ein Mikro spricht, und wie "Fox-News" über all das berichtet. Und demgegenüber, mit leicht-patriotischem aber vor allem erleichtertem Bewusstein, was damals auf dem Banner der Schalker Anhänger stand: „Alles wird gut“.

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