Donnerstag, 15. Oktober 2009

Eine kleine Geschichte über Glück und Wahrheit

„Manche Menschen muss man mit Freundlichkeit strafen“ (Anna Wilhelmi)


In der sechsten Klasse ging ich auf eine Gesamtschule. Jaja, „das erkläre einiges, blabla“, ich habe es dort nur bis zur neunten Klasse ausgehalten. Doch bis dahin war ich dort. Die Klasse hieß nicht Klasse, sondern Stammgruppe. Meine Klassenlehrer wurden zum einen nicht so, sondern konsequent Stammlehrer genannt und waren zum anderen immer zu Zweit. Ein Männlein und ein Weiblein – kein Geschlecht wird vergessen. Die Mitschüler hießen nicht Elena oder Franziska, sondern Vincent oder Marie-Luise. Selbst die Fächer tauften sich hier anders. Bio, Chemie und Physik waren unter der Bezeichnung Naturwissenschaften zusammen gefasst und Politik, Erdkunde und Geschichte nannte man hier Gesellschaftslehre. Dazu die berühmte Stammgruppe (Stuhlkreis inklusive) und die Arbeitslehre. Erhältlich in den Varianten Werken, Haushalt und Arbeit. Während man im Werken kleine, gut gemeinte Schreibtisch-Gehilfen bastelte, welche durch den überall heraus suppenden Leim komplett unbenutzbar wurden (nicht, dass sie sonst schön genug gewesen wären, sie sich aufs Fensterbrett zu stellen), gab es im Haushaltsunterricht Noten fürs Spülen und Salat putzen. Ja, es gab Noten.
In der Arbeitslehre-Arbeit, eine Mischung aus Politik und Praktikumsbetreuung, saßen wir im … genau; Stuhlkreis. Es war Hausaufgabe gewesen eine Collage zum Thema „Vorbilder“ zu erstellen. Und da Mädchen gerne basteln, kam eine nach der anderen an die Reihe, legte ihre Papp-DIN-A4-Seite in die Mitte des Kreises und erzählte, wer auf diesem Bild warum, wie cool war. Ein zwei Streberinnen hatten sogar selbstbewusst oder in der Gewissheit, eh wieder im Mülleimer (Papier, gelber Sack, Restmüll) zu landen, gar ihre Eltern aufgeklebt. Abschließend wurden noch ein paar Jungs genötigt ihre Meisterwerke vorzulegen und erklärten wortkarg, warum gerade dieser oder jener Hip-Hopper auf ihrer Stickerwand gelandet war. Eine im wahrsten Sinne des Wortes Runde Sache. Eigentlich.
Doch mein Lehrer vernahm Getuschel aus meiner Ecke und forderte mich auf, meine Hausaufgabe dar zulegen. Also legte ich sie in die Mitte. Manche grinsten, andere lachten sogar, als sie sahen was ich zu Hause aufgeklebt hatte. Nur mein Lehrer nicht. Er fragte, was das denn sei. „Homer Simpson“, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß. In Unterhose vor dem Fernseher sitzend. „Außerdem sind das hier sein Sohn Bart und seine Freunde Barney, Lenny und Carl, sowie der Besitzer des örtlichen Supermarktes, Apu. Mein Lehrer schlug seine Beine übereinander, rieb sich seine Hände hastig aneinander und schob sie schließlich druckvoll zwischen Kniescheibe und -Kehle. So sehr seine Haltung verkrampfte, so sehr weiteten sich seine Pupillen. Seine Atmung wurde etwas tiefer.
„Warum sind denn Homer, Apu und Lennart deine Vorbilder?“, bemühte er sich um eine neutrale Stimmlage. Ich zuckte mit meinen äußerst kleinen Schultern. Zu diesem Zeitpunkt war ich kleiner als die meisten Mädchen in meiner Klasse, bis ich in der Sommerpause zwischen achter und neunter Klasse einen riesigen Wachstumsschub mein Eigen nennen konnte. Auf meinem Stuhl sitzend, erreichten meine Beine nicht den Boden. Ich wippte mit ihnen hin und her. Eine innere Souveränität ausstrahlend, wie sie für einen Sechstklässler nicht üblich war. Bei meiner Größe, bei meinem Ansehen innerhalb der Klasse, sowieso nicht.
„Also, Apu ist ein guter Mann. Er ist fleißig und hilfsbereit. Auch noch nach der zweiten 24stunden-Schicht. Barney? - Barney ... möchte aufhören zu trinken. Barney kämpft“, setzte ich an, erzählte dies und jenes über die anderen Randfiguren und kam schließlich zu Homer. Es ging damals, wie heute, eigentlich immer nur um Homer: „Ich mag Homer, weil er zufrieden ist. Ja, Homer ist ein glücklicher Mensch. Ich möchte später so sein wie er.“, grinste ich in die Runde und nickte mir selbst leicht zu.
„Aber was hat Homer denn erreicht?“, wird es meinem Lehrer zu meinungsfreudig. Er beginnt zu argumentieren. Eigentlich wäre dies die Stelle im Film, an der ich ihn gehabt hätte. Er wäre mir ins Messer gelaufen. Mit großen Augen und stolz geschwelter Brust wäre ich ihm gegenüber getreten und hätte all die Dinge aufgezählt; Astronaut, Musiker, Atomphysiker, Barkeeper, liebevoller Ehemann, mehrfacher Vater gesunder Kinder, Bürgermeister, Anführer unzähliger Bürgerinitiativen und vieles mehr. Doch ich war 12 Jahre alt und dies war kein Film. „Nichts.“, sagte ich. Einfach: „Nichts.“, und zuckte erneut mit den Schultern, welche mit der bald stark eintretenden Akne ein kongeniales Duo ergeben sollten.

Es war gut so. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Es war alles wichtige gesagt.

„Da siehst du es“, triumphierte mein Lehrer, der seine ihm antrainierte Neutralität mittlerweile völlig aufgegeben hatte. „Das kann man ja nicht ernst nehmen hier. Die anderen haben sich solche Mühe gegeben und du machst dich doch damit über all diese Arbeiten lächerlich“, läutete er den Endspurt ein.
Abschließend stellte er der Runde seine Bobachtungen über die vorgelegten, von mir beschmutzten Bravo-Sticker-Potpurries vor. Jedes Mädchen hatte nur Frauen und jeder Junge nur Männer aufgeklebt. Das stimmte. Der Ergebnis der Stunde stand fest.
Mein Ergebnis dieser Stunde war schließlich eine Stunde nachsitzen und das Wiederholen und Vortragen meiner Hausaufgabe. Diese erfüllte ich zur vollen Zufriedenheit meines Lehrers. Ich schaffte dies, indem ich sämtliche Stars und Sternchen die richtig scheiße fand, auf eine neue Pappe klebte. Die erstbeste Bravo beim Rewe hatte dafür her gehalten. Zur nächsten Stunde hielt ich einem glühenden Vortrag, ein flammendes Plädoyer über jeden einzelnen Star. Sie alle konnten singen, tanzen, gut aussehen. Alles was ich nicht konnte. Ich lobte sie in den Himmel. Ich glaube, ich habe an diesem Morgen die Powerpoint-Karaoke erfunden. Ich war wohl schon immer meiner Zeit voraus. Ich glaube, ich habe an diesem Tag, meine Faszination für das Lügen entdeckt.

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